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E-Book

Schicksalsschlag

Der Weg zurück ist kein Spaziergang

AutorAnnunziata von Hoensbroech
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451816857
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Jeden kann es treffen. Plötzlich. 'Von diesem Moment an, war nichts mehr wie es war' schreibt Annunziata Hoensbroech. Wenn man als Angehöriger aus heiterem Himmel vom Schicksal getroffen wird, überkommt einen unwillkürlich das Gefühl, man sei jetzt im falschen Film: Gleich wird man aufwachen und alles ist wie immer. Aber es ist der richtige Film, das echte Leben und da ist nichts berechenbar. Wie man das bewältigt, wie man Mut und Hoffnung bewahrt und wie man sich doch auf das Unerwartete vorbereiten kann, davon handelt dieses Buch einer couragierten Mutter. Packend von der ersten bis zur letzten Seite.

Annunziata Gräfin Hoensbroech wurde 1964 geboren. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Politik in Freiburg und Köln. Sie war Mitglied des Aufsichtsrats mehrerer Krankenhäuser und ist heute Vorsitzende einer der führenden deutschen Stiftungen für den Umweltbereich. Als ehrenamtliche Richterin hat sie sich auch juristische Kompetenz erworben und setzt sie sich unter anderem für Vorsorgevollmachten von jungen Erwachsenen ein. Sie hat vier erwachsene Kinder und lebt in Köln.

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Leseprobe

Wenn nichts mehr ist, wie es war


Der Anruf


Mitten in der Nacht klingelt mein Telefon. Ich bin zu schlaftrunken, um mich zu ärgern, und versuche zu vermeiden, dass sowohl das ganze Haus als auch ich völlig wach werden. Immer wieder vergesse ich, das Telefon abends auszuschalten. Ich suche das Handy, kriege es zu fassen und drücke den Anruf weg. Alles ist still. Niemand sonst ist wach geworden. Das warme Bett ist so gemütlich, und ich dämmere zurück in den Schlaf.

Es klingelt wieder. Das gibt es doch nicht. Wer macht denn sowas? Ich schaue diesmal die Nummer an, es scheint eine Nummer aus dem Ausland zu sein. Kein Name, niemand, den ich kenne und gespeichert habe. Ich merke, dass ich ärgerlich werde, aber ich will einfach nur weiterschlafen. Es ist schließlich erst halb sechs Uhr morgens! Wieder drücke ich den Anruf weg.

Das Telefon läutet abermals. Jetzt klingelt es Sturm. Nun bin ich wirklich wach und gehe leicht genervt dran. So was Hartnäckiges, wie kann man nur so früh anrufen! Was kann es schon geben, das nicht zwei Stunden warten kann! Das denke ich noch, als ich das Gespräch annehme.

»Bitte legen Sie nicht auf«, ruft jemand hastig in die Leitung, »sind Sie die Mutter von Caspar?«

Jetzt bin ich hellwach und sofort im Alarmmodus. »Ja, ich bin Caspars Mutter, was gibt es?«

»Mein Name ist auch Caspar, ich bin ein Freund Ihres Sohnes. Wir studieren gemeinsam an der ESADE. Ich bin in Barcelona im Krankenhaus. Caspar hat heute Nacht einen Unfall gehabt. Die Ärzte hier sagen, dass seine Eltern sofort kommen sollen …«

Ich sitze auf meinem Schreibtischstuhl, mit einem Stift in der Hand, und frage mich, ob ich alles richtig verstanden habe. Ich bitte diesen Caspar Zwo, mir noch mal langsam und ganz genau zu berichten, was er weiß.

Mein Caspar hatte in der Nacht wohl einen Autounfall. Er liegt im Krankenhaus. Die Ärzte geben keine Auskünfte, sondern bestehen darauf, dass die Eltern kommen. Caspar Zwo und ich verabreden eine Arbeitsteilung. Er bleibt im Krankenhaus und versucht, an Informationen zu kriegen, was ihm möglich ist. Ich komme hier mit allem Nötigen in die Gänge. Sobald sich die Lage dort oder hier verändert, rufen wir uns an.

Mir fällt auf, wie jung und nett diese Stimme ist – viel zu jung und zu nett für so eine Albtraum-Mission. Ich habe sofort den Eindruck, dass mein Caspar mit diesem Namensvetter einen wirklich guten Freund hat, und schreibe mir die Telefonnummer von Caspar Zwo auf.

Nach dem Gespräch bin ich sofort in einem unwirklich alltäglichen Montagmorgen, wenn auch recht früh. Alles ist eigentlich so wie immer. Alles, nur ich nicht. Ich sitze wie gelähmt auf meinem Stuhl und versuche, mir über die Situation klar zu werden. Ich fasse es nicht. Da fährt einer 22.000 km auf dem Motorrad, entlang des Schwarzen Meeres, durch den Iran, Turkmenistan, Usbekistan, durch genau die Länder, von denen ihm immer abgeraten wurde, um dann im sicheren Barcelona einen Unfall zu haben. Ich bleibe noch eine kurze Weile bewusst sitzen. Horche in das stille Haus hinein, verabschiede mich innerlich, denn ich habe das Gefühl, es sind die letzten fünf Minuten Ruhe für lange Zeit, es sind die letzten fünf Minuten meines alten Lebens!

Ich springe auf, um mich sofort anzuziehen. Nein, ich setze mich gleich wieder, denn ich muss sofort Michael, Caspars Vater, anrufen. Als Erstes. Die Situation wiederholt sich. Ich wecke ihn durch meinen Anruf auf und reiße ihn, ohne es zu wollen, in diesen Albtraum mit hinein. In dieser schier endlosen Minute, während sein Telefon klingelt, kommt mir der Gedanke: Solange er nicht an sein Telefon geht, verändert sich sein Leben nicht. Natürlich geht Michael an das Telefon, und auch bei ihm ist ab jetzt nichts mehr so, wie es war.

Im Zimmer neben mir schläft meine Tochter Chiara. Ich wecke sie, erzähle kurz, was ich weiß, und bitte sie, so schnell es geht für ihren Vater und mich Flüge nach Barcelona zu buchen. Düsseldorf, Köln und Frankfurt kommen als Abflugort infrage.

Ich mache mir einen Kaffee und springe unter die Dusche. Ich spule das volle Programm ab. Duschen, Haare waschen, föhnen, Wimperntusche etc. … und ahne es mehr, als dass ich es weiß, dass ich für eine lange Zeit von zu Hause weggehe.

Chiara findet nur unbrauchbare Flüge nach Barcelona, was nicht an ihr, sondern an den absonderlichen Flugzeiten liegt. Zu spät oder zu früh, nicht zu erreichen oder noch zu lange hin. Frankfurt funktioniert. Dort gibt es um 11 Uhr einen Flug, das kann ich schaffen. Mit dem Taxi zum Bahnhof, in den ICE nach Frankfurt-Flughafen und von dort weiter mit dem Flugzeug nach Barcelona. Das ist der Plan.

Es ist 7 Uhr, in meinem Kopf rattern die Gedanken. Ich spreche kein Spanisch! Wie soll ich mich mit den Ärzten verständigen? Kenne ich irgendeine Seele in Barcelona?

Caspar Zwo ruft wieder an. Er ist gemeinsam mit einem weiteren guten Freund, Alex, im Krankenhaus. Beide werden so lange dortbleiben, bis ich vor Ort bin. Er hat noch keine weiteren Informationen darüber, was überhaupt passiert ist.

Immer wenn sich meine Gedanken drehen und mein Latein überschaubar wird, setzt dieser »Ruf Vile an«-Reflex ein. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich jetzt übertreibe, aber ich weiß auch, dass sie sich mit mir freut, wenn am Ende alles nur halb so schlimm ist. Natürlich wecke ich auch sie mit meinem Anruf aus heiterem Himmel.

»Vile, Entschuldigung, es tut mir wirklich leid, dich zu wecken, aber ich brauche irgendjemand in Barcelona, der Deutsch und Spanisch spricht und dolmetschen kann. Caspar hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus, ich werde gleich dorthin fliegen. Vielleicht fällt dir und Ferdinand irgendjemand ein.«

Ich raffe einige Sachen zusammen und schmeiße alles in meinen Koffer. Moment … es ist Mitte Mai, und ich fliege nach Barcelona. Warum nehme ich lauter Jeans und Pullover mit? Ich halte mich für geistesgegenwärtig und bin froh, dass mir das noch auffällt. Also raus mit den Pullovern; nun packe ich leichte Sommersachen, Ballerinas und T-Shirts ein.

Es ist 8 Uhr. Ich bin etwas nervös. Michael kommt nicht. Anscheinend steckt er im Stau auf dem Weg nach Köln fest. Um diese Zeit herrscht maximaler Berufsverkehr. Inzwischen hat Chiara sich dazu entschieden, ebenfalls mit nach Barcelona zu fliegen, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Ein kleines Hindernis ist, dass ihr Reisepass gerade verlängert wird und der Personalausweis abgelaufen ist. Manche Dinge ändern sich nie. Sie wird es einfach darauf ankommen lassen.

Reise nach Barcelona


Es ist 8.15 Uhr – Michael steht noch im Stau, und das Ende ist nicht abzusehen. Ich muss los. Entweder wir verpassen alle den Flug oder nur Michael. Chiara und ich beschließen, dass ich den 11-Uhr-Flug in Frankfurt nehmen werde. Chiara wird auf ihren Vater warten, ich werde in Frankfurt ihre beiden Flüge auf die 13-Uhr-Maschine umbuchen. Das müssten sie dann schaffen.

Durch den quälend zähen Stadtverkehr fahre ich zum Bahnhof. Es ist 9 Uhr. Caspar Zwo ruft an. Aus einem Gespräch, das ein Arzt versehentlich mit Alex und ihm geführt hat, weiß er Neuigkeiten über Caspar. Ich stehe am Bahnsteig und springe in den Zug. Im Speisewagen finde ich einen Sitzplatz und schreibe eine Nachricht in meine Geschwister-Familien-Chatgruppe:

Ihr Lieben, Caspar hatte heute Nacht einen Unfall. Ein Auto hat ihn angefahren. Er ist nicht in Lebensgefahr, aber auch nicht bei Bewusstsein. Er hat einen Beinbruch, Rippenbrüche und ein Schädel-Hirn-Trauma. Ich bin auf dem Weg nach Frankfurt, nehme um 11 Uhr den Flug nach Barcelona und gehe dann gleich in die Klinik. Ich brauche ein paar Stoßgebete und bekämpfe mein Kopfkino. Es muss ja nicht immer gleich das Schlimmste passiert sein. Drückt alle die Daumen, bitte nicht anrufen, ich melde mich.

Der Zug hat Verspätung, das Flugzeug auch. Irgendwie hat es auch etwas Beruhigendes an sich, am Gate zu sitzen und zu warten. Ich kann einfach nichts machen. Eine erzwungene Ruhepause, der ich mich dankbar hingebe. Die einzige Aktivität, der ich nachgehe, ist das Ausschalten meines Kopfkinos. Ich zügle meine Gedanken, wehre mich gegen Bilder, die ungefragt kommen. In Barcelona werde ich sehen, was mich erwartet, hier vor dem Flugsteig denke ich nicht daran. Wie ich erst später erfahre, verbreitete sich in der Nacht eine Nachricht auf Facebook, in der nach der Telefonnummer von Caspars Eltern gefragt wurde. Die Facebook-Welle rollt.

Vile ruft zurück und vermittelt mir den Kontakt zu einem Mann, Raimund, Sohn der Freundin einer gemeinsamen Freundin, der wohl schon lange in Barcelona lebt und nicht nur Spanisch, sondern auch Katalanisch sprechen kann. Natürlich, in Barcelona sprechen die Leute Catalan! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht, und es macht meine Situation auch nicht besser. Er wartet ab 15 Uhr im Krankenhaus auf mich. Lieber Gott, vielen Dank! Beinah habe ich ihm gegenüber schon jetzt ein schlechtes Gewissen. Eine andere Freundin hat für mich einen Transfer vom Flughafen direkt in das Krankenhaus »Hospital Clinìc« in der Innenstadt Barcelonas organisiert. Ich muss nur auf eine Frau achten, die ein Schild mit meinem Namen in der Hand hält.

Es geht los. Das Flugzeug startet eine halbe Stunde später als geplant. Der Pilot kann unsere Verspätung nicht wieder aufholen. Ich mache mir Sorgen, ob Raimund so viel Zeit hat, dass er auf mich warten kann. Irgendwie steht es mir ins Gesicht geschrieben, wo meine Gedanken sind, und ein Flugbegleiter...

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