Kapitel 1
Seth, dein Haus brennt!«
»Ja, alles klar«, grummelte Seth und wappnete sich innerlich gegen eine neue Welle des Spotts, die nun bestimmt gleich anrollen würde. Die acht Kilometer lange Fahrt mit dem Schulbus nach Hause kam ihm wie eine hundert Kilometer lange, nie enden wollende Reise vor. Die Hänseleien fingen in dem Augenblick an, in dem er den Bus bestieg, und gingen ohne Unterbrechung weiter, bis er ihn erschöpft wieder verließ.
Angefangen hatte es letzten März gleich an seinem ersten Schultag, nachdem seine Familie in das alte Johnson-Haus auf dem Hügel gezogen war. Das Haus hatte eine Zeit lang leer gestanden, bevor sie eingezogen waren. Und obwohl sie nun schon ein paar Monate dort wohnten, sah das Haus nicht viel anders aus als zu der Zeit, in der es noch unbewohnt gewesen war. Das Küchenfenster war das einzige Fenster, das überhaupt Gardinen hatte, aber das waren noch dieselben zerfetzten Vorhänge wie zuvor. Die Holzfußböden waren abgetreten und die Wände voller Risse, Löcher und all den untrüglichen Anzeichen, dass das Haus in kurzer Zeit viele Mieter gesehen hatte.
Keiner in der Familie schien sich sonderlich daran zu stören, wie das Haus aussah. Sie hatten sich auch nicht um das letzte gekümmert oder um das davor. Seine Eltern waren vor allem an dem Land interessiert, das ein Haus umgab: Land für Gemüsegärten, Milchkühe und Ziegen. Das Land bedeutete ständige, niemals endende Arbeit und brachte dennoch kaum genug hervor, um das Überleben der Familie zu sichern.
Seth setzte sich nicht auf. Er lag weiterhin zusammengerollt auf dem Sitz, den Pullover über das Gesicht gezogen, und tat, als schliefe er.
Er hatte schon lange keine Angst mehr vor Patricks Gummischlange. Schließlich kann man nicht andauernd auf denselben blöden Trick hereinfallen. Und nach ein oder zwei Tagen hatte sich Seth nicht einmal mehr auf etwas Scharfes oder in etwas Nasses gesetzt. Mannigfaltige Erfahrungen hatten ihn gelehrt, darauf zu achten, wohin er sich setzte oder wohin er trat. Nur einmal hatte er sich in der Annahme, sein Sitz im Bus sei stabil wie jeder andere vor ihm, einfach darauf fallen lassen. Während er gegen die Knie der hinter ihm sitzenden Mädchen knallte und ihr Kreischen hörte, hatte er leider feststellen müssen, dass seine »Klassenkameraden« den ganzen Morgen damit beschäftigt gewesen waren, die Schrauben unter dem Sitz zu lösen.
Von Gummispinnen über echte Spinnen, von Wasserlachen bis zu Honig auf dem Sitz hatte Seth alles entdeckt, was das beschränkte Vorstellungsvermögen kleiner Sadisten hervorbringen konnte. Und obwohl die Busfahrt nach wie vor kaum als angenehm bezeichnet werden konnte, regte sich Seth nicht mehr groß darüber auf.
»Seth, dein Haus brennt! Ehrlich, Seth! Schau doch!«
Seth lag weiterhin mit geschlossenen Augen auf dem Sitz und lächelte in sich hinein. Wenigstens einmal schien er die Oberhand zu haben, denn plötzlich klangen die Stimmen anders. Sie wollten etwas von ihm, aber er würde es ihnen nicht geben. Vielleicht war dies der Wendepunkt. Vielleicht hatte sein Vater Recht gehabt und die Dinge würden sich mit der Zeit wirklich zum Besseren wenden.
»Seth!« Der Busfahrer brüllte jetzt fast. »Steh auf! Dein Haus brennt wirklich!«
Seths Herz blieb stehen. Er zögerte nicht mehr. Als er sich aufsetzte und zu seinem Haus hinüberschaute, sah er, dass es lichterloh brannte.
Der Busfahrer bremste, fuhr rechts ran und öffnete die Tür des Busses. Aber Seth saß wie versteinert da und schaute auf den aufsteigenden Rauch. Der war so dick, dass er nicht einmal schätzen konnte, wie groß der Schaden war. Auch war niemand zu sehen – keine Feuerwehr kam angebraust, kein Nachbar eilte herbei, um zu helfen. Alles sah mehr oder weniger genauso aus wie immer. Die Kühe grasten weiter, die alte Ziege war am Baum angebunden und die Hühner scharrten im Sand, während das Haus abbrannte.
Trixie, der älteste und gutmütigste der drei Hunde, kam den Hügel herunter gerannt und quetschte sich unter der Pforte durch, um Seth zu begrüßen. Er leckte seine Finger und drückte dann auf der Suche nach einem Leckerbissen die Schnauze gegen Seths Hosentasche. Aber Seth nahm ihn gar nicht wahr. Er stand völlig betäubt da und sah hilflos zu, wie das Haus abbrannte.
Der Busfahrer legte den Gang ein und während er losfuhr rief er Seth zu, dass er an der nächsten Haltestelle Hilfe holen würde. Seth winkte nur müde zurück. Es hatte keinen Sinn, Hilfe zu holen, denn als der Wind drehte und der Rauch sich etwas verzog, sah er, dass das Haus bereits bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Das Einzige, was noch stand, war ein gemauertes Viereck, das einmal der Kamin gewesen war. Seth hörte das leise Krachen der glühenden Balken und gelegentlich das Knallen einer explodierenden Konservendose.
Seth kam sich seltsam vor, wie er so da stand und auf das glimmende Holz starrte. Er empfand keine Trauer, nicht einmal das Gefühl eines Verlustes, das man in einer solchen Situation wohl erwarten sollte, sondern nur eine merkwürdige Leere. In der Tat gab es keinen Grund für Verlustgefühle, denn eigentlich war nicht viel verloren gegangen. Er hatte auch keine Angst, dass ein Mitglied seiner Familie im Haus gewesen sein könnte, denn er wusste, dass seine Eltern dienstags und mittwochs immer auf dem Gemüsemarkt waren. Samuel, sein kleiner Bruder, war mit ihm im Bus gewesen und dann bei Mrs. Whitaker ausgestiegen, um ihr bei der Gartenarbeit zu helfen. Er hatte auch nicht das Gefühl, etwas Wertvolles verloren zu haben, denn sie hatten ohnehin nichts von Wert besessen. Ein Buch aus der Leihbibliothek hatte er allerdings noch gehabt und er fühlte sich schuldig, weil er es nun nicht mehr zurückbringen konnte.
Obwohl er es nicht hätte benennen können, hatte Seth in diesem traumatischen Moment mehr das Gefühl eines Verlustes, weil eigentlich nichts zu verlieren gewesen war. Denn dieses Unglück war keineswegs das einzige im Leben der Familie Morris. Es schien, als würde sich früher oder später immer alles zum Schlechteren wenden.
Seth setzte sich mit dem Rücken zur untergehenden Sonne auf einen Baumstumpf und sah zu, wie sein Schatten über den Garten bis zu der Stelle kroch, wo das Haus gestanden hatte. Er fragte sich, warum es so lange dauerte, bis jemand auf den Bericht des Busfahrers, dass das Haus brannte, reagierte. Er wünschte, seine Eltern würden endlich nach Hause kommen.
Während er mit diesem Gefühl der Leere und Verlassenheit da saß, ließ er die Pechsträhne seiner Familie vor seinem inneren Auge Revue passieren. In seinem kurzen Leben hatten sie in mehr als zwei Dutzend Häusern gewohnt, meistens auf kleinen Bauernhöfen, denen es an den meisten modernen Annehmlichkeiten mangelte. Viele hatten kein fließendes Wasser und manche nicht einmal einen Stromanschluss. Seine Familie zog von Bauernhof zu Bauernhof, pflanzte an, was möglich war, aß, was geerntet oder geschlachtet werden konnte, und verkaufte so viel wie möglich an die Menschen in den umliegenden Orten, um von dem Geld das zu kaufen, was sie nicht selbst produzieren konnte. Obwohl seine Eltern noch ziemlich jung waren, kamen sie Seth uralt vor, und er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letzten Mal glücklich gesehen hatte.
Seth hatte den Eindruck, dass er und sein jüngerer Bruder Samuel immer wegen irgendetwas in Schwierigkeiten waren. Er fragte sich oft, ob das nicht hauptsächlich daran lag, dass sie in einer Welt glücklich sein wollten, in der man nach Ansicht ihrer Eltern nicht glücklich sein konnte. Fast schien es, als hätten ihre Eltern beschlossen, sie gründlich auf ein unglückliches Leben vorzubereiten, und je schneller die Kinder ihr Unglücklichsein akzeptierten, desto leichter würde es für die Eltern sein. Nie wurden sie ermutigt zu träumen, Spaß wurde nur zähneknirschend toleriert und jede Art von Übermut war streng verboten.
Aber ab und zu mussten sie einfach mal über die Stränge schlagen, denn schließlich sind Jungen eben Jungen. Dann schauten die Eltern nur mürrisch und missbilligend zu.
Während Seth wie blind in den Rauch und die noch glühende Asche starrte, dachte er an den letzten Bauernhof. Das war vermutlich der schlimmste Ort gewesen, an dem sie je gelebt hatten. Das Haus war eigentlich gar kein Haus gewesen, sondern eine alte Scheune ohne Fenster und nur mit einem großen Scheunentor. Der Boden bestand aus Holzplanken, die ein paar Zentimeter über dem Lehmboden lagen, und die Ritzen darin waren so breit, dass große Nagetiere nach Belieben kommen und gehen konnten – was sie nur allzu häufig auch taten. Nach einer Weile machte niemand mehr auch nur den Versuch, ihr Treiben zu unterbinden. Die Familie gewöhnte sich an sie und akzeptierte sie einfach als Teil des Lebens.
Da das Haus oder die Scheune – wie immer man die Bruchbude auch nennen mochte – das einzige Gebäude auf dem Gelände war, wurde alles, was man für wertvoll hielt, darin aufbewahrt. Selbst die Futtersäcke für die Tiere wurden an einer Wand neben dem großen Tor aufgestapelt. Als die Familie eines Tages nicht zu Hause war, trat das Maultier die Tür ein und verschlang genüsslich erst das Mehl, dann den Hafer und zum Schluss die Melasse. Es gelang ihm, das Tor und den Rahmen so stark zu beschädigen, dass der gesamte vordere Teil des Gebäudes einzustürzen drohte. Also zog die Familie in ein Zelt, während die alte Scheune repariert werden sollte.
Seth erinnerte sich, dass er froh gewesen war, der miefigen alten Scheune entkommen zu sein, und dass er sich gewünscht hatte, das blöde Ding würde einstürzen. Und schon in der nächsten Nacht wurde sein Wunsch erfüllt: Das Gebäude fing irgendwie Feuer und brannte in...