Kirche als Heimat
Intellektuell und frei im Dominikanerorden
Doris Wagner: Nachdem ich mein erstes Buch geschrieben hatte, war es mein ganz großes Anliegen, Leuten auch verständlich zu machen, wie schön Glauben und das Leben in Kirche auch sein können oder – auch wenn das für viele Menschen heute oder Menschen in meinem Alter gar nicht mehr so unbedingt nachvollziehbar sein mag – wie einen Glauben auch tragen kann; wie viel Geborgenheit Religion vermitteln kann, und dass das nicht alles schlecht oder alles absurd ist. Was ich nie erzählt habe und auch jetzt kaum thematisiere: Ich stamme aus einer armen Familie. Ich habe sechs Geschwister, zwei von ihnen sind behindert. Mein Vater hat als Dreher versucht, diese neunköpfige Familie als Alleinverdiener zu ernähren. Und was meine Eltern damals getragen hat, das war der Glaube. Das Gefühl, es ist zwar so hart, aber es ist jemand da, der uns beschützt, auch wenn es hart auf hart kommt, auch wenn das alles ganz schwer sein mag, Gott ist immer noch da. Abends am Tisch zu sitzen und Psalmen beten zu können, wo man auch die Not rauslassen kann oder auch fragen: Mein Gott, wo bist du? Oder auch die Hoffnung, dass Gott am Ende noch da ist – das alles hat ihn so getragen und hat mich als Jugendliche wahnsinnig geprägt. Ich war dann neunzehn, als ich in den Orden eingetreten bin …
Christoph Schönborn: … ich war achtzehn …
Doris Wagner: Ja, das haben wir gemeinsam. Im Orden hat es für mich dann auch so viel Schönes und Tragendes gegeben: das Stundengebet zum Beispiel und natürlich das Gemeinschaftsleben. Dieses Schöne, sei es das Schöne am Ordensleben, sei es das Schöne in der Kirche, das möchte ich auch erhalten und schützen helfen, eben weil ich erlebt habe, dass das Menschen trägt und dass mich das getragen hat.
Ich habe als junge Ordensfrau einerseits dieses ganz große Glück erlebt, aber andererseits von Anfang an kleine Gesten der Demütigung, wo mir Grenzen gesetzt worden sind, empfindliche Grenzen, die ich nicht verstehen konnte. Ich konnte nicht wirklich verstehen, weshalb ich nur die niedrigsten Dienste tun musste, keine Bücher lesen, sondern Kartoffeln schälen sollte; weshalb ich nicht über Persönliches reden durfte, keinen Kontakt zu meinen Eltern haben sollte. Und so konnte es eben so weit kommen, wie es in meinem Fall gekommen ist: Mein erster Impuls, als ich vergewaltigt* worden bin, mein erster Impuls damals war: Das kann ich niemals irgendjemandem erzählen und das darf niemand jemals erfahren, denn sonst würden Menschen an der Kirche zweifeln. Ich hatte als Opfer diesen Impuls und ich glaube, dass viele Opfer diesen Impuls haben, den dann auch Verantwortliche haben, wenn man denen davon erzählt, diesen Impuls: Das Wichtigste ist, dass der Kirche nichts passiert.
Dahinter steckt etwas Grundlegendes: Kirche ist für die Menschen Heimat. Und niemand möchte seine Heimat verlieren. Ich habe erst 2010, als damals Pater Klaus Mertes wegen der Missbrauchsfälle im Canisius-Kolleg in Berlin an die Öffentlichkeit gegangen ist, verstanden: Es lohnt sich nicht, eine Heimat zu erhalten, in der Menschen leiden. Das ist ja ein Zuhause, in dem ich gedemütigt und vergewaltigt werde – und solch ein Zuhause zu erhalten, lohnt sich nicht. Ich glaube, das ist das, worum es jetzt geht und worum es auch in unserem Gespräch gehen wird: Man kann die Heimat Kirche oder die Heimat Glaube nur schützen, wenn man das, was da Schlimmes passiert, das, was Menschen an Leid angetan wird, aus dieser Heimat verbannt. Da führt kein Weg dran vorbei.
Christoph Schönborn: Ich bin 1963 in einen alten Orden eingetreten und nicht in eine neue Gemeinschaft. Die meisten neuen Gemeinschaften entstanden ja erst nach dem Konzil. Mit elf Jahren kam der Gedanke in mir auf, Priester zu werden. Wir hatten einen guten Religionslehrer, der mich sehr beeindruckt hat, ein Priester. Wir lebten in meinem Elternhaus ebenfalls sehr bescheiden, es war die Nachkriegszeit, wir waren Flüchtlinge und lebten nicht mehr das Schlossleben, das meine Eltern noch gekannt hatten (Die Familie Schönborn wurde 1945 aus dem Familienschloss Skalka in der Tschechischen Republik vertrieben, Anm. d. Lektors). Aber es war kein religiöses Elternhaus. Es war nicht kirchenfeindlich, aber ich kann mich nicht erinnern, meinen Vater außer bei meiner Priesterweihe jemals in der Kirche gesehen zu haben. Er war Künstler, hatte Schreckliches im Krieg erlebt, war desertiert aus Überzeugung, ist zu den Engländern übergelaufen und dann später Freimaurer geworden. Ja, mein Vater hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Aber er war ein faszinierender Künstler (Maler, Anm. d. Lektors). Meine Eltern haben sich getrennt, als ich dreizehn war. Das war ein einschneidendes Erlebnis. Ich hatte allerdings bereits mit elf Jahren die Kirche als meine Heimat entdeckt und ich kann mich noch erinnern, wie ich meiner Mutter während der Zeit der Scheidung gesagt habe: »Mein Zuhause ist die Pfarre.« Das war schon ein bisschen Protest, Pubertät. Für mich war die Kirche eine starke Heimat. Und das ist sie im Grunde bis heute geblieben. Ich verdanke der Kirche unendlich viel, das heißt der Kirche mit ihren Menschen und Wirklichkeiten. Und ich verdanke meinem Orden sehr viel. Ich bin damals in einen alten Orden eingetreten – und zwar in einen intellektuellen Orden …
Doris Wagner: Dann hat Ihr Alltag wahrscheinlich ganz anders ausgesehen als meiner damals …
Christoph Schönborn: Das glaube ich auch. Sie erzählen von Leseverboten – bei uns hat es Lesepflicht gegeben! Wir mussten möglichst viel lesen: natürlich Thomas von Aquin, den großen Denker. Aber auch mit der Philosophie und mit der zeitgenössischen Theologie haben wir uns intensiv auseinandergesetzt. Das gehört sozusagen zur Substanz des Ordens. Geschätzt habe ich auch die gemeinsame Lebensform – das war für mich schon klar, als ich mit achtzehn nach der Matura eingetreten bin: Ich wollte in eine Gemeinschaft. Was ich dann in dieser Gemeinschaft erlebt habe, war überhaupt nicht Unterdrückung oder Zwang, sondern eher das Gegenteil. Es kam die Revolution, die 1964 begann. Die Krise, die sich beim Zweiten Vatikanischen Konzil schon abgezeichnet hatte, ist massiv in den Orden eingedrungen: als theologische Krise – alles wurde in Frage gestellt – und dann als Krise der Berufungen. Wir waren damals achtzehn Novizen und durchliefen ein »klassisches« Noviziat: Alles war lateinisch, unendlich viele Gebete, streng von der äußeren Form her – aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich von meinen Oberen beobachtet werde oder dass man meine Briefe kontrolliert. Ich kann heute sagen, dass ich in einen freiheitsliebenden Orden eingetreten bin und Selbstbestimmung ein starkes Moment meiner Erfahrung im Orden war.
Doris Wagner: Wie ist in Ihrem Orden mit Menschen umgegangen worden, die den Orden verlassen haben?
Christoph Schönborn: Erstaunlich unkompliziert. Ich habe mit einigen Mitbrüdern, die ausgetreten sind, geheiratet haben, auch nach ihrer Priesterweihe, bis heute Kontakt. Das, was Sie beschreiben, habe ich, Gott sei Dank, im Dominikanerorden nicht erlebt. Ich glaube, Selbstverantwortung und die Freiheit des Denkens sind in die DNA unseres Ordens eingeschrieben. Deshalb war es auch möglich, Freundschaften zu leben.
Doris Wagner: Sie mussten also nicht regelmäßige Berichte für Ihre Oberen schreiben und Rechenschaft ablegen?
Kardinal Schönborn: Überhaupt nicht.
Doris Wagner: Wurde Ihnen der Beichtvater vorgeschrieben?
Kardinal Schönborn: Überhaupt nicht. Ich habe eine ganz wichtige Erfahrung gemacht, an die ich beim Lesen Ihres Buches über spirituellen Missbrauch sehr denken musste: Ich durfte ab 1968 in Paris in unserem Studienhaus wohnen und studieren, dort lebte damals der berühmte Pater und spätere Kardinal und Konzilstheologe Yves Congar. Ich hatte einen alten Mitbruder, der ein großer Thomas-Kenner war und der mit der Lebendigkeit des Denkens und der Intuition des Thomas von Aquin vertraut war. Diesen Mitbruder habe ich gefragt, ob ich bei ihm in geistlicher Begleitung sein könne. Er hat mir etwas Entscheidendes gesagt: »Ich bin bereit, Sie geistlich zu begleiten, unter einer Bedingung: Sie können jederzeit aufhören mit dieser Begleitung und Sie brauchen mir mit keinem Wort zu sagen, warum. Sie gehen einfach weg. Sie kommen einfach nicht wieder. Diese Freiheit ist für mich die Voraussetzung für die geistliche Begleitung.« Und dann hat er gesagt: »Aber wenn Sie bei mir in geistlicher Begleitung sein wollen, dann kommen Sie jede Woche.« Und so bin ich vier Jahre lang jede Woche bei ihm gewesen und habe unglaublich viel gelernt. Das war ein Mensch von einer ganz großen inneren Freiheit und viel Lebenserfahrung. Da war kein Paternalismus, sondern ein tiefer Respekt vor der Freiheit des anderen. Genau so stelle ich mir geistliche Begleitung vor.
Ja, so habe ich den Orden erlebt und erlebe ihn bis heute. Trotzdem hat mich die Krise dann persönlich in große Spannungen gebracht.
Doris Wagner: Was war das für eine Krise? Wie hat sich die ausgedrückt?
Christoph Schönborn: Das erste war, dass die Fundamente meines jugendlichen Glaubens total zu wackeln begonnen haben, zum Teil eingestürzt sind. Dazu geführt hat die damals noch sehr unkritisch verwendete historisch-kritische Exegese. Später habe ich dann in meinem eigenen Theologiestudium und als Theologieprofessor selber gemerkt: Moment,...