Vorwort
Sechzehn Jahre lang habe ich nicht mehr in meiner Heimat gelebt. Ich war immer wieder für verschiedene Termine in Deutschland gewesen. Aber ich habe hier eben nicht mehr gewohnt, und es ist etwas ganz anderes, ob man in einem Land oder einer Stadt lebt oder als Besucher kommt, selbst wenn man eigentlich von dort stammt. Mir war es nie egal, was in Deutschland passiert. Ich habe immer alle gesellschaftlichen Entwicklungen verfolgt. Mehr als ein Jahr bin ich jetzt zurück. Schon von Beginn an hat mich die neue deutsche Ängstlichkeit überrascht, auch etwas erschüttert. Ich habe die Wahlen miterlebt, bei denen die AfD die deutsche Politik vor sich hergetrieben, paralysiert und zahlreiche Anhänger gewonnen hat. Und ich erlebe in meiner bayerischen Heimat jetzt wieder einen Wahlkampf, der auf dieses um sich greifende Gefühl abzielt, sogar darauf aufbaut. Für mich war und ist es immer ein Herzensanliegen, anderen Menschen Mut zu machen. Weil ich weiß, wie wichtig das ist und wie oft mir andere Menschen Mut gemacht haben. Und ich denke, Mutmacher haben wir gerade nötig. Bitter nötig.
»Vor allem ein Gefühl bestimmt derzeit die Stimmung in Deutschland, aber auch in allen anderen Nationen: die Angst. Sie wirkt in allen gesellschaftlichen Bereichen, bestimmt Politik und Wirtschaft, aber auch das Privatleben jedes Einzelnen. Das Gefühl kennt keine sozialen Grenzen; es eint Menschen, die sonst nicht viel gemein haben. Es ist häufig das Einzige, worüber sie miteinander reden können.« So klar analysiert der Soziologieprofessor Heinz Bude die derzeitige Lage in unserem Land. Wie recht er damit hat, das haben wir gerade in den letzten Monaten und Wochen erfahren. Deutschland ist zutiefst verunsichert und hat Angst, sei es vor einer neuen Wirtschaftskrise, den nächsten politischen Eruptionen, kriegerischen Eskalationen oder so furchtbaren Anschlägen wie zuletzt in Istanbul, Jerusalem oder Berlin. Das geht übrigens nicht nur uns Deutschen so, sondern auch unseren Nachbarn. Es ist bezeichnend, dass in Österreich bei der Wahl zum Wissenschaftsbuch 2017 in der Kategorie Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften ein Buch der österreichischen Professorin Ruth Wodak gewann, der Titel: »Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse«.
Woher kommt das? In der gegenwärtigen Lage könnte man ganz einfach den Schluss ziehen: Wenn es dem Menschen zu gut geht, wird er träge und nachlässig, er hält alles für selbstverständlich, er denkt, alles komme von ganz allein. Doch stimmt das wirklich? Es gibt viele in unserem Land, denen es alles andere als gut geht. Daher glaube ich, die Ursache liegt tiefer: Ein allgemeines Relativieren hat sich wie Mehltau über unser Land gelegt, und nicht nur über unseres. Religion im öffentlichen Leben ist tabuisiert worden. Warum eigentlich? Warum muss das Kreuz aus den öffentlichen Räumen verbannt werden, nur weil es einige Menschen gibt, die gegenüber der Religion, den Gläubigen oder Andersgläubigen keine Toleranz aufbringen? Toleranz galt als die große Errungenschaft der Aufklärung, in Wirklichkeit sind aufgeklärte Menschen intolerant geworden und bestimmen, was man in unserem Staate denken darf. Alles andere gilt als überholt und unmodern. Es besteht ein Unterschied zwischen der Toleranz gegenüber einer Meinung und der Toleranz gegenüber einem Menschen. Das ist ja der große Fehler der Aufklärung gewesen: Die Behauptung Lessings, die er in »Nathan der Weise« mit der Ringparabel aufstellt, im Grunde seien alle drei Religionen gleich, stimmt eben nicht. Die Muslime würden sich wehren, die Juden nicht minder, und sicher auch Gläubige anderer Religionen. Das ist nicht nur ihr gutes Recht, sondern vielleicht sogar ihre Pflicht als Gläubige. Toleranz bezieht sich nicht auf die theoretische Wahrheit, sondern auf den konkreten Pluralismus von Menschen mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen. Dann dürfen Glaubensüberzeugungen auch im öffentlichen Leben bekundet werden, solange sie nicht die öffentliche Ordnung stören.
Wer in der Philosophie des Sokrates groß geworden ist, wird alles hinterfragen, auch die Aufklärung. Diese Philosophie, deren Zentrum das ständige Fragen und Hinterfragen bildet, bietet uns eine Methode, um in unserer Zeit Orientierung zu finden. Wenn wir aufhören, immer wieder nachzufragen, wundern wir uns nicht mehr über die gegenwärtigen Wahlausgänge und die neuen totalitären Bestrebungen. Viele in der Bevölkerung sind es leid, sich einem System unterordnen zu müssen. Sie wollen einmal anderes probieren, ob in der Stadt Rom, in England, in den USA oder Österreich und erst recht in den Staaten des ehemaligen Ostblocks.
Wozu Angst führen, wie sie benutzt werden kann, das sehen wir seit mehr als einem Jahr in den USA. Dort hat mit Donald Trump ein Scharfmacher gewonnen, der aus den Unsicherheiten, dem Gefühl der Ohnmacht, aus den Ressentiments seine einzige politische Daseinberechtigung gezogen hat, der allein durch Ab- und Ausgrenzung Amerika wieder »great« machen will. Die USA sind so gespalten wie nie und das Land bewegt sich unter Trump, der die Ängste bewusst schürt und sich als einziger Beschützer und Bewahrer des Landes geriert, so weit ins Abseits, wie lange nicht mehr oder vielleicht sogar noch nie. Viele Menschen passen nicht dazu: Mexikaner, Chinesen oder einfach nur Muslime.
Auch in Deutschland bringen immer mehr Menschen den Muslimen und dem Islam Vorbehalte und sogar Angst und Hass entgegen. Abgesehen davon, dass eine Generalisierung wie »der Islam« zu kurz greift, wie ja fast immer Generalisierungen, müssen die vielen Emotionen, die in diese Debatte einfließen, genau untersucht und beleuchtet werden. Das vielleicht entscheidende Problem besteht in der Frage, ob ein Muslim einen Andersgläubigen als ebenbürtig gelten lässt und anerkennt, auch wenn er einer anderen Weltanschauung folgt. Das scheint mir die eigentliche Herausforderung zu sein. Denn der Koran schreibt nicht nur einen bestimmten Glauben vor, sondern auch das zwischenmenschliche Verhalten in einer Gesellschaft. Der Nichtmuslim gilt als Ungläubiger und somit als Mensch zweiter Klasse. Zwar haben hohe Vertreter der Sunniten auf einer Konferenz in Grosny/Tschetschenien, die vom 25. bis 27. August 2016 stattfand, das Verhalten des sogenannten Islamischen Staats und ähnlicher Extremistengruppen als Übereifer und Fehlinterpretation deklariert, es fehlt aber eine klare Aussage hinsichtlich eines anerkennenden Verhältnisses zu andern Religionen, wie sie etwa in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils »Nostra Aetate«, der Erklärung über das Verhältnis zu den andern Religionen, und in »Dignitatis humanae«, der Erklärung zur Religionsfreiheit, zu finden ist. Auch die Katholische Kirche hat lange gebraucht, bis sie sich zu diesen Erklärungen durchgerungen hat. Aber sie sind eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen einer modernen, pluralen Gesellschaft.
Wir müssen diese Fragen unseren muslimischen Mitbürgern zumuten. Denn sie genießen unsere freiheitliche Demokratie und unsere Rechtsstaatlichkeit. Verglichen mit ihrem Status hierzulande genießen die Christen in arabischen Staaten lediglich eine eingeschränkte Religionsfreiheit. Das zeigt sich etwa bei der Frage der Konversion. Nur der Wechsel zum Islam ist erlaubt. Warum nicht auch umgekehrt? Immerhin haben die Christen in den Emiraten ein Existenz- und Kultrecht. Jordanien gilt als liberal. Im Nachbarland Saudi-Arabien haben die Christen nicht das geringste Recht. Erstaunlicherweise bemängeln wir bei der Volksrepublik China zurecht die eingeschränkte Religionsfreiheit, gegenüber Saudi-Arabien ist aber selten Kritik zu vernehmen. Hängt das mit unseren Waffenverkäufen zusammen, mit dem Öl? Die Fragen an die Muslime werden zu Fragen an uns selbst. Entscheidend ist: Diese Fragen können beantwortet werden, das Zusammenleben ist möglich. Manche werden mich jetzt als naiven Optimisten belächeln. Doch in Italien zum Beispiel haben jetzt erst islamische Verbände und Regierungen einen »nationalen Pakt für einen italienischen Islam« geschlossen. Freitagsgebete sind nun verpflichtend auf Italienisch, die Verbände garantieren zudem volle Transparenz bei der Frage, wer die Moscheen finanziert. Im Gegenzug will die Regierung den Bau von Moscheen erleichtern und die muslimischen Gemeinschaften unterstützen. Der italienische Innenminister Marco Minniti nannte den Pakt eine außergewöhnliche Investition in die Zukunft Italiens – eine solche Investition brauchen wir auch.
Aber auch sonst wird sich bei uns einiges ändern. Wir brauchen weiterhin die wohlwollende Neutralität des Staats gegenüber Religionen. Udo Di Fabio ist sicher zuzustimmen, wenn er betont, dass ein »Beharren auf kompromissloser Durchsetzung religiös begründeter Verhaltensgebote in öffentlichen Einrichtungen einen Rückschritt bedeute« (FAZ 22.12.16). Es wird allerdings zu neuen Diskussionen kommen, ob dadurch ein moderner Laizismus gerechtfertigt ist. Ich bin mir sicher: Unsere Gesellschaft wird die Religion erneut als öffentlichen Faktor wahrnehmen müssen, wobei der Gleichheitsgrundsatz unbedingt zu berücksichtigen ist. In der Vergangenheit kannte unsere Gesellschaft manche der aktuellen Probleme nicht, da sie wesentlich konformer geprägt war. Aber selbst damals gab es schon Unterschiede, wenn wir an die gemeinsame Verantwortlichkeit und das Zusammenwirken der...