WIE WIR UNSERE ZEIT FÜLLEN
Immer mehr, immer schneller, möglichst viel auf einmal: Wie würden wohl unsere Ahnen unser Heute empfinden, könnten wir sie mit der Zeitmaschine abholen? Komfortabel oder viel zu komplex? Wäre ihre Sicht auf die Dinge hilfreich für uns, um auf der Überholspur des Alltags die Orientierung zu behalten?
NUR EINEN MAUSKLICK ENTFERNT …
Tag für Tag setzen wir uns im Beruf und im Privatleben einer Flut von Informationen aus. Schon morgens beim Kaffeekochen präsentiert uns das Radio Nachrichten aus aller Welt, beim Frühstück überfliegen wir die Zeitung, während uns das Smartphone mit Infos aus dem Freundes- und Bekanntenkreis auf den neuesten Stand bringt.
Im Job warten schon tausend Dinge auf uns, die alle gleichzeitig und sofort erledigt werden wollen, begleitet von einem stetigen Strom an E-Mails und Telefonaten, die abermals neue Aufgaben mit sich bringen. Wie viele gute Ideen und Eingebungen mögen wohl täglich einfach nur deswegen untergehen, weil im falschen Augenblick das Telefon klingelt, weil die Bürotür aufgeht oder weil ein »Pling-Pling« des Mailprogramms einlaufende Nachrichten anzeigt!
Nach der Arbeit: Erledigungen, Anrufe, Einkäufe und tausend weitere kleine To-dos. Das Internet sorgt dafür, dass wir ständig über mehrere Kanäle erreichbar sind. Unterbrechungen aller Art zerhacken unsere Zeit in kleine und kleinste Stückchen. Oft reicht es, nur ganz kurz abgelenkt zu sein – schon ist der rote (Denk-)Faden gerissen, sodass es uns schwerfällt, wieder an das Vorige anzuknüpfen.
»Hektik lässt nicht reifen.«
ELSE PANNEK
MULTITASKING IM BERUF: ÜBERLEBENSKAMPF 2.0
Natürlich wollen wir möglichst effektiv und zeitsparend unsere Aufgaben erledigen und unseren Alltag meistern. Dabei müssen wir uns oft ganz schön strecken, um auf alles möglichst umgehend zu reagieren und den Anforderungen so rasch gerecht zu werden, wie es erwartet wird. Wie der Held in einem Kung-Fu-Film, der es mit einer ganzen Horde Gegner auf einmal aufnimmt, versuchen wir, alles gleichzeitig zu erledigen, was da auf uns einhämmert. Unser Leben gleicht mehr und mehr einer endlosen To-do-Liste, auf der immer dann, wenn gerade etwas erledigt ist, neue Aufgaben nachwachsen. Es gilt, auf dem Laufenden zu bleiben und die Kontrolle zu behalten.
Ein abgesagter Termin: eins der größten Geschenke, die uns jemand machen kann. Die unverhofft gewonnene Zeit: ein Glücksfall! Doch was sagt das über unseren normalen Arbeitsalltag aus?
Wer gibt den Rhythmus an?
Beruflich überlastet? Das liegt zu einem Teil an den explodierenden Anforderungen im Job. Natürlich tragen die Vorgesetzten Verantwortung für die Anforderungen, die in der Stellen- und der Arbeitsplatzbeschreibung festgehalten sind, und natürlich müssen auch Selbstständige mit den Gegebenheiten der Arbeits- und Geschäftswelt klarkommen. Doch geben wir allzu gern das Heft aus der Hand, schieben die Schuld für unsere Überlastung auf den Chef, die Kollegen, das Telefon, die Umstände. Dabei gibt es zum einen selbstverantwortliche Lösungen, um die Aufgaben besser zu strukturieren. Zum anderen kann jeder sich Methoden aneignen, mit dem Druck im Arbeitsalltag so umzugehen, dass er nicht zur physischen und psychischen Belastung wird.
DAMALS UND HEUTE
Noch vor rund hundert Jahren funktionierte Kommunikation viel einfacher und direkter als heute. Wenn unsere Urgroßeltern mit jemandem etwas zu klären hatten, setzten sie sich mit ihm zusammen, unterhielten sich mit ihm oder übermittelten ihm per Post einen handgeschriebenen Brief. Schreibmaschine oder Telefon gab es nur in wenigen Haushalten, und wenn man das Telefon benutzte, dann um kurz und knapp etwas zu vereinbaren, nicht für längere Gespräche. Heute verfügen wir neben dem Festnetzanschluss über mindestens vier weitere Kommunikationsmedien: Smartphone, E-Mail, SMS und Social Media mitsamt den zuschaltbaren Messaging-Diensten.
Aus dem munter sprudelnden Informationsfluss über den Gartenzaun hinweg ist ein mächtiger Datenstrom geworden. Unendlich viele Reize und Informationen bombardieren unsere Sinne, in jeder Minute müssen wir Entscheidungen treffen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten wollen. Es fällt schwer, längere Zeit bei einer Sache zu bleiben, auch wenn tatsächlich einmal nichts Störendes unsere Zuwendung fordert. So sind wir oft nicht voll und ganz bei dem, was wir gerade tun, sondern unsere Gedanken eilen voran zu anderen Schauplätzen, zu all den Ich-muss-dann-nochs, den Ich-könnte-doch-schnells oder den sorgenvollen Was-mach-ich-bloß-wenns. Ganz so, als führten diese ein Eigenleben.
Die innere Unruhe wird zur zweiten Natur: das Gefühl des ständigen Angetriebenseins, das Verlangen, möglichst schnell eine Aufgabe vom Tisch zu kriegen, damit wir uns in die nächste stürzen können, die schon »mit den Hufen scharrt«. Besonders wenn wir uns allgemein überlastet fühlen, ist es, als würde etwas in uns selbst uns unentwegt vorwärtsscheuchen. Wir finden keinen Abstand mehr zu all dem, was erledigt werden muss, und spüren sogar unsere körperlichen Bedürfnisse kaum mehr.
VIELEN WIRD ES ZU BUNT
Laut Erhebungen des Statistischen Bundesamts fühlen sich rund elf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland im Job unter Zeitdruck. Bei einer Studie der Techniker Krankenkasse im Jahr 2013 gab ein Drittel der Berufstätigen an, sich von der täglichen Informationsflut regelrecht überwältigt zu fühlen. Auch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) dokumentiert in einer Studie, wie stark Multitasking und Arbeitsunterbrechungen Beschäftigte in Unternehmen belasten und die Qualität ihrer Arbeit beeinträchtigen. Die meist unausgesprochene Zielvorgabe im Hintergrund lautet, stets auf dem neuesten Stand zu sein. Über 40 Prozent sehen sich durch häufige Anrufe und E-Mails empfindlich in der Bearbeitung ihrer täglichen Aufgaben gestört.
WO BITTE IST HIER DER AUS-SCHALTER?
Mittagspause, Feierabend, Urlaub: Zeit zum Atemholen und Regenerieren? Wie seltsam es doch unseren per Zeitmaschine angereisten Ururgroßeltern vorkommen würde, dass wir gar nicht dran denken, all die blinkenden und piepsenden Apparate jetzt mal auszuschalten! Auch in unserer freien Zeit sitzen wir oft stundenlang vor Bildschirmen und halten Ausschau nach interessanten Neuigkeiten. Für den allzu häufigen Blick auf das Smartphone, um SMS oder E-Mails zu lesen, Posts zu checken oder nach den letzten Neuigkeiten zu surfen, wurde sogar ein eigener Begriff kreiert: phubbing aus phone und snubbing (vor den Kopf stoßen): Man postet, daddelt oder surft lieber, anstatt sich mit einem realen Gegenüber zu unterhalten.
Der Supermarkt der Möglichkeiten
Aus mehreren Möglichkeiten wählen zu können ist ein Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung. Mehr als nur eine Option zu haben tut gut und gibt uns ein Gefühl der Souveränität. Gilt dann aber auch: Je mehr Möglichkeiten, desto mehr Freiheit? Nicht uneingeschränkt. Ab einem bestimmten Punkt ist die Fülle der Möglichkeiten kein Segen mehr, sondern zieht zeitraubende Entscheidungsprozesse nach sich.
Das fängt schon bei der Erdbeermarmelade im Supermarkt an. Zwanzig, dreißig, vierzig Sorten: Welches ist die beste, die allerleckerste? Genau die will ich – bloß nicht die zweitbeste Option wählen! Ist die Marmelade abgehakt, geht es um die Wahl zwischen dreißig Sorten Knäckebrot, vierzig Sorten Kaffee, fünfzig Sorten Joghurt. Je mehr Alternativen es gibt, desto mehr Aufwand, Energie und Zeit kostet es uns jeweils, unsere Wahl zu treffen.
WAS HAB ICH DA NUR GEKAUFT?
Verkaufspsychologen haben ermittelt, dass Impulskäufe im Einzelhandel 30 bis 60 Prozent des Umsatzes ausmachen. Manche Kunden lassen sich von Schnäppchen übermäßig locken, kaufen Unnötiges und bringen sich damit sogar in finanzielle Schwierigkeiten. Einsicht und Reue kommen meist zu spät. Schätzungen zufolge landen rund elf Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich auf deutschen Müllhalden, das meiste davon aus Privathaushalten.
In der überbordenden Vielfalt haben wir es uns stets auch selbst zuzuschreiben, wenn das Gewählte sich eben nicht als erste Sahne herausstellt. Wenn die Erdbeermarmelade nicht der Star am Frühstückstisch wird. »Hätte ich doch besser mal ...« lautet dann unser Bedauern. Wir haben falsch entschieden!
Anstatt uns mehr Freiheit zu geben, kostet der Überfluss an Wahlmöglichkeiten Zeit und macht uns dabei keineswegs glücklicher. Selbst wenn wir am Ende eine annehmbare Wahl getroffen haben, mindert der Zweifel daran, ob es nicht eine noch bessere hätte geben können, die Zufriedenheit. Also kaufen wir fortan im Zweifelsfall lieber zu viel. Was nicht schwer ist: Überall diese verlockenden Sonderaktionen, Sonderangebote, Schnäppchen hier und Schnäppchen da. Hier die leckeren Nektarinen, dort der Chablis im Angebot, da das besondere Olivenöl und schließlich die Flasche Aperitif – nur diese Woche mit dem passenden Glas als Dreingabe! So füllt sich der Einkaufswagen und eigentlich sind wir doch nur wegen einer Packung Spaghetti, zweier Gurken und einer...