Zeitabschnitt 1844–1903: Privatbahnen für Privatbanken
Bundes- oder Privatbahnen? Alfred Escher setzt sich – vorerst – durch
Die Verkehrsgeschichte zwischen der Eröffnung der ersten Eisenbahn auf Schweizer Boden am 15. Juni 1844 und der Verstaatlichung der Hauptbahnen in den Jahren 1901 bis 1909 ist geprägt von der Expansion und den Krisen von fünf privaten Bahnkonzernen. Sie gruppieren sich um die alten Machtzentren Basel, Zürich, St. Gallen, Bern und Luzern.
Kleinere Bahngesellschaften saugen sie auf oder sie belassen sie als Nebenbahnen. Sie schaffen weitgehende regionale Transportmonopole und übertragen die Anstossfinanzierung und die Krisenfolgen der öffentlichen Hand.
Die Dampflok Limmat in voller Fahrt: Die Rekonstruktion zum 100. Geburtsjahr von 1947 dient der nationalen Eisenbahn-Identität.
Flughafenbahn-Einweihung, H. P. Bärtschi 1980.
Erste Eisenbahnprojekte scheitern am Kantönligeist
Schienenbahnen sind seit dem späten Mittelalter auch in der Schweiz bekannt.1 Um 1800 kommen in England, Frankreich und Russland «Dampfkraftwagen» auf. 1825 weiht George Stephenson mit seiner «Locomotion» zwischen Stockton und Darlington die erste öffentliche Dampfeisenbahn ein. 1829 führt die Liverpool and Manchester Railway nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs ein Wettrennen bei Rainhill durch, das Stephenson mit seiner Dampflok «Rocket» gewinnt.2 20 Jahre später sollte sein Sohn Robert Experte für den Bahnbau in der Schweiz sein. Bereits 1835 drängen Zürcher Unternehmer auf den Bau von Eisenbahnen. Am 11. März 1836 verlangt die kantonale Handelskammer den Zusammenschluss der projektierten Bahnen von Strassburg nach Basel und von Augsburg nach Lindau – natürlich über Zürich. Die Regierung soll mit öffentlichen Geldern eine der wichtigsten Erfindungen der neueren Zeit, die Eisenbahn, fördern, damit die Schweiz nicht zurückbleibe. Private Handelsleute rechnen sich mit ihren Eisenbahninvestitionen hohe Dividenden aus, appellieren aber an den Staat, dass «ohne die thätige Mitwirkung sämmtlicher Cantonsregierungen eine blosse Privatgesellschaft mit den sich entgegenstellenden Hindernissen nie ferotig werden könne».3 In Zürich sind die Liberal-Radikalen seit der Pariser Julirevolution von 1830 an der Macht. Sie vollenden die 1798 begonnene Privatisierung des Grundeigentums und fördern mit den Erlösen die Verkehrs- und Industriefinanzierung: Gemeinden, Kantone und Private verlieren die jährlichen Einnahmen aus Zehntenabgaben und Grundzinsen, erhalten aber die einmaligen Loskaufsummen von den Bauern. Vor allem Kleinbauern müssen sich privat verschulden und sich über Wasser halten mit Landverkäufen, mit Milchwirtschaft anstelle des Ackerbaus und als Rucksackbauern mit Fabrikarbeit. Im schweizerischen Vergleich setzen die Zürcher Liberalen mit dem Ablösungsgesetz von 1831 das kapitalistische Privateigentum besonders radikal durch. Die öffentliche Hand, bisher zu rund der Hälfte von Grundeigentumseinnahmen finanziert, führt neue Steuern ein, unter Schonung der Privatvermögen und der hohen Einkommen. Die neuen Finanzmittel ermöglichen den Ausbau eines Netzes von guten Fahrstrassen. Die allgemeine Schulpflicht kommt, Kantonsschule, Kantonsspital und die Universität werden neu eingerichtet.4
Die Schweiz als weisser Fleck (unten): Verkehrskarte von Mitteleuropa 1847 mit Fahrzeiten für Bahnen und Postkutschen.
Bildarchiv MTV Berlin 1937.
Betreffend den Eisenbahnbau bilden die Behörden wie so oft bei schwierigen Aufgaben eine Kommission. Sie beauftragen den vielseitigen österreichischen Techniker Alois Negrelli, zusammen mit den einheimischen Ingenieuren Sulzberger und Eschmann, die Strecke Bodensee—Zürich—Basel zu begehen, die Baukosten zu schätzen und eine Rentabilitätsrechnung zusammenzustellen. Der Expertenbericht vom 12. Juni 1836 hält fest, die Strecke der Limmat und dem Rhein entlang nach Basel könne günstig gebaut werden und weise wenig Gefälle auf. Für den Bahnbau Richtung Bodensee beginnen die Schwierigkeiten schon bei der Überwindung der Höhendifferenz zwischen Zürich und Oberstrass. Zudem quert die Bahn je nach Linienführung zwischen dem Bodensee und Basel sechs Kantone. Und wenn nicht bald ein einheimisches Kohlenlager ausfindig gemacht werde, müssten die Dampfwagen mit Rohstoff aus dem Elsass oder aus entfernteren Gebieten beheizt werden. Trotzdem verspricht die für den Bahnbau gegründete anonyme Aktiengesellschaft für das Teilstück Zürich—Basel eine Dividende von 12,25 Prozent. Leider zeigen die Zürcher und die benachbarten Aargauer und Thurgauer wenig Interesse: Italienische Investoren übernehmen fast die Hälfte, Deutsche gut einen Viertel. Gleichzeitig lancieren beide nunmehr getrennten Basler Halbkantone ihr Hauensteinprojekt, und die St. Galler möchten unter Auslassung von Zürich eine Ostalpenbahn.
Eisenbahngegner und ihr Delirium furiosum
Zwar ist das Privateigentum heilig, doch seit dem 11. März 1838 gilt im Kanton Zürich das Landenteignungsgesetz «zum Zwecke des öffentlichen Wohls», die Konzession für den Bahnbau kann erteilt werden. Doch nun wächst eine breite Opposition gegen die Liberal-Radikalen. Am Bodensee sind wegen der neuen Dampfschiffe Schiffsleute brotlos geworden. Verelendete Textilheimarbeiter und ihre Zulieferer, die Fergger, haben bereits Ende 1832 in Oberuster jene Satansfabrik niedergebrannt, in der nach Spinnmaschinen auch Webmaschinen eingerichtet worden sind.5 Und nun noch die Eisenbahn! Sie würde die Nahrungsmitteleinfuhr verbilligen und die Bauern ruinieren, den Gemeinden und Kantonen Land-, Geleit-, Weg- und Brückenzölle wegnehmen, allein im Kanton Aargau umgerechnet eine Million Franken. Ein ärztliches Gutachten beweist nach der Eröffnung der Nürnberg—Fürth-Bahn Ende 1835 wissenschaftlich, dass die Ortsveränderung mittels irgendeiner Art von Dampfmaschine die geistige Unruhe, das Delirium furiosum, hervorrufe. Zudem schwärzt das gottlose Feuerross das Korn, macht Pferde störrisch und hält Hühner vom Eierlegen und Kühe vom Milchgeben ab. Und schliesslich hat die Aktienzeichnung gezeigt, dass die Schweiz zum ökonomischen Vasallen fremder Geldtyrannen wird.6
Festliche Eröffnung der französischen Bahn in Basel, links das für die Bahn erweiterte Stadttor.
Stahlstich L’illustration Paris 1844.
Die Basel—Zürich-Eisenbahngesellschaft publiziert in der «Zeitschrift für das gesamte Bauwesen» ab 1837 Pläne für eine Linienführung mit weiten Kurvenradien und geringen Steigungen. Uneinig ist man sich noch über den Standort des Kopfbahnhofs in Zürich. Soll er im Talacker auf Stadtgebiet sein oder ohne Brücke über der Sihl auf Aussersihler Gemeindeboden? Die Bahngesellschaft findet über den berühmten George Stephenson einen Bahnbauingenieur: John Locke leitet mit dem einheimischen Vermesser Johann Wild das Geniekorps. Dieses sieht sich im Kanton Aargau behindert und angegriffen: Nivellierungsarbeiten werden lokal verweigert, bei Klingnau und im ganzen Siggental verschwinden nachts Vermessungspfähle und Signaltafeln.
Am 5. September 1839 kommt es zum «heiligen Kampf für Gott und das Vaterland», ausgerufen von konservativ-kirchlichen Führern. Am Landsturm auf Zürich nehmen 4000 Personen teil, die Hälfte mit Gewehren und Sensen. Beim Münsterhof schiesst das Militär, 15 Menschen sterben, ein liberal-radikaler Politiker flieht in Frauenkleidern, die Regierung löst sich auf.
Der «Züriputsch» bringt wieder die Konservativen an die Macht. John Locke reist nach England zurück. Nach einem vergeblichen Hilferuf an die konservative Regierung liquidiert sich die erste schweizerische Bahngesellschaft Ende 1841 und erstattet die schon einbezahlten Aktienanteile weitgehend zurück. Der Bahninitiator Martin Escher-Hess glaubt weiterhin, das neue Verkehrsmittel fördere die Volkswohlfahrt und die Bildung. Er erwirbt die Baupläne und kann sie dann mit Regierungsbeteiligung einer Interessengemeinschaft verkaufen.
Basel kommt zum ersten Schienenstrang auf Schweizer Boden
Eisenbahnen sind keine Verkehrsträger, die an Regionsgrenzen Halt machen können. Während in der föderalistischen Schweiz die politischen und juristischen Grundlagen für den Bahnbau fehlen, fördert Frankreich das neue Verkehrsmittel zentralistisch. Seit 1832 fahren dort Dampflokomotiven, seit 1839 auch nordwestlich von Basel zwischen der Industriestadt Mulhouse und dem Textilfabrikdorf Thann. Initiantin der Strasbourg—Bâle-Bahn ist die Textilindustriellenfamilie Koechlin. Sie stammt ursprünglich aus der Ostschweiz und spielt in Basel und Mulhouse eine wichtige Rolle, später in der Basler Handelsbank, in der Chemiefabrik Geigy und in Ostfrankreich in der Maschinen- und Lokomotivfabrik SACM, die im...