Paavo Blåfield |
1 Nozizeption und Schmerz – physiologische Grundlagen
Einführung in die physiologischen Grundlagen
Annekathrin Robl
Was macht die Schmerzverarbeitung besonders? Warum nehmen wir Schmerzen unterschiedlich wahr? Wie kann man Schmerz verstehen und einteilen? Wie entsteht chronischer Schmerz?
1.1 Definition Schmerz
Schmerz
Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.
(International Association for the Study of Pain, IASP 1994)
Diese Definition zeigt, dass sich Schmerz wie ein komplexes Puzzle aus verschiedenen Teilen zusammensetzt und nur als Ganzes betrachtet fassbar wird.
1.1.1 Komponenten der Schmerzempfindung
Die Komponenten der Schmerzempfindung sind:
sensorisch-deskriminativ
affektiv-motivational
kognitiv
vegetativ
motorisch
1.1.2 Akuter Schmerz
Der akute Schmerz hat eine sinnvolle und sogar lebenserhaltene Funktion. Er warnt den Organismus vor drohenden Beschädigungen und hilft, diese abzuwenden, indem er Reaktionen zum Schutz des Körpers in Gang setzt. So löst eine Schmerzwahrnehmung in einer Körperregion die entsprechende Schutzreaktion aus, z.B. das Wegziehen der Hand von der heißen Herdplatte (sensorisch-deskriminative und motorische Komponente) oder bei großer Gefahr alle Kräfte zu mobilisieren, um zu entfliehen, z.B. Kampf und Flucht (vegetative, kognitive und motorische Komponente). Zudem fördert akuter Schmerz die Wundheilung, indem die verletzte Körperregion vom Körper ruhiggestellt wird (Schonhaltung) ▶ [5].
1.1.3 Chronischer Schmerz
Chronischer Schmerz
Verliert der Schmerz seine sinnvolle Melde-, Schutz- und Heilfunktion und bildet sich der Schmerz nicht innerhalb von 3 bis 6 Monaten nach Ausheilung des Gewebedefekts zurück, spricht man von chronischem Schmerz.
Chronischer Schmerz führt zu physischer, psychischer und sozialer Belastung des Patienten und wird zur eigenständigen Schmerzkrankheit. Es kann zu einem schmerzbedingten Psychosyndrom mit depressiver Verstimmtheit, Reizbarkeit und Schwäche einhergehend mit eingeengten Interessen und verminderter sozialer Aktivitäten kommen. Dieser kräftezehrende Prozess mündet oft darin, dass Betroffene ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Körper und den empfundenen Schmerz verlagern. Man spricht hierbei von Schmerzchronifizierung. Während der Begriff chronischer Schmerz lediglich den Zeitraum der Schmerzempfindung beschreibt, werden bei der Schmerzchronifizierung die Mehrdimensionalität und die damit verbundenen Einschränkungen im Alltagsleben berücksichtigt ▶ [5].
1.2 Nozizeption und Schmerzverarbeitung
Nozizeption ist die physiologische Grundlage der Schmerzweiterleitung, während der eigentliche Schmerz lediglich dessen Endprodukt darstellt, was nachfolgend anhand des akuten Schmerzes dargelegt wird.
1.2.1 Physiologie der Reizaufnahme, Weiterleitung und zentralen Verarbeitung
Die Nozizeption gliedert sich in 4 wichtige neuronale Hauptstrukturen ( ▶ Abb. 1.1).
Abb. 1.1 Nozizeption, 1. Neuron.
Zunächst findet die Reizaufnahme über Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren, 1. Neuron in der Schmerzweiterleitung) statt. Nozizeptoren sind histologisch freie Nervenendigungen (pseudounipolare Nervenzellen). Sie agieren polymodal, d.h. sie reagieren auf verschiedene Reize mechanischer, chemischer oder thermischer Art. Diese physikalischen oder chemischen Reize werden im Nozizeptor in elektrische Reize umgewandelt (Transduktion und Transformation in elektrische Aktionspotenziale, AP). Die Intensität des einwirkenden Reizes wird hierbei durch die Entladungsfrequenz (Anzahl der Aktionspotenziale) kodiert.
Nozizeptoren sind sogenannte Proportionalfühler. Werden diese wiederholt gereizt, sinkt die Schmerzschwelle (Sensibilisierung) und es werden noch mehr Impulse an das zentrale Nervensystem weitergeleitet.
Diese Schmerzweiterleitung kann auf zwei Wegen erfolgen:
markhaltige, schnell leitende Aδ-Faser (15 m/s) mit saltatorischer Schmerzweiterleitung ( ▶ Abb. 1.2a): Vermittlung des hellen, gut lokalisierten Schmerzes mit Aktivierung der Schutzreaktionen (Flucht, motorische Komponente)
marklose, langsam leitende C-Faser (1 m/s) mit kontinuierlicher Schmerzweiterleitung ( ▶ Abb. 1.2b): Vermittlung des dumpfen Schmerzes mit inaktivierendem Charakter (Schonhaltung zur Geweberegenerierung)
Abb. 1.2 Reizweiterleitung.
Abb. 1.2a Saltatorische Weiterleitung.
Abb. 1.2b Kontinuierliche Weiterleitung.
Abb. 1.3 Nozizeption, 2. Neuron.
Anschließend gelangt der Schmerzimpuls über elektrische Aktionspotenziale via Aδ-Fasern und C-Fasern zum Hinterhorn des Rückenmarks. Hier erfolgt die Umschaltung auf die Gegenseite im Rückenmark in den Tractus spinothalamicus ( ▶ Abb. 1.4).
Abb. 1.4 Rückenmark und Tractus spinothalamicus.
(Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2015)
Abb. 1.5 Nozizeption, 3. Neuron.
Dieser wiederum gelangt in die Thalamuskerne des Zwischenhirns ( ▶ Abb. 1.6). Hier erfolgt die Umschaltung und Selektion sensorischer Informationen, d.h., bereits in der Eintrittsebene zur zentralen Verarbeitung entscheidet sich, welche Informationen passieren dürfen (Gate-control-Theorie des Schmerzes).
Abb. 1.6 Thalamus.
(Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2015)
Thalamus
Das „Tor des Bewusstseins“: Hier entscheidet sich, welche Reize aus der Umgebung wahrgenommen werden. Maßgeblich verantwortlich hierfür sind Konzentration und Fokussierung, aber auch unbewusste Prozesse (z.B. lese ich ein Buch, konzentriere ich mich auf dessen geschriebene Inhalte und weniger auf die Umgebung/Gespräche anderer). Durch Ablenkung kann sich der Fokus jedoch verschieben (z.B. durch akustische Reize schrecke ich beim Lesen auf und unterbreche die Arbeit, um nachzusehen, was geschehen ist).
Abb. 1.7 Nozizeption, 4. Neuron.
Im seitlichen Kerngebiet des Thalamus werden über das laterale Schmerzsystem die gefilterten Informationen an den somatosensorischen Kortex weitergeleitet ( ▶ Abb. 1.8). Als sensorisch- deskriminativer Aspekt der Schmerzempfindung erfolgen Reizdetektion (Was?), Lokalisation (Wo?), Qualitäts- (Welche Art?) und Intensitätsdiskrimination (Wie stark?).
Abb. 1.8 Hirnkarte nach Brodmann, primär somatosensorischer Kortex Area 1–3.
(Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2015)
Gleichzeitig werden über die mittleren Kerngebiete des Thalamus im medialen Schmerzsystem Informationen an den limbischen Kortex weitergegeben (...