1. Vorwort zur aktualisierten und stark erweiterten Auflage
Weil die Entwicklungen in der Seelsorge zwischen dem Erscheinen der ersten Auflage (2007) und der dritten Auflage dieses Buches (2014) in allen christlichen Konfessionen rasant vorangeschritten sind, war eine vollständige Überarbeitung und Aktualisierung aller Kapitel unumgänglich.1 Auf folgende eklatante Veränderungen/Erweiterungen sei besonders hingewiesen:
Weil Spiritual Care gegenwärtig die Plausibilität und Zukunftsfähigkeit professioneller christlicher (Krankenhaus/Altenheim/Hospiz) Seelsorge in Frage stellt, ist der Thematik am Ende des Buches ein umfangreiches eigenes Kapitel gewidmet, in dem alle bisherigen Überlegungen zusammenfließen.
Weil hochaktuelle neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse und daraus abgeleitete weltanschauliche Schlussfolgerungen die Existenz einer Seele, die für das christliche Seelsorge-Verständnis von elementarer Bedeutung ist, leugnen, erfolgt eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit prominenten, in der Öffentlichkeit äußerst kontrovers diskutierten neurowissenschaftlichen Positionen/Frontalangriffen.
Weil Seelsorge erst dann glaubwürdig konzipiert und praktiziert werden kann, wenn aus historischen Hypotheken gelernt und begangene Fehler künftig nicht wiederholt werden, ist den Altlasten ein eigenes Kapitel gewidmet.
Weil das von Papst Franziskus 2013 vorgelegte Apostolische Schreiben ‚Evangelii Gaudium‘ christliche Seelsorge nicht nur kirchenintern aufwertet, sondern allen Mut macht, Seelsorge in Treue zur christlichen Tradition innovativ und kreativ anzugehen, wird sich das katholische kirchenamtliche Dokument wie ein Roter Faden durch das gesamte Buch ziehen.
Wenn es gelingt, trotz des erweiterten Buchumfangs (inklusive der neuen Literaturliste) nicht zu langweilen, sondern jedem Leser/jeder Leserin inspirierende Impulse für das eigene Nachdenken zur Verfügung zu stellen, dann hat sich der Aufwand der Überarbeitung zumindest für mich gelohnt.
Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle für die konstruktiven Rückmeldungen, die es mir ermöglicht haben, mein Verständnis/Konzept von Seelsorge in Rückbindung an die seelsorgliche Alltagspraxis voranzutreiben. Rückmeldungen von (alt)katholischen und evangelischen SeelsorgerInnen, mit denen ich vor Ort arbeiten durfte; Verantwortliche in Seelsorge- und Pastoralämtern, die mir die (ermöglichenden und begrenzenden) personellen, strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen ins Gedächtnis riefen; Studierende (der Theologie und Pflegewissenschaft), die mich durch ihre (Rück)Fragen sehr inspiriert haben: KollegInnen, die mit ihrer jeweiligen Fach-Expertise mein Denken kontinuierlich bereichern.
2. Seelsorge, SeelsorgerInnen, seelsorgliche Arbeitsfelder
Von welcher Seelsorge ist in diesem Buch eigentlich die Rede? Für manche mag diese Frage merkwürdig klingen. Angesichts der Tatsache aber, dass ‚Seelsorge’ kein geschützter Begriff ist, weshalb nicht nur esoterische Bewegungen und religiöse Sekten wie Scientology den Seelsorgebegriff für sich reklamieren, sondern auch immer mehr seelsorgliche Lebensberatungspraxen philosophisch-psychologischer Couleur aus dem Boden sprießen, erscheint meine Ausgangsfrage durchaus berechtigt zu sein, denn: „Die Sorge um die Seele ist schon lange kein kirchliches Monopol mehr.“2 Welchen Schluss aber haben wir aus dieser Einsicht zu ziehen? Gilt es, die entstandene Pluralität seelsorglicher Angebote zu beklagen und mit sehnsüchtigem Blick auf vergangene Zeiten entsprechende Re-Monopolisierungsstrategien voranzutreiben? Meines Erachtens würden wir damit weder den gegenwärtigen ‘Zeichen der Zeit’ gerecht werden, noch auf die Präsenz Gottes inmitten unserer Zeit vertrauen. Mit diesem Buch ist deshalb kein romantisierend-restauratives Anliegen verbunden! Und doch ist es ein lautstarkes Plädoyer für die Not-Wendigkeit und Glaub-Würdigkeit kirchlicher Seelsorge! Die Rede ist also von einer Seelsorge, die aus der christlichen Glaubensgemeinschaft und deren Kirchen heraus alltäglich auf der ganzen Welt geschieht. Aufgrund des persönlichen Hintergrundes der Autorin sowie internationaler und interkultureller Differenzen wird jedoch eine Fokussierung auf (alt)katholische und evangelische Seelsorge im deutschsprachigen Raum vorgenommen.
Menschen, die Seelsorge betreiben nennen wir SeelsorgerInnen, wobei folgende Unterscheidungen zu treffen sind:
• Evangelische und katholische TheologInnen sind sich heutzutage darin einig, dass aufgrund des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen ChristInnen dazu aufgerufen sind, einander SeelsorgerInnen zu sein, weshalb Stefan Knobloch schlussfolgert: „Jede einzelne Person im Volk Gottes, wie gemeindedistanziert oder kirchenkritisch sie auch sei, hat nach Maßgabe von GS 22 das Zeug dazu, als Seelsorgesubjekt in Betracht zu kommen.“3 Ohne kirchliche Beauftragung, Amt oder Bezahlung erweisen sich Menschen in ihrer eigenen Familie, beim Friseur oder auch in der Kneipe als SeelsorgerInnen, wenn sie im Alltag anderen Menschen spontan helfend zur Seite stehen oder sich deren Nöte und Freuden einfach nur anhören.4
• Wollen Menschen dagegen gezielt seelsorglich tätig sein, dann besteht die Möglichkeit, sich ehrenamtlich, d.h. ohne Bezahlung, in der Funktion von LaienseelsorgerInnen zu engagieren. Ein Engagement, dem sich hauptsächlich Frauen widmen, die z.B. in Gemeinden, im Krankenhaus, im Hospiz oder auch in der Telefonseelsorge mitarbeiten.5
• Unterziehen sich Menschen dagegen einer theologischen Ausbildung, besteht die Möglichkeit, im Auftrag und zumeist auch bezahlt von Kirchen in amtlicher Funktion als professionelle SeelsorgerInnen tätig zu werden.
Wenn im Folgenden von SeelsorgerInnen die Rede ist, dann sind damit kirchenamtlich autorisierte, durch ihre theologische Aus- und Fortbildung professionalisierte SeelsorgerInnen gemeint.
Frauen und Männer, die in Voll- oder Teilzeit, oftmals in enger Kooperation mit ehrenamtlichen SeelsorgerInnen und in Ergänzung zu alltäglichen SeelsorgerInnen ihren Dienst verrichten.
SeelsorgerInnen, die mit oder ohne Weihestatus tätig sind, weshalb im katholischen Kontext, in dem die Priester- und Diakonenweihe nur Männern vorbehalten ist, nicht geweihten SeelsorgerInnen zentrale Tätigkeitsbereiche von Seelsorge vorenthalten sind. SeelsorgerInnen, die aufgrund unterschiedlicher Ausbildung auch unterschiedlich bezahlt werden, obgleich sie im Praxisalltag oftmals das Gleiche tun:
Pfarrer/Pfarrerin; Pastor/Pastorin; Vikar/Vikarin; Priester; Kaplan; Diakon; Ordensschwester/Ordensbruder; Pastoralreferent/Pastoralreferentin; Gemeindereferent/Gemeindereferentin.
In welchen Arbeitsfeldern sind diese SeelsorgerInnen anzutreffen? Diese Frage lässt sich mit Verweis auf ein kirchengeschichtliches Novum beantworten: Fast 2000 Jahre lang hat sich Seelsorge hauptsächlich in christlichen Pfarreien/Gemeinden abgespielt, weshalb sie auch heute noch als Gemeindeseelsorge/Pfarreiseelsorge bezeichnet wird. Damit soll nicht behauptet werden, dass Seelsorge nur innerhalb kirchlicher Strukturen stattgefunden hat, denn aus der Gemeinde heraus haben sich SeelsorgerInnen schon immer in Einrichtungen wie Krankenhäusern, Altenheimen oder Gefängnissen engagiert. Wieso aber hat sich diese Arbeitsweise besonders in den 60iger und 70iger Jahren des 20. Jahrhunderts verändert? Zum einen, weil in jener Zeit die in Nordamerika boomende Seelsorgebewegung auch in Europa entdeckt worden ist. Die damit einhergehende inhaltlich-strukturelle Experimentierfreudigkeit breitete sich mit etwas Verzögerung auch auf katholischer Seite aus, wobei das Zweite Vatikanische Konzil die hierfür notwendigen Frei-Räume eröffnet hat. In der Folge ist in beiden Konfessionen ein flächendeckendes Netz an seelsorglichen Arbeitsfeldern inmitten säkularer Lebens- und Arbeitskontexte geknüpft worden. Zugeschnitten auf die Bedürfnisse spezifischer Menschengruppen (Jugend, Frauen, Behinderte, Blinde, Arbeiter, Obdachlose, Ausländer…), Systeme (Krankenhaus, Altenheim, Gefängnis, Militär…), Orte (Bahnhof, Flughafen, Autobahn, Hochschule, Betrieb…), Medien (Telefon, Internet…) und Notfallsituationen wurde eine Vielzahl von neuen Seelsorgestellen geschaffen. Das Innovative hierbei war nun aber, dass derartige Stellen in der Regel nicht sozusagen ‘mitbetreut’ wurden von SeelsorgerInnen aus der Gemeinde bzw. pensionierten Priestern/Pfarrern, sondern...