Zuhause
1996
Das Leben mit Dominik war schwer. Sehr schwer. Er hatte eine Magensonde und musste künstlich ernährt werden, da er das Saugen noch nicht erlernt hatte. Seine Verdauungsorgane arbeiteten auch nicht. Er musste jede Minute an einem Überwachungsmonitor hängen. Sein Herz setzte immer wieder mal aus.
Nachts hatten wir keine ruhige Minute mehr. Regelmäßig piepste der Alarm. Nach einigen Wochen entschlossen wir uns, Dominik in sein Zimmer zu verlegen, in der Hoffnung auf ein paar Minuten mehr Schlaf. Aber es war egal, ich war immer mit einem Ohr im Zimmer meines Sohnes. Schon beim kleinsten Laut sprang ich auf und lief zu ihm rüber.
Zum Glück waren es nie echte Alarme. Diese Geräte hat der Teufel erfunden. Die machen einen völlig fertig, da die Elektroden auf alles reagieren, selbst ein Pups macht schon Alarm.
Das birgt natürlich die Gefahr, dass man Alarme nicht mehr beachtet, nicht mehr ernst nimmt. Die Geräusche werden zum Alltag und sind nur noch Hintergrundlaute. Doch jede Mutter verfügt über ein inneres Warnsystem, das sofort ein Gefühl von Sorge verursacht, sollte es dem Nachwuchs schlecht gehen. Ich lernte, darauf zu hören und verließ mich nur noch auf meine eigenen Körpersignale. Wurde mir mulmig zumute, schaute ich sofort nach Dominik, meist konnte ich sofort die Ursache finden und war dann beruhigt.
Nach circa zwölf Wochen entschlossen wir uns, die Geräte zurückzugeben. Vorher wollte ich noch mit dem Kinderarzt darüber sprechen und seine Meinung dazu hören. Mit ihm hatten wir einen Glückstreffer gelandet. Er ist ein lieber und sehr guter Arzt, auch der Naturheilkunde nicht abgeneigt, und im Vordergrund steht immer sein kleiner Patient. Mit unendlicher Geduld und freundlicher Art widmet er sich den Kindern, und macht die oft unangenehmen Untersuchungen dadurch erträglich.
Nachdem er nun Dominik genauestens untersucht und alles getestet hatte, teilte er uns seine Ansicht mit. Er ermutigte uns, die Geräte einfach ein paar Wochen abzuschalten. Dann würden wir sehen, wie wir damit zurechtkamen, auf unser Gefühl zu hören. Danach könnten wir entscheiden und gegebenenfalls beruhigt die Monitore zurückgeben. Dieser Vorschlag gefiel uns, so konnten wir testen, ob wir der Verantwortung gewachsen waren. Der nächste Vorschlag des Arztes verblüffte und erfreute uns gleichermaßen. Was wir davon hielten, die Magensonde zu entfernen und es mit einem Fläschchen zu versuchen, fragte er uns. Gespannt und aufgeregt lauschte ich seiner Stimme: „Sie müssten nur lernen, die Sonde selbst zu legen, falls Dominik das Fläschchen verweigert. Ich würde Ihnen alles zeigen und bin auch telefonisch für Sie erreichbar, falls es Probleme gibt. Sicher wird es am Anfang für die Mama und Dominik schwer und Ihre Geduld ist gefragt, Frau Plößer, aber ich bin mir sicher, dass Sie damit für sich und Ihren Sohn mehr Lebensqualität erlangen würden.“ Natürlich wollte ich das und auch Walter war aufgeregt über die neue Entwicklung. Sofort wurde alles veranlasst, um die Sonde zu entfernen. Als wüsste Dominik, dass das für ihn gut ist, hielt er ganz still, als ich nun das erste Mal selbst einen Versuch wagte, die Sonde neu einzuführen. Wieder kam mir meine Ausbildung zur Arzthelferin zu Hilfe. Ich schaffte es beim ersten Mal und der Arzt ermutigte mich, es gleich nochmal zu versuchen. Wieder gelang es, nun schon etwas schneller. Der Arzt war zufrieden mit dem Ergebnis und fragte, ob wir uns trauten, gleich jetzt, ohne die Sonde nach Hause zu fahren. Er würde uns die Nahrung für die Nacht und den kommenden Tag mitgeben, so dass wir Zeit hätten, die Spezialnahrung für Dominik zu besorgen. Nichts lieber als das! Ich wurde genau instruiert, wie ich Dominik zu füttern hätte und auch auf eventuelle Probleme, die auftreten könnten, hingewiesen.
Ich traute mir und meinem Sohn alles zu, wir würden das schon schaffen. Die Aussicht auf ein normaleres Leben als Familie machte mich glücklich.
Auf der Heimfahrt bestellten wir in der Apotheke die Spezialmilch und kauften extra Sauger, die uns der Arzt empfohlen hatte. Fläschchen, Destillator und alles, was man so braucht, hatten wir schon zuhause.
Oh je, ich sage dir, das erste Füttern war eine Komödie und ein Drama zugleich. Es dauerte schon ewig, bis Dominik verstand, warum ich mit dem komischen Ding vor seinem Mund herumhantierte. Er kannte es ja nicht. Er hatte seinen Mund bisher ja noch nie zur Nahrungsaufnahme benutzt. Also strich ich immer wieder sanft mit dem Nippel des Saugers um seine Lippen. Langsam wurde er richtig hungrig, auch das kannte er bisher nicht. Die Sonde lieferte ihm ja regelmäßig Essen und füllte seinen kleinen Magen. Bald war er so zornig, dass er nur noch schrie und mit hochrotem Kopf seine Wut kund tat. Alles Zureden half nichts. Er verstand nicht, was da passierte. Als ich schon fast aufgeben wollte, kam mir die Idee, Muttermilch in die Flasche zu tun. Vielleicht würde er diese mit dem Geruchssinn erkennen? Erneut hielt ich ihm das Fläschchen an die Lippen, ließ einen Tropfen in seinen Mund fallen und wartete. Da schaute er mich erstaunt an und begann begierig zu saugen. Sofort verschluckte er sich und hustete heftig. Erschrocken hielt ich ihn hoch und klopfte sanft auf den Rücken. Nein, so ging das nicht. Wieder half mir mein Mutterinstinkt. In fast aufrechter Position hielt ich ihn im Arm und bot ihm erneut die Flasche an. Jetzt ging es schon besser. Allerdings fehlte ihm der Reflex, der es Babys ermöglicht zu trinken und gleichzeitig zu atmen. So war das Trinken ein reines Schauspiel. Schmatzend, gurgelnd und nach Luft schnappend, trank er auf diese Weise 100 Milliliter, dann war er so erschöpft, dass ihm der Kopf zu Seite fiel und er innerhalb von Sekunden eingeschlafen war. Ich war unglaublich stolz auf meinen kleinen Schatz, wusste ich doch, dass dies eine Höchstleistung für ihn war. Sanft legte ich ihn im Wohnzimmer auf das Sofa, so hatte ich meinen Sohn immer im Blickfeld. Ich war völlig geschafft, die erste Flasche für Dominik war das reinste Abenteuer für uns beide. Ich bat Walter, auf unseren Sohn zu achten, da ich nicht wusste, wie viel Luft er geschluckt hatte, und ängstlich war, ob er sich nicht erbrechen musste. Ich brauchte jetzt ein paar Minuten für mich alleine. Viel war an diesem Tag passiert. Und die neuesten Ereignisse versprachen, bei gutem Gelingen, endlich einen Alltag mit mehr Lebensqualität für uns alle. In dieser Nacht allerdings ließen wir die Monitore noch angeschaltet, wir wollten auf Nummer sicher gehen, da wir nicht wussten, wie sich die neue Nahrungsaufnahme auswirken würde. Aber alles lief gut.
Die Sonde brauchten wir nicht mehr, Dominik eignete sich seine ganz besondere Art des Trinkens an. Ich wusste, wie ich ihn am besten dabei unterstützen konnte. Für Außenstehende mag es ein komischer Anblick gewesen sein, uns zu beobachten, wenn mein Sohn seine Flasche trank. Fast stehend, laut schlabbernd und immer wieder nach Luft hechelnd. Nur meine Schwiegermama traute sich zu, ihn zu füttern. Für mich war das sehr hilfreich, da ich nun auch mal ein paar Stunden außer Haus sein konnte und Dominik in guten Händen wusste.
Welche Krankheit Dominik hatte, wussten wir immer noch nicht. Keine Untersuchung hatte ein Ergebnis gebracht, wir und auch die Ärzte waren ratlos. Zwischenzeitlich merkten wir, dass Dominik viele Defizite hatte. Sein Hörvermögen war unzureichend, das Sehvermögen war eingeschränkt. Zu gerne wollte ich wissen, was unserem Liebling fehlte, wie er sich weiter entwickeln würde und auch, welche Unterstützung wir ihm hätten geben können. Doch die Ärzte waren ratlos. Also wurde dafür gesorgt, dass er Krankengymnastik, Bewegungsübungen und andere Fördermaßnahmen bekam. Seine Motorik war stark eingeschränkt, er konnte nicht gezielt nach etwas greifen oder Dinge zu sich holen. Genau genommen sah er mich immer nur mir seinen schönen, braunen Augen an. Oft dachte ich, ich würde darin versinken. Seine Augen waren die eines weisen Menschen, in einem Babykörper. Ich hatte nie das Gefühl, dass er unglücklich wäre oder in irgendeiner Form litt. Dennoch wollten wir noch einen letzten Versuch machen, um hinter das Geheimnis seiner Krankheit zu kommen. Meine Freundin Waltraud, ebenfalls Arzthelferin, ließ ihre Beziehungen spielen und verschaffte uns innerhalb einer Woche einen Termin in einer sehr bekannten und renommierten Kinderklinik. Mein Papi hatte sich angeboten, mich und Dominik zu begleiten. Papi war vernarrt in seinen kleinen Enkel und besuchte uns oft. Er brachte dann Geschenke und kleine Überraschungen für Dominik und hielt ihn stundenlang im Arm. Es war ihm sehr daran gelegen, etwas für ihn zu tun. Außerdem kannte er sich in der Stadt gut aus, was man von mir nicht wirklich behaupten konnte.
Mit wackeligen Beinen und ein bisschen Angst im Herzen wartete ich zusammen mit Papi darauf, von der Ärztin abgeholt zu werden. Dominik lag im Tragekorb und schlief. Das Krankenhaus war riesengroß und wirkte sehr gepflegt. Die Räume strahlten Ruhe aus und alles war auf die kleinen Patienten abgestimmt. „Wie viele schlimme Schicksale sich hier wohl schon...