Lob der Verschlankung
oder
Das Wuchern des Textes und die Künstler der Vereinfachung
Mitte Januar 2017 stand ein in sich verkrümmter Postbote, in den Händen ein zwar relativ kleines, aber offenbar schweres Paket, vor meiner Tür, er überreichte es mir, richtete sich dankbar auf, ich unterschrieb die Empfangsbestätigung auf seinem iPad, er zog seines Weges fröhlich. Im Paket verbargen sich drei dicke, fest eingebundene Bücher, gemeinsam zu einem mächtigen Bücherberg zusammengeschweißt, das opus magnum meines ehemals in Tübingen lehrenden Kollegen Eilert Herms: Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums. In Wahrheit und aus Gnade leben, 3468 Seiten, Gewicht: 4,6 Kilogramm, 149 Euro.|7| Ich hatte es mir als Rezensionsexemplar kommen lassen, hatte zwar ein dickes Werk erwartet, war dann aber doch über den Umfang ziemlich erschrocken – eine Herausforderung auch für Buchtrinker. Ein Werk bewundernswerter protestantischer Gelehrsamkeit, aber allein der Umfang erschlägt denjenigen, der einfach wissen will, warum das christliche Leben attraktiv ist. Offenbar ist das nicht ganz leicht zu sagen. Ich deute das dreiteilige Werk (Theologen lieben Dreiteiligkeit), zunächst ganz unabhängig vom Inhalt, als Ergebnis einer angestrengten Komplexitätsbewältigung, die offenbar nicht schlanker vermittelt werden kann. Habent sua fata libelli, Bücher haben ihr eigenes Schicksal, lautet ein häufig zitiertes Sprichwort. Vollständig heißt es: Pro captu lectoris habent sua fata libelli, je nach Auffassungsgabe des Lesers haben Bücher ihr eigenes Schicksal. Ich werde mein Bestes geben, damit die Bände, Denkmäler theologischer Elitenkultur|8|, nicht zu Bibliotheksleichen verkommen. Die Frage bleibt: Gibt es nicht Verdichtungen, Elementarisierungen, kreative Reduktionsleistungen, die Komplexität reduzieren, ohne das Niveau zu unterbieten? Benötigen wir nicht dringend eine Verdichtung?
Habent sua fata libelli. Seit zwanzig Jahren geht mir ein Buch durch den Kopf, das sich diesen Fragen passgenau stellt. Die Erfahrung vor der Haustür war Anlass, das schmale Buch Die Kultur holt uns ein von Walter Wimmel antiquarisch zu erstehen und erneut zu lesen. Der Latinist Walter Wimmel|9|, der über zwanzig Jahre einen Lehrstuhl in Marburg inne hatte, beschreibt das Zeitalter der Schriftlichkeit – darin unterschieden von oralen, also mündlichen Kulturen – als Zeitalter dauerhafter Fixierung, die, weil nichts vergessen und alles gesammelt und in Bibliotheken gehortet wird, immer schon von einer Übersteigerung und Eskalation bedroht ist. Deshalb tendieren Literaturen irgendwann zu Übersättigung, Monotonie und Ermüdung, Erschöpfung und Entfremdung. Tritt diese Situation mit wachsendem Textbestand ein, bedarf es kreativer Reduktionen, die Wimmel in seinem Buch mit großer Sensibilität aufspürt.
Walter Wimmel will die Signatur der Epochen anhand von drei Urvorstellungen deuten: So bearbeitet die griechische Literatur in der Nachfolge Homers die »Urvorstellung«: »Mensch als Geistwesen«|10|; die römische Literatur tritt anschließend an, die »Urvorstellung« »gutes Reich«|11| zu beschreiben; nach Wimmel wird erst mit der christlichen Antike das Religiöse zum »Hauptziel der Textbewegung«, weil erst hier »von der Geschichte bis zum Alltag das Dasein« im religiösen Sinne geregelt wird.|12| Jetzt tritt die Urvorstellung eines gottgefälligen Lebens auf den Plan. Aus dem griechisch-römischen und dem jüdisch-christlichen Textzusammenhang entsteht schließlich das Abendland.
Um es sogleich zu sagen: Was mich an Wimmels Ansatz fasziniert, ist der Verzicht auf zwei gängige Lesarten der Wissensgeschichte. Sein Modell kennt weder die Idee eines Zielgedankens, den der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel glaubte entdecken zu können, noch die Vorstellung eines glücklichen, aber leider nahezu verschütteten idealen ersten Anfangs, von dem Martin Heidegger sich leiten ließ. Wimmel sucht nach einem Rhythmus der Wissensgeschichte als Rhythmus von Anwachsen und Verdichtung. Sein Schlüsselsatz lautet: »Die Reduktion im Sinne der Verkleinerung und Wieder-Verwesentlichung eines Komplexen ist am Ende unentbehrlicher Bestandteil eines jeden schöpferischen Vorgangs. Reduktion gehört zur Kreation.«|13| Ein zweiter Punkt kommt nach Wimmel hinzu: Die Verkleinerung geht häufig mit einer Enthierarchisierung von Wissen zusammen, indem neue Bevölkerungsschichten Zugang zur Literatur erhalten und entsprechend ganz neue Helden und auch Heldinnen in der Literatur auftauchen.
Wohlwollende Beschämungstorturen
Nur kurz will ich einige Heroen der Verkleinerung und Enthierarchisierung nennen. Platons Dialoge, selbst eine eigenständige literarische Gattung, wollen die Schwäche der Schriftlichkeit|14|, auf Fragen der Leserinnen und Leser nicht Auskunft geben zu können, durch inszenierte Gespräche therapieren. Alle Grundfragen menschlichen Lebens werden in inszenierte, schlanke Dialoge übersetzt, damit der Leser im Vollzug der Lektüre lebensdienliche Einsichten auf die Welt bringen kann, aber zunächst mit den Gesprächspartnern von Platon, darunter auch Vertreter der Sophistik und der Rhetorik, durch die Erfahrung hindurch muss, dass sein bisher angelesenes Wissen wenig taugt. Platons Dialoge sind auch wohlwollende Beschämungstorturen für die Wissenselite seiner (und unserer) Zeit. Die folgende Philosophiegeschichte lässt sich dann, einem Bonmot des amerikanischen Philosophen Alfred North Whitehead gemäß, als Fußnoten zu Platon lesen.
Der Dichter Kallimachos von Kyrene, Bibliothekar in Alexandrien, setzt in seiner Literatur auf Verkleinerung und den Wiedergewinn von Realität. »Ein großes Buch ist einem großen Übelstand gleichzusetzen.«|15| Der Verschlankungssehrgeiz von Kallimachos geht einher mit einem revolutionären Akt, weil nicht länger der kriegerische Held die Szene dominiert: »Als Musterdichtung des (ersten) antiheldischen Literaturprogramms kann die ›Herakle‹ des Kallimachos gelten. Eine alte Frau wird zur Hauptfigur.«|16| Verschlankung meint auch Inklusion.
Der römische Aristokrat Caecus, von Wimmel hoch geschätzt, demokratisiert die Schriftlichkeit, macht die für die Prozesse wichtigen Prozessformulare öffentlich und damit den Rechtsweg transparent. Caecus publiziert seine Reden und veröffentlicht ein Volksbuch mit eingängigen Weisheitslehren in Versform: Die geflügelte Rede, jeder sei seines Glückes Schmied, geht auf Caecus zurück.
Vergils Aeneis liest Wimmel im Vergleich zu Homers Odyssee als »gewaltigen Reduktionsakt von Form und Stoff«.|17| In der Aeneasgestalt wird, so die Pointe, die menschliche Urvorstellung eines guten Reiches sinnfällig. Und Augustus wird von Wimmel (milde übertrieben) als der reale Herrscher gefeiert, der auf Reduktion setzt, indem er auf die Eroberung Britanniens und einen Sieg gegen die Parther verzichtet, für Milde statt Vergeltung plädiert, die Zahl der Legionen mindert, eine lebenslängliche Verlängerung seines Konsulats ausschlägt, altrömische Moralität neu in Kraft setzt und die Tempel wiederherstellen lässt. Er nimmt es auch gelassen hin, dass der Dichter Horaz seine Heldentaten nur äußerst zurückhaltend preist.
Spannend ist der Blick, den Wimmel auf die jüdischchristliche Literatur wirft. »Jesus wird neben Augustus zur anderen großen Reduktionsfigur der Zeit. Seine Wirkung freilich liegt später. Dank seines geistigen und textlichen Erbes, und aufgrund von dessen Zusammengehörigkeit mit dem Glauben, kann er radikaler einschränken als jeder ›weltliche‹ Beschränkungsversuch des Geistes und der Macht es vermochte. Extreme Forderungen wie grundsätzliche Demut, Feindesliebe usw. gehören hierher. Die existentielle Seite der antiken Reduktionslinie gelangt im Christentum zu ihrer Höhe.«|18| Das demütige Leben versteht sich als Reduktion des großspurigen Lebens und die Idee des Imperialen wird zum Geistreich und Gottesreich – zumindest in der Lesart von Wimmel – reduziert.|19|
Überraschenderweise lässt Wimmel einige naheliegenden Pointen liegen, denn der predigende, der betende und der Gleichnisse erzählende Jesus bietet kreative Reduktionsleistungen der jüdischen Tradition par excellence. Der Stifter Jesus, der selbst nichts schreibt, ist ein großartiger Verdichter, der zugleich enthierarchisiert, indem er das antike Proletariat als Publikum einbindet.
Verdichtungskünstler
Und die Urschriftsteller des Neuen Testaments? Die Sprache des Markus wird, wie Wimmel herrlich nüchtern sagt, durch Lukas verbessert: »Wir finden im Neuen Testament zwar kein griechisch-agonales Traditionsverhalten. Eigentliche Polemik ist selten; aber allenthalben, auch auf stilistischem Gebiet, ist Verbesserungsdrang zu beobachten.«|20| Die Evangelisten sind Verdichtungskünstler, die aus der historischen Figur des Jesus von Nazaret ein literarisches Porträt erstellen, das auch Spätgeborene beeindrucken kann.|21| Die von Lessing in die Welt entlassene Rede vom garstig breiten Graben zwischen der Zeit Jesu und der Gegenwart war schon immer extrem irreführend und ein Fake: Spätgeborene haben es leichter, den Genius dieses Jesus von Nazaret zu verstehen, weil die Verdichtung zu einem literarischen Porträt in mehrfacher, nämlich innerbiblisch vierfacher Ausführung zu einem Eindruckszuwachs bei den Leserinnen führt. Der vor Augen gemalte Jesus vermittelt ein auch sinnlich spürbares Wissen, bringt in Kontakt mit dieser unverwüstlichen Wahrheit, schenkt, durchaus nach einem verstörenden Prozess, starke Emotionen, die zum Handeln ermuntern. Leserinnen sind Antwortwesen auf das Angebot,...