Stalins Lieblingslied, Fritze Bollmann und Freie-Wildbahn-Verse
Geräusche, Klänge und Gesänge außerhalb der Familie …
Aus dem Erdgeschoss unseres Hauses in der Nikolaistraße erklang häufig Geigenspiel. Da wohnte nämlich der erste Geiger des Stendaler Stadttheaters, der den schönen Namen Kratzer trug. Da waren die Meckertiraden von Oma Süß und die Schimpfkanonaden von Frau Kratzer, die manchmal alles übertönten und als großes Drama aufgeführt wurden, doch dann wieder friedlicher Stille Platz machten. Da waren die nicht enden wollenden Traktorengeräusche von der Landmaschinen- und Traktorwerkstatt Schreiber, die die Traktorenmotoren lange probelaufen ließ. Ein Geräusch, an das man sich auch gewöhnen konnte. Und dann wieder wurde so ein Flappern hörbar, wenn ein Auto die Nikolaistraße am Dom vorbei in die Innenstadt fuhr. Da war das Tschilpen der Spatzen, der Buch- und Grünfinken, der Amseln und Stare und schließlich die weithin hörbaren Rufe der Turmfalken vom nahen Stendaler Dom.
Einen singenden Hausgenossen hatte ich mir dann später in einer tagelangen Verfolgungsjagd in den Schrebergärten vor der Wohnung meiner Großeltern eingefangen. Es war ein Star mit einem verwundeten Flügel, den ich mit Mehlwürmern fütterte und der zu meiner großen Freude lange Gesänge anstimmte, sich dabei plusterte und schüttelte und sogar Percussions-Einlagen durch Schnabelklappern in seine Gesänge einflocht. Wenn mein Bruder mit dem Großvater vierhändig Klavier spielte, konnte es vorkommen, dass der Star sich auf den Kerzenhalter am Klavier setzte und stargenau die Melodie des jeweiligen Klavierstücks mittirilierte. Ich nannte den Star Tilo. Er war für mich ein Sinnbild dafür, wie man mit ganzer körperlicher Hingabe bis in die kleinste Feder hinein musizieren konnte. Tilo sang nicht so schön wie eine Schwarzdrossel oder gar eine Nachtigall, war aber an akustisch-musikalischer Vielfältigkeit kaum zu überbieten.
Eher grenzwertig waren dagegen die Grunz- und Quiekgesänge eines Wildschweinfrischlings, der mir beim Ziegenfutterholen über den Weg gelaufen war. Ich habe ihn gejagt und dann in meinen Ziegenfuttersack gesteckt. Ich brachte ihn mit nach Hause und ließ meine Eltern raten, was wohl in dem Sack sei. Sie vermuteten eine Katze, ein Hund, ein Igel. Ich legte den Sack auf den Boden. Das kleine Wildschwein kam aus dem Sack hervor, schaute uns verwundert an, schnupperte in der Luft herum, stakste dann zum Schuhregal, wo die Schuhe meines Vaters standen, schnupperte noch einmal daran, um sich zu vergewissern und – kackte hinein. Später unterhielt es sich dann mit den Hausschweinen. Das war für mich eine wunderbare Gelegenheit, die Schweinesprache zu studieren. Doch eines Tages lag es tot im Stall. Es hatte wohl die Kuhmilch, mit der ich es fütterte, nicht vertragen. Zum Trost schenkten mir meine Eltern eine Tafel West-Schokolade.
Starengesänge und Grunzlaute … – Natürlich haben wir Kinder auch selbst gesungen, und hier komme ich zu dem, was Peter Rühmkorff in seiner Schrift »Über das Volksvermögen« die »Reime und Gesänge der freien Wildbahn« nennt. Zunächst wurde ich besungen, und zwar mit Worten, deren Sinn ich gar nicht verstand. Und zwar nur, weil ich »Fritz« heiße. In einem dieser Sprüche tauchte das mir damals völlig fremde Wort »Selleriesalat« auf. Nach und nach bekam ich mit, dass das was zum Essen war, mit dem ich aber keinerlei Erfahrung hatte. Und als ich es probieren konnte, schmeckte es mir nicht. Trotzdem musste ich mir immer wieder anhören, was psalmodierend zu mir herüberklang:
»Fritzchen freu dich,
morgen gibt’s Selleriesalat!«
Ausführlicher und sogar in Liedform wurden mir immer wieder die Verse von »Fritze Bollmann« vorgesungen, der beim Angeln ins Wasser fällt und um Hilfe schreit. Stendal hat einen kleinen Fluss, die Uchte; eigentlich, wie mir ein alter Stendaler jüngst erzählte, der »Stadtgraben«. Die eigentliche Uchte wurde auf der Höhe der Uferstraße unterirdisch quer durch die Stadt zum Schwanenteich geleitet. Und es gab einen ziemlich großen Stadtsee mit ziemlich vielen Anglern. Die Szenerie von Fritze Bollmann konnte ich mir schon besser vorstellen. Natürlich war die Handlung des Liedes frei erfundene Dichtung; doch 40 Jahre später machte ich eine lange Fußwanderung durch Deutschland und durchquerte auch die Stadt Brandenburg bei Berlin, als ich plötzlich vor einem Gedenkstein stand, der Fritze Bollmann gewidmet war, einem stadtbekannten Barbier und Original, der beim Angeln auf dem Beetzsee ins Wasser fiel und ertrank …
Schließlich wurde mir ein weniger tragischer, aber dafür sehr bekannter Fritz-Vers gerne nachgerufen:
Fischers Fritze fischte frische Fische,
frische Fische fischte Fischers Fritze.
Noch heute klingen diese Verse und Gesänge in mir nach, wenn es um meinen Vornamen geht, wenn mein Name ins Assoziationsspiel kommt.
Andere Reime und Gesänge sind mir in Erinnerung geblieben, weil da auf drastische Weise sexuelle Aufklärungs- bzw. psychische Abhärtungsarbeit geleistet wird:
Banane, Zitrone
an der Ecke steht ein Mann.
Banane, Zitrone
er lockt die Weiber an …
oder
Negeraufstand ist in Kuba,
Schüsse hallen durch die Nacht,
Weiße werden abgeschlachtet
und die Totentrommel kracht.
oder
Es war einmal ein Mann,
der hieß Pu Pam
Pu Pam hieß er
ein’ Pup ließ er.
Wer solche Verse und Gesänge kannte, gerade auch über sichernde Distanzen hinweg, wer sie variieren und umdichten konnte und vor allen Dingen, wer sie schnell und treffsicher gebrauchen konnte, der galt etwas in der jeweiligen Kinderbande … Es war vielleicht eine Reim- und Liedkultur, die noch ganz ohne das Medium der Schrift auskam. Manchmal war das Ganze nicht frei von Gemeinheit, Klischee und Gehässigkeit, doch war es für mich so eine Art poetischer Kindheitsbodensatz, der in meiner späteren literarischen Arbeit, gerade, wenn es um lebendige, vitale Lieder ging, oft fruchtbar werden konnte. Dann meldet sich etwas zu Wort und Klang, was in gehobener Poesie oft übergangen wird. (Gerade die schrägen Klänge sind es ja häufig, die Entwicklung und Wandlung ermöglichen.)
Zur Klang- und Gesangslandschaft meiner Kindheit gehört noch etwas anderes dazu; ich hatte gehört, dass Russen und Deutsche beim Marschieren singen. Marschierende Russen (im DDR-Jargon »Sowjetsoldaten«), die sangen, waren damals keine Seltenheit und für uns Kinder etwas Faszinierendes, was uns neugierig machte – trotz allem, was uns unsere Eltern und Großeltern über die bösen Russen erzählten, den Iwan, die Muffkis, die Watzkis und was es sonst noch an freundlichen Bezeichnungen für die russischen Soldaten gab. Manchmal marschierten wir auch – soweit wir nicht verscheucht wurden – hinter den singenden russischen Soldaten her, die dann so etwas sangen wie »Djelajesch, Djelajesch«, und wir sangen dann auf Deutsch dazu:
»Leberwurst,
Leberwurst,
wir wollen Leberwurst!«
Wieder eine kindliche Form, mit Sprache und Musik umzugehen, ein Lust- und Erfolgsgefühl zu haben, auch wenn es gefährlich werden konnte. Wir wollten unsere eigenen, machtmusikalischen Erfahrungen mit den russischen Soldaten machen, gegen die von den Erwachsenen oft geschürte Russenangst. Dass die Rote Armee im Verein mit den Alliierten die verbrecherische Existenz Nazi-Deutschlands beendet hatte, war eine weitreichende, oft übergangene historische Tatsache. Die reale – aber dann auch wieder gebetsmühlenhafte – Thematisierung der Befreiung vom Hitler-Faschismus führte in der DDR jedoch zu einer fast distanzierten Freundschaftlichkeit, die die Russen zum vorbildlichen »Sowjetmenschen« emporlobte.
Ein weiteres musikalisches Russenerlebnis kam bei uns Kindern hinzu. Es war jeweils ein besonderer Nachmittag. Im Stendaler »Russenviertel« (ein Stadtteil, in dem fast ausschließlich die Villen betuchter Stendaler standen) gab es Lautsprecher, aus denen fast den ganzen Tag heroische sowjetische Propagandamusik und patriotische Ansprachen, wahrscheinlich von Radio Moskau erklangen. (Nicht mal Radios hatten die damals …) Der siegreiche Sound, der aus den Lautsprechern tönte, hatte etwas Scheppernd-Quäkiges, eher eine akustische Zumutung als ein Ohrenschmaus.
Eine ganz andere Musik ertönte, wenn sich im Russenviertel ein Trauerzug formierte, um einen Toten zur letzten Ruhe zu begleiten. Der sogenannte »Russenfriedhof« lag nämlich weit weg, ca. zwei Kilometer von der Stadt entfernt an der Dahlener Allee in einem Kiefernwald. Der Tote war aufgebahrt, und vor der marschierenden Trauergemeinde ging eine Blaskapelle, die eine Musik machte, wohl russische Trauermärsche, die mich und andere Kinder ganz eigen in ihren Bann zog. (Später sagte mir mein Freund Fitzi, auf dem Russenfriedhof lägen viele Soldaten, die sich an billigem Fusel zu Tode getrunken hatten.) Wir liefen damals lange Zeit in gemessenem Abstand neben dem Trauerzug her, den langen, langen Weg bis zum Russenfriedhof, und immer die traurigen Melodien der russischen Blaskapelle in den Ohren. Es war etwas sehr, sehr Trauriges und Tröstliches zugleich in dieser Musik. Und wir waren die ganze Zeit neben dem Trauerzug her in Bewegung und hörten und hörten …
Einmal nahm mich meine Mutter mit in die Stendaler Marienkirche. Dort gastierte der berühmte Thomanerchor. Die Kirchenbänke waren unbequem und ich musste die ganze Zeit stillsitzen. Der Gesang war schön, klang aber für meine Ohren auch etwas künstlich und andressiert. Dieser Eindruck wurde dann durch meine Erlebnisse im Stendaler Domchor bestätigt. Wir mussten als...