Erstes Kapitel
Biographische Nachrichten. Das Zeitalter Schopenhauers. Der erste Abschnitt seiner Jugendgeschichte (1788 – 1805)
I. Biographische Quellen und Nachrichten
Es ist zu verwundern und zu bedauern, dass der Philosoph, von dem wir handeln wollen, keine Bekenntnisse autobiographischer Art hinterlassen hat, da er mehr als irgend ein anderer seiner Geistesgenossen, Rousseau ausgenommen, zu grüblerischen Selbstbetrachtungen über die eigene Person, ihre Bedeutung und Schicksale geneigt und viel damit beschäftigt war. Nach dem Abschluss seiner Jugendperiode hatte er ein Werk solcher Aufzeichnungen angelegt und nach dem erhabenen Beispiel des Marc Aurel »Εἰς ἑαυτόν« genannt, er hat dieselben noch in späteren handschriftlichen Büchern angeführt und auch mündlich auf ihre Wichtigkeit hingewiesen; aber die Schrift, deren Umfang nur dreißig Blätter betragen haben soll, ist auf seinen Wunsch von seinem Testamentsvollstrecker vernichtet worden. (S. unten 9. Kap.)
1. Vier Lebensskizzen rühren von ihm selbst her: das zum Behuf der Promotion im September 1813 und das zum Behuf der Habilitation am letzten Dezember 1819 verfasste »Curriculum vitae«, dann die beiden kurzen Lebensabrisse aus dem April und Mai 1851, von denen der erste für Joh. Eduard Erdmann zur Aufnahme in dessen Geschichtswerk der neuern Philosophie, der andere für Meyers Konversationslexikon geschrieben wurde. Das »Curriculum vitae« von 1819 ist für die Kenntnis der ersten dreißig Lebensjahre des Philosophen die umfänglichste und nächste Quelle.
2. Nach seinem Tod erschien von Wilhelm Gwinner, seinem Testamentsvollstrecker und jüngeren Freunde, der während der letzten sechs Lebensjahre vertraulichen Verkehr mit ihm gepflogen: »Arthur Schopenhauer, aus persönlichem Umgang dargestellt«.107 Auf den Inhalt dieser Schrift gestützt, ergingen sich sehr bald in der Tagesliteratur die ungünstigsten Charakterschilderungen Schopenhauers, worin Männer, die sonst die ausgemachtesten Gegner waren, wie Karl Gutzkow und Julian Schmidt, übereinstimmten.
Um die Eindrücke des Gwinner’schen Charakterbildes zu entkräften und dessen abstoßende Züge als Entstellungen nachzuweisen, vereinigten sich zwei Anhänger und Bewunderer zu einem apologetischen Werk: »Arthur Schopenhauer. Von ihm. Über ihn. Ein Wort der Verteidigung von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlass-Stücke von Julius Frauenstädt.«108
Wir haben es jetzt nicht mit den auf Schopenhauers Charakter und moralischen Wert bezüglichen Fragen und Streitfragen zu tun, sondern lediglich mit dem zur Kenntnis seiner Lebensgeschichte dienlichen Material. Dieses ist in dem oben genannten Werk beträchtlich vermehrt worden, namentlich durch die Veröffentlichung einer großen Zahl Schopenhauer’scher Briefe. Auch hat Frauenstädt aus den »Studien« oder »Erstlingsmanuskripten« des Philosophen, Selbstbetrachtungen während der letzten sechs Jahre seiner Jugendzeit (1812 – 1818), sehr bemerkenswerte und interessante Mitteilungen gemacht.
3. Das Beispiel von Lindner und Frauenstädt hat die nützliche Folge gehabt, dass demselben zwei andere Anhänger und Bewunderer nachgefolgt sind und die in ihren Händen befindlichen Briefe des Meisters herausgegeben haben: David Asher in seiner Schrift: »Schopenhauer. Neues von ihm und über ihn«109, und Adam v. Doß, einer seiner geliebtesten Schüler, der kurz vor seinem Tod die an ihn gerichteten Briefe Schopenhauers durch Karl du Prel hat veröffentlichen lassen.110
4. Zehn Jahre später erschien, von dem Mathematiker Joh. Karl Becker herausgegeben, der »Briefwechsel zwischen Arthur Schopenhauer und Joh. August Becker«, dem Vater des Herausgebers, einem der ersten und der Lehre kundigsten Anhänger des Philosophen, mit dem er bis zuletzt auf freundschaftlichem Fuße verkehrt hat. Der Briefwechsel zählt in der ersten Abteilung 9, in der zweiten 53 Briefe; von jenen hat Schopenhauer 4, von diesen 23 geschrieben; das Thema der ersten Gruppe der Briefe (31. Juli bis 16. Dezember 1844) waren scharf gefasste Fragen und Einwürfe, welche gewisse Kardinalpunkte der Lehre betrafen und bei unserer Beurteilung der letzteren wieder zur Sprache kommen sollen. Als Becker die Korrespondenz begann, war er Rechtsanwalt in Alzey; im Jahre 1850 wurde er Kreisrichter in Mainz und lebte jetzt in der Nähe des Philosophen.111
5. Nach den Publikationen der Lindner, Frauenstädt, Asher und A. v. Doß konnte Gwinner, dem auch der Briefwechsel zwischen Schopenhauer und Becker zu Gebote stand, die zweite Auflage seiner Biographie in einem »umgearbeiteten und vielfach vermehrten« Werke sechzehn Jahre nach der ersten erscheinen lassen, eine umfassende und reichhaltige, durch viele quellenmäßige Nachrichten und Schriftstücke ausgezeichnete Lebensbeschreibung.112
6. Da in der Geschichte Schopenhauers sein Aufenthalt in Weimar und Goethes persönlicher Einfluss von einer gewichtigen und fortwirkenden Bedeutung gewesen sind, so ist der Düntzer’sche Aufsatz: »Goethes Beziehungen zu Johanna Schopenhauer und ihren Kindern« hier zu erwähnen. Derselbe ist sieben Jahre jünger als die neue Auflage der Gwinner’schen Biographie und enthält aus den Briefen, welche die Mutter an den Sohn in den Jahren 1806 und 1807 geschrieben hat, einige interessante Auszüge, welche Goethe betreffen.113
7. Zum Schluss nenne ich die jüngsten, sehr sorgfältigen und dankenswerten Arbeiten, wodurch Eduard Grisebach sowohl in biographischer als auch in bibliographischer Hinsicht das Studium Schopenhauers gefördert hat. Zur ersten Säkularfeier der Geburt des Philosophen ließ er »Edita und Inedita Schopenhaueriana« erscheinen.114 Seinem Vorsatz gemäß, dass keine Zeile, die Schopenhauer geschrieben, ungedruckt bleiben oder inkorrekt gedruckt werden soll, hat er die jüngste Gesamtausgabe der Werke Schopenhauers in sechs Bänden besorgt und am dreißigjährigen Todestag des Philosophen eröffnet. In dem letzten Bande gibt er eine »Chronologische Übersicht von Schopenhauers Leben und Schriften mit sieben Beilagen« (in der zweiten Schopenhauers Briefe an Goethe, neun an der Zahl, vom Januar 1817 bis zum 23. Juni 1818).115 Dazu kommen neuerdings Ludwig Schemanns Sammelwerk »Schopenhauer-Briefe« (1893) und die von Grisebach verfasste Lebensgeschichte Schopenhauers (1897).116
Von den Werken Schopenhauers und deren Ausgaben wird in dem letzten Kapitel dieses Buches näher die Rede sein.
II. Schopenhauers Zeitalter
Ich schreibe die Geschichte des jüngsten und letzten Philosophen der großen Periode, die unmittelbar von Kant ausging und durch die Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781 begründet wurde. Diejenigen Leser, welche meine Geschichte der neuern Philosophie, insbesondere meine Darstellung und Kritik der kantischen Lehre kennen, sind schon über die Aufgabe und Stellung orientiert, die unter den nachkantischen Philosophen Schopenhauer einnimmt.117
Er hatte die dreißig überschritten, als Ende des Jahres 1818 sein Hauptwerk die Presse verließ. In dem Verlaufe eines Menschenalters (1790 – 1820) waren aus der kantischen Philosophie eine Reihe neuer Systeme in verschiedenen Richtungen hervorgegangen; eine dieser Richtungen war in gerader Linie von Reinhold zu Fichte, von Fichte zu Schelling, von Schelling zu Hegel fortgeschritten, in dessen Lehre diese metaphysisch und monistisch gerichtete Philosophie gipfelte. Was man heute Monismus nennt, hieß damals Identitätsphilosophie. In eben dem Jahre, in welchem Schopenhauer sein Hauptwerk zu Ende führte, wurde Hegel von Heidelberg nach Berlin gerufen, woselbst er eine höchst erfolgreiche Lehrtätigkeit bis zu seinem Tod, den 14. November 1831, entfaltet und die Schule gegründet hat, die während der nächsten Jahrzehnte in dem Gebiete der philosophischen Lehre und Literatur einen tonangebenden und herrschenden Einfluss ausüben sollte.
Um Schopenhauers philosophische und schriftstellerische Laufbahn von Beginn bis zum Schluss ihrer Werke durch weltgeschichtliche Grenzpunkte zu bezeichnen, so erstreckt sich dieselbe vom Ende des ersten bis zum Anfang des zweiten französischen Kaiserreichs; dazwischen liegen die Epochen der Restauration, der zweiten und dritten französischen Revolution, welche letztere auch in Deutschland Volksbewegungen und Versuche politischer Umgestaltungen hervorrief. Wir hatten die Mitte des Jahrhunderts erreicht, als die rückläufige Bewegung wieder zur Herrschaft gelangte und jene Neuerungsversuche völlig unterdrückte. Die Reaktion, womit die zweite Hälfte des Jahrhunderts begann, schien bereits die öffentlichen Zustände auf lange Zeit in die alten Geleise zurückgedrängt zu haben, als der Ausbruch und Ausgang des Krimkrieges den Lauf der Dinge oder, wie die heutige Parole lautet, »den Kurs« von Grund auf änderte. Auf die Niederlage Russlands folgte nach einigen Jahren die größere Niederlage Österreichs. König Friedrich Wilhelm IV. starb den 2. Januar 1861. Eine ungeahnte große und gewaltige Zeit hatte mit dem neuen Jahrzehnt begonnen: das Zeitalter Wilhelms I. und die Bismarck’sche Epoche, aus welcher nach drei siegreichen Kriegen das neudeutsche Kaiserreich hervorging, verkündet den 18. Januar 1871 im Schlosse zu Versailles.
Seit dem Beginn der philosophischen und schriftstellerischen Laufbahn Schopenhauers war ein Menschenalter vergangen, er stand vor dem Abschluss der letzteren, und noch hatte die Welt von ihm und seinen Werken so gut wie gar keine Kenntnis genommen, er war so gut wie völlig unbeachtet geblieben, und das Dunkel, welches ihn einhüllte, schien undurchdringlich. Er hatte die sechzig überschritten, als sein Ruhm endlich...