Hans Ulrich Jost
Das Bührle-Paradox: Ausgegrenzt und eingespannt
Geierling – ein Prolog
Sein Name ist Helmut Geierling, ein geschniegelter Herr von kaum dreißig Jahren mit einem »kaiserlich nach oben gesträubten Schnurrbärtchen«, kaufmännischer Direktor eines großen Schweizer Unternehmens, das sich modernisieren und neue Absatzmärkte erobern soll. Geierling, ein enthusiastischer Anhänger der großdeutschen Idee – wir stehen kurz vor dem Ersten Weltkrieg –, sieht in der Verbindung des amerikanischen Kapitalismus und des Deutschen Reiches das Modell der Zukunft. Es gilt, so Geierling, »mächtig zu sein, alles zu zermalmen, was sich einem in den Weg stellt«. Für ihn war »die ganze Welt in einen gewaltigen Geschäftsbetrieb verknäuelt, in eine ungeheure Maschinenhalle gepfercht, wo ein Mechanismus gegen den andern stand und es nur darauf ankam, dem größeren, stärkeren, vollkommeneren anzugehören oder ihn gar zu meistern«. Geierling gelang es, mit nicht ganz sauberen Methoden, das Unternehmen seines Schweizer Arbeitgebers zu unterwandern und sich schließlich als Mitbesitzer einzuschleichen. Am Ende einer Sitzung, bei der diese Neuorganisation des Unternehmens festgeschrieben wurde, stellte er in einer kleinen Rede freudig fest, dass mit diesem Geschäftsumbau »die kleine, aber geschäftstüchtige Schweiz« mit »dem mächtigen Deutschen Reich, als dessen Vertreter er die Ehre habe«, im Kleinen einen Bund geschlossen habe. Geierling sah weit und besprach beispielsweise »die deutsche Kolonialpolitik und ihren Einfluss auf den schweizerischen Warenabsatz«. Seine Gesinnung und das Hohelied der deutschen Kultur propagierte er auch am Biertisch, wo er mit Gesinnungsgenossen zusammen ein Gartenrestaurant mit zackigen Liedern beglückte. »Es braust ein Ruf wie Donnerhall …« schallte über die Gäste, und am Schluss »prallten die Biergläser zusammen wie Schilde in einem mittelalterlichen Gefecht«.
Geierling ist, man dürfte es längst erahnt haben, eine erfundene Person. Es handelt sich in der Tat um einen der Protagonisten des 1921 erschienen Romans Ein Rufer in der Wüste des Zürcher Gymnasiallehrers Jakob Bosshart.1 In vieler Hinsicht handelt es sich hier um einen Schlüsselroman, der viel über die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aspekte der Zürcher Welt vor und nach dem Ersten Weltkrieg aussagt. Der Roman Bossharts, der im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt wurde, gab die gesellschaftliche Ambiance dieser Zeit trefflich wieder. Dazu zählen auch die engen Verbindungen zu Deutschland und zur Elite des wilhelminischen Reiches. Vor dem Weltkrieg, 1912, hatte Zürich den deutschen Kaiser anlässlich seines Schweizer Besuchs mit einem Aufmarsch und einem Jubel begrüßt, der in einer reichsdeutschen Stadt nicht hätte größer sein können. Der in Meilen ansässige Ulrich Wille, Mitglied des exklusiven, von Unternehmern und Bankiers getragenen Reitclubs Zürich und General der Schweizer Armee, zählte auch zu diesen Bewunderern des Deutschen Reiches. Er schrieb am 1. September 1914 in einem Brief an seine aus der Familie von Bismarck stammende Gattin: »Jetzt wird vollendet, was damals [1870] eingeleitet worden ist: Die Suprematie Deutschlands, das heißt deutschen Wesens über die ganze Welt. Mein ganzes Herz ist auf der Seite Deutschlands.«2
Politische Perspektiven
Nach dem Ersten Weltkrieg bekundete noch immer ein Teil der Deutschschweizer Elite, trotz der Niederlage des Deutschen Reiches, viel Sympathie für den großen nördlichen Nachbarn. Insbesondere die Unternehmerschaft, die sich seit dem spektakulären Aufstieg der deutschen Industrie am Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr ins Kielwasser der deutschen Wirtschaft manövriert hatte, sah in der Verbindung mit Deutschland die große Zukunft. Im Versailler Vertrag waren unserem nördlichen Nachbarn erhebliche wirtschaftliche Hürden gesetzt und insbesondere eine erneute militärische Aufrüstung verboten worden. Um dieses Verbot zu umgehen, wurde die Weiterentwicklung von Waffen ins Ausland verlegt. Zu den Firmen, die sich an solchen Geschäften beteiligten, zählte auch die 1924 von der Magdeburger Werkzeug- und Maschinenfabrik übernommene Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon (WO), die nun mit Emil G. Bührle einen neuen Chef erhielt.3 Dank seines finanzkräftigen Schwiegervaters besaß Bührle schon 1929 die Aktienmehrheit der WO, die 1936 gänzlich in seine Hände überging. Die WO entwickelte sich schließlich im Zweiten Weltkrieg nicht nur zum größten Waffenexporteur der Schweiz, sondern auch zu einem wichtigen Instrument der schweizerischen Außenpolitik.
Trotz des erfolgreichen geschäftlichen Aufstiegs blieb Bührle, auch nach seiner Einbürgerung im Jahre 1937, ein Geierling. Er stand einer Gesellschaft gegenüber, in der die größeren Unternehmer, die Schwarzenbach, Sulzer, Schindler und Koechlin, aristokratischen Clans gleich die großbürgerliche Szene beherrschten. Obwohl viele Schweizer Unternehmer der deutschen Oberschicht zugetan waren, betrachtete man die in der Schweiz tätigen Deutschen mit Misstrauen. Zudem waren die einheimischen Unternehmer in nicht immer leicht zugänglichen Kartellen und Wirtschaftsverbänden – etwa im Handels- und Industrieverein, dem politisch einflussreichen Vorort (heute economiesuisse) – organisiert. Bührle konnte deshalb nicht auf einen leichten Zugang zur zürcherischen und schweizerischen Gesellschaft zählen. Er beklagte sich noch 1942 darüber und versuchte, weil er »gewissermaßen noch immer als Ausländer betrachtet« werde, einen Verwaltungsratssitz in der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft zu ergattern. Doch man wies ihn ab.4
Auch das politische Umfeld war eher verworren. Zwar hätte der aus Freisinn, Katholisch-Konservativen und Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute SVP) gebildete Bürgerblock dem ehemaligen Offizier des Deutschen Reiches durchaus zusagen können. Und möglicherweise sympathisierte er sogar mit den sogenannten Erneuerungsbewegungen, das heißt mit den im rechtsradikalen Spektrum agierenden Fronten der 1930er-Jahre. Doch als Leiter einer Maschinenfabrik musste er auch mit der Arbeiterschaft rechnen. Diese wurde zwar, gesamtschweizerisch gesehen, vom Bürgerblock mit Erfolg ausgegrenzt. Im Nationalrat kam die Sozialdemokratische Partei in diesen Jahren nie über dreißig Prozent, und die 1921 noch dynamische Kommunistische Partei schrumpfte und verlor jeden politischen Einfluss. Doch in einigen Städten, so auch in Zürich, hatte die politische Linke eine Mehrheit. Dass es besser war, die linke Arbeiterschaft nicht allzu sehr vor den Kopf zu stoßen, erkannte Bührle in seinem eigenen Betrieb. So konnte etwa im September 1931 ein Streik in seiner Fabrik erst durch die Vermittlung des Präsidenten des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes, Konrad Ilg, beigelegt werden, wobei diese Schlichtung durch den Gewerkschaftsboss sogar zugunsten Bührles ausfiel.
Die damals in der Schweiz vorherrschenden sozialen Spannungen waren in Zürich besonders präsent. Die Gegensätze zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterschaft beherrschten die politische Szene. Die Konflikte spielten sich nicht nur in Wahlen und in den Räten, sondern auch im kulturellen Leben ab. Zudem war Zürich für die rechtsradikalen Bewegungen ein gutes Pflaster. An der Universität entstand eine eigentliche Pflanzschule der, wie man sie euphemistisch nannte, Erneuerungsbewegungen. Im September 1933 kam es anlässlich der Gemeindewahlen sogar zu einem »vaterländischen Block« der bürgerlichen Parteien und der Nationalen Front. Mit gewalttätigen Demonstrationen, beispielsweise gegen das Kabarett »Die Pfeffermühle« von Erika Mann oder gegen Aufführungen des Schauspielhauses, sorgten die Fronten, unterstützt durch die Bauernpartei (heute SVP), für permanente Unruhe. Auch der vom Migros-Chef Gottlieb Duttweiler 1936 gegründete Landesring der Unabhängigen trug das Seine zur Verunsicherung der politischen Szene bei.
Wichtiger als die Zürcher Politik waren die, vor allem im außenpolitischen Bereich, getroffenen Entscheidungen in Bern. Das 1935 erlassene Verbot der Ausfuhr von Waffen nach Abessinien, nach dem Überfall Italiens auf dieses Land, traf Bührle beispielsweise sehr direkt. Er war Generalkonsul Abessiniens und lieferte Waffen in das afrikanische Land. Nach der Anerkennung der italienischen Souveränität über Abessinien teilte der Bundesrat Bührle in einem knappen formellen Schreiben mit, dass seine Funktion als Generalkonsul beendet sei. Die Waffenlieferungen nach Mexiko veranlassten Bern ebenfalls, bei Bührle zu intervenieren. Die Behörden wurden zunehmend misstrauischer, doch gleichzeitig hatten sie alles Interesse daran, die Produktion von Waffen und die Arbeitsplätze zu...