1»In die Berge gehen« – das brachte ich lange Zeit in Verbindung mit Knickerbockerhosen und roten Socken. Mit von Fett glänzenden, ungewaschenen Haaren und Schweißrändern unter den Achseln. Und mit in verfilzte Schnurrbärte triefenden Rotznasen.
In die Berge zu gehen, war mir als Kind ein Gräuel. Ich ging trotzdem. Weil ich musste. Denn in Hergiswil, im Kanton Nidwalden, wo ich, am Fuße des Pilatus, aufgewachsen bin, sind sonntägliche Familienspaziergänge immer gleich Wanderungen. Die Berge sind nah. Zu nah, fand ich damals. Heute können sie mir nicht nah genug sein. In Beatenberg, wo ich lebe, sehe ich, wenn ich morgens aus dem Bett steige, Eiger, Mönch und Jungfrau. Abends sind die Gipfel von der untergehenden Sonne in pastellfarbenes Rosa getaucht. Manchmal sind sie besonders schön, weil der Himmel darüber vor lauter Kälte leuchtend blau ist. Und mit blau meine ich dieses spezielle Blau, dieses Blau, das ich in Gletscherspalten finde. Hell ist es, eisig schimmernd, fast durchsichtig. Wenn ich es sehe, dann denke ich an das Wort »rein«. Ja, ein reines Blau. Eines, das kein Künstler je so malen könnte. Weil nichts wirklicher ist als die Wirklichkeit. Fassbar gewordene Natur.
Ich könnte hier auch von Gott sprechen. Ich rede mit ihm. Oft. Ich spüre ihn, sehe ihn. In jedem einzelnen Windhauch, in jedem Eiskristall, in Blumen, die da wachsen, wo es gar kein Wachsen mehr gibt. An Felswänden. Meine Mutter vermittelte mir Religion auf eine ganz besondere Weise. Eines unserer Rituale war das Kreuzeszeichen, das sie mir unzählige Male mit geweihtem Wasser auf die Stirn zeichnete.
Seit wann ich mich zum Mount Everest hingezogen fühlte, weiß ich nicht mehr – nur daran erinnere ich mich: Meine Mutter hat mir – in einem Gedicht – zu meinem zwanzigsten Geburtstag Glück für den Achttausender gewünscht. Dass mein Wunsch einmal in Erfüllung gehen würde, davon konnte ich lange Zeit nur träumen. Als ich eines Tages nicht mehr träumen, sondern meinen Traum in die Tat umsetzen wollte, ging ich auf Sponsorensuche. Und fand einen Geldgeber, der bereit war, die finanziellen Mittel von 35 000 Dollar für mich aufzubringen.
Als ich mich zu meinem Abenteuer Mount Everest aufmachte, gab mir meine Mutter ein Fläschchen Weihwasser mit auf den Weg. Es hat – auf 8700 Metern über dem Meer, in der Todeszone – geholfen zu überleben. Nein, nicht mir. Aber davon später.
Mich hat der Mount Everest verschont, mehr noch, er war gütig zu mir, hat mir zwar alles abverlangt, aber auch alles gegeben. Zwischen meinem Abflug aus der Schweiz am 31. März 2001 und meiner Rückkehr am 4. Juni 2001 liegen nicht nur viele Nächte im Zelt, sondern unzählige bereichernde Erfahrungen, großes Glück, neue Freundschaften und die Gewissheit, dass Mut nichts mit der Abwesenheit von Angst zu tun hat, sondern mit der Fähigkeit, diese zu erkennen, um sie zum eigenen Vorteil nutzen zu können.
Wäre der Mount Everest mit seinen 8850 Metern nicht der höchste Berg der Erde, wäre es dort oben ruhiger. Es lägen keine leeren Sauerstoffflaschen herum und kein Müll. Der Berg hätte seinen Frieden. Und die Sherpas und Yak-Männer hätten keine Arbeit.
Der Mount Everest wird am häufigsten über die Süd- und die Nordroute bestiegen. Die Südroute liegt in Nepal und ist – trotz der Mehrkosten – die beliebteste Variante, um zum Gipfelerfolg zu kommen. Sie birgt jedoch eine große Gefahr: den Khumbu-Gletscher, eine Eiswüste mit sich ständig verschiebenden Spalten und haushohen Eistürmen, die jederzeit zusammenbrechen können. Es sind die Sherpas, die diesen Gletscher überhaupt begehbar machen, da sie Jahr für Jahr neue Wege ins Eis schlagen und durch Fixseile und Leitern ein Vorwärtskommen überhaupt erst ermöglichen.
Die Route im Norden liegt in Tibet, ist ursprünglicher, alpinistischer und interessanterweise nicht so beliebt. Weshalb, das kann ich nur schwer erklären. Zugegeben, sie ist windiger und kälter als die Südroute, aber so eisig kalt ist sie nun auch wieder nicht. Der Wind hingegen ist ein Problem, immer Wind, ständig Wind, das ist sehr Energie raubend.
Die Nordroute birgt weniger Gefahren als die Südroute: keinen bedrohlichen Gletscher, keinen Eisschlag, keine Spalten und weniger Lawinen. Die Lawinengefahr besteht erst ab 8100 Metern und auch dann nur, wenn es viel Neuschnee gegeben hat. Die Route hat – wie könnte es anders sein – auch einen Nachteil: einen langen, flachen Grat. Er beginnt auf 8600 Metern. Um ihn meistern zu können, wird das letzte Biwak auf 8400 Metern errichtet. So hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Links und rechts dieses Grates wird man von einer unendlich scheinenden Tiefe begleitet. Auf der einen Seite bricht die Nordwand 2000 Meter gegen Tibet ab, auf der andern Seite die Ostwand 3000 Meter gegen Nepal. Man geht buchstäblich auf Messers Schneide. Auf den glatten Kalkplatten finden die Steigeisen keinen festen Halt, und man gewinnt kaum an Höhe. Auf 8600 Metern ist das äußerst kräftezehrend.
Meine Entscheidung für die Nordroute hing vor allem damit zusammen, dass ich mich der Expedition des Neuseeländers Russell Brice, der in Chamonix lebt, anschloss. Russell organisiert seine Expeditionen auf den Mount Everest immer von Norden her. Nie von Süden. Warum, weiß ich nicht, ich habe ihn nie danach gefragt. Aber seit ich selbst in Tibet war, kann ich es mir vorstellen. Tibet hat eine fesselnde Magie. Die Kultur des Landes, seine Menschen und seine Religion sind von einer unglaublichen Intensität. Das Land ist 2,5 Millionen Quadratkilometer groß und hat sechs Millionen tibetische Einwohner. Unter ihnen leben 7,5 Millionen Chinesen als Folge der Besetzung Tibets, die im Sommer 1949 durch die chinesische Volksbefreiungsarmee begann. Sie brachte weit über einer Million Tibetern den Tod und führte zur mutwilligen Zerstörung von mehr als 6000 Heiligtümern. Die Tibeter haben sich der Besatzungsmacht nicht gebeugt, haben die chinesischen Werte nicht übernommen, leben ihre Kultur und vor allem ihre Religion, den Buddhismus. Allen Repressionen und Demütigungen zum Trotz träumt das stolze Volk ihn noch immer, den Traum, eines Tages wieder autonom leben zu dürfen.
Es ist vielleicht die Geschichte Tibets, die Russell fasziniert und ihn immer wieder von Norden her an den Berg gehen lässt. Die Sherpas und Yak-Männer, die jedes Jahr für ihn arbeiten, nennt er liebevoll »meine Familie«.
Russell organisiert zum elften Mal eine Expedition zum Mount Everest, hat also eine langjährige Erfahrung, die Gold wert ist. Er ist ein Mensch mit einer Energie, die der von fünf Männern entspricht. Woher er sie nimmt, weiß ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass er seit elf Jahren immer wieder nach Tibet reist, dass er immer wieder an den Fuß dieses gewaltigen Berges, in diese unendliche Ruhe zurückkehrt. Vielleicht ist es das, was ihn so stark macht.
Russell hat eine fixe Idee: Er möchte im Basislager am Fuß des Mount Everest eine Lodge samt Krankenstation bauen. Dieses Projekt ist unter Alpinisten und Naturschützern sehr umstritten, und seit ich die Pläne kenne, bin ich mit ihnen in einem Punkt einverstanden: Eine Lodge würde in diesem Gebiet eine touristische Entwicklung in Gang bringen, die wohl nur schwer zu bremsen wäre, denn die Chinesen träumen, das ist eine traurige Tatsache, vom großen Geld des Massentourismus. Eine Krankenstation hingegen würde helfen, Leben zu retten.
Russell ist 47 Jahre alt und hat Ähnlichkeiten mit einem »lonely wolf«, der in der freien Natur lebt, sich ab und zu gerne im Rudel aufhält, aber auch immer wieder Reißaus nimmt, um alleine durch die Gegend zu streifen. Russell hat die Berge gewählt, er hätte sich aber ebenso für die hohe See entscheiden und ein Seebär werden können. Die Verantwortung, die er sich immer wieder von neuem auf die Schultern lädt, ist für ihn Business. Damit verdient er sein Geld. Bei den elf Expeditionen, die er bisher am Mount Everest leitete, hatte er keinen einzigen Verlust zu beklagen.
Wie jedes Jahr hat er für sein Expeditionsteam die Logistik erledigt, all die nötigen Bewilligungen eingeholt, für professionelle Führer, Sherpas, Yak-Männer, Yaks, Zelte, Essen und für den besten Koch gesorgt. Kurz, er hat für seine Kunden eine Infrastruktur organisiert, die das Leben in dieser Höhe erleichtert.
Auch ich habe von dieser Infrastruktur profitiert. Zusammen mit meinem Kletterkollegen Robert Bösch. Bei einem Treffen mit Russell vor unserer Abreise besprachen wir das Vorgehen am Berg. Robert und ich würden die Hochlager von Russells Expedition benutzen können. Die Sherpas würden uns viele Lasten abnehmen und in die einzelnen Lager tragen. Aber die Entscheidungen am Berg würden Robert und ich autonom fällen. Russell erklärte sich damit einverstanden.
Robert Bösch ist ein sehr guter Alpinist und, wie ich, Bergführer. Wir kennen uns schon lange, haben manche Tour miteinander unternommen. Darüber hinaus ist er ein ausgezeichneter Fotograf, einer, der schon Bilder von mir machte, als mich noch fast niemand kannte. So auch bei einer Besteigung der Eigernordostwand und beim Durchklettern der Lancelot-Route in den Wendenstöcken. Es war nur logisch, dass ich meinen Sponsor darum bat,...