Prolog
Ich strebe nach Selbsterkenntnis,
denn Erkenntnis beseitigt Unwissenheit.
Ich strebe nach Entfaltung,
denn Entfaltung ermöglicht Wachstum.
Clemens Maria Heymkind
Mein erstes Buch Verloren im Niemandsland – Autobiografische Erzählung eines Heimkindes veröffentlichte ich 2015. In ihm schildere ich meine ersten zwölf Lebensjahre. Meine Zwillingsschwester Clara und ich verbrachten unsere Kindheit vom Säuglingsalter an in verschiedenen Krippen und Heimen. Wie Vieh wurden wir hin und her geschoben. Letztlich landeten wir in einem katholischen Kinderheim einer bayerischen Kleinstadt. In »St. Niemandsland« wurde ich – vornehmlich von einer Nonne, die ich Schwester C. genannt habe – seelisch gequält und körperlich schwer misshandelt. Die Nonnen deckten außerdem den sexuellen Missbrauch von zwei Priestern und einem »Mitarbeiter« des Kinderheimes.
Allein von 1949 bis 1975 waren laut Heimfonds Stuttgart schätzungsweise 1,2 Millionen Heimkinder vom seelischen, körperlichen und sexuellen Missbrauch in kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen in Ost- und Westdeutschland betroffen. Die Dunkelziffer aufgrund verjährter und damit vernichteter Akten dürfte jedoch weitaus höher liegen.
Im Juli 20.. erschien in einer bayerischen Lokalzeitung folgender Artikel, in dem es um die Verabschiedung der Nonnen Schwester C., Schwester A. und Schwester N. aus dem Kinderheim St. Niemandsland geht.
Zum Abschied großen Dank und eine Umarmung
... (fro). Erinnerungen und Danksagungen waren die zentralen Begriffe bei der Verabschiedung der Mühlendorfer Franziskanerinnen. Diese betreuten 118 Jahre die ... Waisenhausstiftung im Pfaffenwinkel. Nun wurden die letzten drei Schwestern mit einem Gottesdienst in der Pfarrkirche ... und einer Feier im Gemeindehaus St. M. verabschiedet. „Sie haben ein Stück Stadtgeschichte geschrieben“, meinte der Stiftungsleiter A. H. Die Waisenhausstiftung wurde von Stadtpfarrer J. L. 1887 gegründet. Um die Kinder adäquat betreuen zu können, bat der Pfarrer damals die Mühlendorfer Franziskanerinnen um Hilfe, und diese sagten zu. In den folgenden 118 Jahren leisteten insgesamt 86 Schwestern in Kinderkrippe, Kindergarten, Kinderhort und Heilpädagogischer Tagesstation der Stiftung karitative Arbeit. Nun werden auch die Oberin, Schwester C. und ihre verbliebenen Mitschwestern, Schwester A. und Schwester N., aus Altersgründen Marienburg verlassen und in ihr Mutterkloster nach Niederbayern zurückkehren. In dem Gedenkgottesdienst sprach Stadtpfarrer A. N., der zugleich Sitzungsvorstand ist, den Schwestern seinen Dank dafür aus, dass sie „von Generation zu Generation“ den Menschen dienten und den Kindern gerecht wurden. N. moderierte auch die anschließende Verabschiedung im Haus St. M. Dort erläuterte H. vor den geistlichen und weltlichen Ehrengästen sowie mittlerweile erwachsenen Besuchern des Kinderheims die Geschichte der Stiftung. Der ehemalige Stiftungspfleger A. N. erinnerte an die Zeit, als er vor dreißig Jahren der Stiftung vorstand:
„Damals waren noch 90 Kinder in dem Kinderheim, heuer sind es nur noch fünf.“ Die Schwestern hätten den Kindern „Heimat, Brot, Erziehung und Liebe“ gegeben. N.s plastische Schilderungen fanden bei den Ehemaligen zustimmendes Kopfnicken. Im Namen der Stadt bedauerte Oberbürgermeister B., dass die Schwestern Marienburg verlassen, schließlich sei die Betreuung der Kinder durchaus „entscheidend für die Stadt“. Auch die Generaloberin des seit 150 Jahren bestehenden Ordens, Schwester M., bedauerte, „dass wir keinen Ersatz schicken können, obwohl sich das Gesicht der Not inzwischen geändert hat“.
Der Abschied von den Schwestern sei die Zeit für zwei „Zauberwörter“, fand R. B., ebenfalls Stiftungspfleger. Vor 118 Jahren habe sich Pfarrer L. das erste Mal an die Mühlendorfer Schwestern gerichtet, als er fragte, ob diese zur Betreuung der Kinder nach Marienburg kommen könnten: „Bitte.“
Nun sei es an ihm, dem Stiftungspfleger, das zweite Zauberwort an die Schwestern zu richten: „Danke oder Vergelt’s Gott.“ Schließlich bedankte sich auch noch der Vertreter der Ehemaligen bei den Schwestern, die sich „unendlich viel Mühe“ mit ihren Schützlingen gegeben hätten. „Durch ihr Vorbild ist auch in uns noch Glauben vorhanden.“ Viele Ehemalige würden deshalb nach wie vor den Kontakt mit den Schwestern suchen, sagte er, um dann die Oberin zum Abschied zu umarmen.
Als unmittelbar Betroffener der Geschehnisse von St. Niemandsland trieb mir dieser Zeitungsartikel die Tränen in die Augen. Ich bin entsetzt darüber, dass die seinerzeit geschehenen Grausamkeiten in der Tagespresse eine solche Würdigung erfahren haben. Ich erlaube mir daher diese Vervollständigung: Viele von uns Schutzbefohlenen wurden damals seelisch und körperlich schwer misshandelt. Die Bettnässer, zu denen auch ich gehörte, wurden mit unerbittlicher Härte bestraft und ausgegrenzt. Dazu gehörten tägliche Demütigungen vor der Gruppe, folterähnliches Abduschen mit eiskaltem Wasser (das sogenannte Waterboarding ist heute als Foltermethode geächtet) sowie Flüssigkeits- und Nahrungsentzug, um nur einige zu nennen. Die Art, wie über das Wirken der Schwestern im besagten Artikel geschrieben wird, demütigt die Opfer erneut.
Ein drittes im Artikel nicht erwähntes »Zauberwort« fällt mir dazu ein:
»Entschuldigung.«
Der Hölle von St. Niemandsland entrannen meine Zwillingsschwester Clara und ich mit dem Umzug in das Pestalozzi-Kinderdorf, Wahlwies am Bodensee.
Von den verheerenden seelischen Auswirkungen der ersten zwölf Lebensjahre auf die Kinderseele sowie von den ersten Schritten der Heilung und dem weiteren Verlauf meines Lebens berichte ich in diesem vorliegenden zweiten Buch.
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 25.05.19..
Gründe für den Heimwechsel:
Die Schwester des Vaters, Frau M., die in der Schweiz lebt, hat sich immer sehr viel um die Kinder gekümmert. Sie hat besonders Clara immer in den Ferien zu sich geholt. Clemens kam in den Ferien meist zur väterlichen Großmutter nach J. Für Frau M. war es in all den Jahren doch recht umständlich, die Kinder von Marienburg abzuholen. Eine Verlegung in ein Heim, das näher an der Schweiz liegt, ist schon immer unser Plan gewesen. Bisher haben wir nur immer auf die Mutter Rücksicht genommen. Nun kümmert sich aber die Mutter trotz ihres Aufenthaltes in Marienburg (gemeint ist die Psychiatrie; Anmerkung des Verf.) so wenig um die Kinder, dass wir glauben, dass es für die Kinder besser wäre, wenn sie in der Nähe der väterlichen Verwandten wären.
Frau M. bat uns um eine Verlegung der Kinder in das Kinderheim L. bei Lindau. Nach einer Rücksprache mit dem Jugendamt Wangen möchten wir jedoch die Unterbringung der Kinder in das Kinderheim L. ablehnen. Um aber die Kinder näher bei den Verwandten des Vaters zu haben, wären wir sehr dankbar, wenn die Kinder bei Ihnen im Kinderdorf Aufnahme finden könnten.
Riedlinger, Sozialarbeiterin
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 08.07.19..
An das Pestalozzi-Kinderdorf Wahlwies
... Nachdem die Mutter durch den dauerhaften Aufenthalt im Nervenkrankenhaus ganz ausfällt und der Vater sich in Marienburg nicht um die Kinder kümmern kann, ist die Verlegung der Kinder in die Nähe des Vaters und auch näher an die Schweiz, wo die Tante lebt, für die Kinder doch so wichtig. Außerdem haben die Kinder bei Ihnen eine Familie, die sie so sehr entbehren.
Den Kindern hat es auch sehr gut gefallen (gemeint ist der erste Besuch im Kinderdorf; Anmerkung des Verf.), und sie hoffen sehr, dass sie aufgenommen werden können. Frau M., die Tante der Kinder, wäre voll und ganz für die Unterbringung bei Ihnen, sodass mit einer Zusammenarbeit zu rechnen ist.
... Mit der nochmaligen Bitte um Aufnahme der beiden heimatlosen Kinder und dem Dank für den Einblick, den wir durch Ihre Führung erhalten haben,
grüßt herzlich das Stadtjugendamt Keppstadt.
Riedlinger, Sozialarbeiterin
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 24.08.19..
An das Stadtjugendamt Keppstadt
Betreff: | Clemens und Clara Heymkind, geb. 07.09.1965 |
Sehr geehrte Frau Riedlinger,
wir freuen uns, Ihnen heute den Aufnahmetermin für die Geschwister mitteilen zu können. Unser Vorschlag wäre, wenn Sie die Kinder am Donnerstag, den 29.09.19.., nachmittags zu uns bringen können. Von Frau M. erhielten wir ein Schreiben, dass sich die Geschwister zurzeit bei ihr aufhalten, und wir...