2. Sehnen und Suchen
»Kein Sehnen bleibt unerfüllt. … Das Leben besteht nicht aus Wohlbefinden, sondern aus Suchen und Streben.«
KHALIL GIBRAN
Nach Nelly Sachs »beginnt« alles »mit der Sehnsucht«. Jeder von uns kennt sie wohl in irgendeiner Gestalt. Bilder, Gerüche, Klänge, Bücher, Filme oder Gedichte können Sehnsucht auslösen. Ein 48-jähriger Geisteswissenschaftler (verheiratet, katholisch) schreibt:
Meine Gedanken zum Stichwort ›Sehnsucht‹ niederzuschreiben, fällt mir schwer. Da tun sich in mir sofort Abgründe auf. Sehnsucht ist ein ganz wunder Punkt in meinem Leben. Manchmal reicht ein Lied im Radio oder ein gehörter Satz und meine Sehnsüchte brechen in mir auf wie ein Vulkan. Oft kommen mir dann spontan Tränen in die Augen. Da ist vor allem eine wirklich abgrundtiefe Sehnsucht nach Liebe, Wärme, Geborgenheit und Angenommensein in mir. Woher diese rührt, kann ich nur erahnen, wirklich ergründen werde ich es wohl nie. Vielleicht haben mir meine Eltern, insbesondere meine Mutter, das nötige Quantum an Liebe nicht zukommen lassen. Möglicherweise spielt auch meine Internatsvergangenheit eine Rolle. Jedenfalls steckt diese Sehnsucht so abgrundtief in mir drin, dass sie viele Entscheidungen meines Lebens – ob bewusst oder unbewusst – erheblich beeinflusst hat. Sicherlich hat sie auch dazu beigetragen, dass ich falsche Entscheidungen getroffen habe. Es ist mir bislang nicht geglückt, diese Sehnsucht zu stillen, auch nach 20 Jahren Ehe nicht. Möglicherweise ist ein einzelner Mensch bzw. Partner damit auch überfordert. Ich fürchte insgeheim, ich werde diese Sehnsucht mit ins Grab nehmen. Darunter leide ich sehr. Vielleicht wird es wirklich einmal erst Gott selbst sein, der diese Sehnsucht erfüllt – wer weiß?
Die letzten Sätze dieser Schilderung klingen eher resignativ und zeigen eine Seite der Sehnsucht: Sie »ist eine ›geträumte‹ Lösung für unsere ungelösten Lebensthemen und Probleme und ein bittersüßes Gefühl, da sie von intensiven Wunschvorstellungen begleitet wird, die oft unerreichbar bleiben. Bleiben diese Wunschvorstellungen tatsächlich unerreichbar, nach denen wir uns sehnen, kann Sehnsucht auch sehr wehtun«.8 Dies wusste schon Goethe, als er im »Wilhelm Meister« schrieb: »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!«
Diesen Leidensaspekt der Sehnsucht findet man auch im 32-bändigen »Deutschen Wörterbuch«, begonnen 1838 von den Gebrüdern Grimm und 1961 von anderen Autoren vollendet. Bis heute spricht man dabei vom größten und umfassendsten Wörterbuch der deutschen Sprache. Dort wird das Wort »Sehnsucht« aus dem mittelhochdeutschen Wort »sensuht« hergeleitet, was so viel bedeutet wie »Krankheit des schmerzlichen Verlangens«, was sogar zu einer Art »Siechtum« führen kann. Sie wird als »ein inniges Verlangen nach einer Person, einer Sache, einem Zustand oder einer Zeitspanne, die/den man liebt oder begehrt (angenommen). Sie ist mit dem schmerzhaften Gefühl verbunden, den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können«.9
Das mittelhochdeutsche »suochen« und das althochdeutsche »suohhen« meinen grundsätzlich ein suchendes Nachgehen und Nachspüren, ein »sich Bewegen«, etwas im Blick haben, auf etwas anderes oder jemand anderen bezogen sein.10 Hier zeigt sich schon die tiefere Bedeutung des »Suchens«: Der Suchende ist immer auf etwas außerhalb seiner selbst ausgerichtet. Die Psychologie nennt dies »Selbstranszendenz«, die Theologie »Transzendenz«.
Das Sehnen vor dem Suchen im Wort »Sehn-Sucht« lässt sich über das mittelhochdeutsche »senen« (schmachtend verlangen oder sich grämen) bis auf das althochdeutsche »senén« (kraft-, lustlos sein) zurückverfolgen.11 »Wenn es doch nur anders wäre, als es ist« steht hinter dem Sehnen. Ein starkes gefühlsmäßiges Verlangen mit dem gleichzeitigen Wunsch nach Veränderung, nach baldiger Veränderung drückt das Sehnen aus. Der Romantiker Matthias Claudius formulierte dieses Gefühl sehr ansprechend in folgendem Gedicht:
Dann saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.
Ich werf’ mich auf mein Lager hin
Und liege lange wach
Ich suche es in meinem Sinn
Und sehne mich danach.12
Die Auseinandersetzung mit der je eigenen Sehnsucht hat aber auch eine andere Seite, die eine wichtige Aufgabe erfüllt: Sehnsucht kann dem Menschen dabei helfen, mit seinem unvollkommenen Leben, der eigenen Unfertigkeit, den Verlusten und dem nicht perfekten Leben umzugehen. Gleichzeitig kann sie dem Leben eine Richtung geben und dabei helfen, sich Ziele in den verschiedenen Lebensbereichen und Lebensabschnitten zu setzen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist.
Folgende Zeilen einer 48-jährigen selbstständigen Geschäftsfrau (geschieden, katholisch) können so einen richtigen Zeitpunkt beschreiben, die verstaubte Kiste der Sehnsucht wiederzufinden und zu öffnen:
Lange hatte ich mir schon vorgenommen, den Dachboden zu entrümpeln. Vieles wurde dort abgestellt und einiges liegt dort schon viele Jahrzehnte. Wie ich so aufräume, finde ich einen kleinen Karton. Ich öffne ihn. Ich werde ganz still, denn ich schaue auf Spielsachen, die mir meine Kindheit wieder präsent werden lassen – mit all meinen Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten. Ich spüre meine Unbekümmertheit, meine Freude, meine Neugier (auf das »Erwachsenwerden« und auf »das Leben als Erwachsener«). Eine kleine Krone ist auch dabei. Ich setze sie auf und sehe mich im Spiegel an. Ich spüre, dass ich immer noch die gleiche bin, ich sehe in meinem Gesicht die Spuren des Alters. Ja, mein Alter ist nicht zu übersehen. Bin absolut kein Kind mehr.
Und wie sieht es aus mit meinen Sehnsüchten? Haben die sich verändert? Einige Sehnsüchte meiner Kindheit sind erfüllt worden und das ist heute ein gutes Gefühl. Ich denke an meine beiden Kinder, die ich mir gewünscht habe. Mit meiner Ehe ist es nicht so glücklich gelaufen, wir mussten uns trennen. Meinen Traumberuf habe ich nicht verwirklicht, aber mein heutiger Beruf erfüllt mich und ich arbeite gerne.
Ich habe Freude, Leid, Glück, Trauer, Frieden, Schmerz, Leichtigkeit, Angst, Mut, und Einsamkeit erlebt. Heute verstehe ich diese Zustände. Das Leben verstehen lernen, indem man durch das Leben geht. Es ist Entwicklung.
In mir spüre ich noch immer die tiefe Sehnsucht nach Frieden, Freude und Liebe. Frieden für mich, für meine Familie, meine Freunde … für die ganze Welt. Ein Satz aus der Bibel begleitet mich ebenso seit meiner Kindheit: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«
Ohne Liebe kann es keinen Frieden geben. »… wie dich selbst« … Die gesunde selbstbewusste Selbstliebe ist für mich wichtig geworden: seine eigene Seele wahrzunehmen, sich Raum zu geben, sich Zeit zu nehmen, sich selbst zuzuhören. Und wenn ich dies tue, weiß ich genau, was ich brauche, was ich Neues beginne, was mir gut tut, ich weiß meinen Weg. Somit kann sich wieder Frieden, Freude und Liebe in mir und dadurch auch um mich herum entfalten.
Diese Frau lebt die »Spannung der Sehnsucht«, diesen Zwischenraum zwischen »Schon jetzt und noch nicht«. Dies ist die andere, die produktive Seite der Sehnsucht, die Kraft, diese Spannung und die oft daraus erwachsenden Spannungen auszuhalten, sie nicht abzuschütteln, dagegen anzukämpfen oder sich mit Vorläufigem zufriedenzugeben. Das Leben in Spannung macht echtes Leben aus. Hier nur ein paar Beispiele:
Ebbe und Flut, der Gezeitenwechsel, genauso wie der Wechsel von Tag und Nacht oder der Jahreszeiten bestimmen die Rhythmen allen Lebens.
Unsere Muskeln und Sehnen (interessante Ähnlichkeit mit dem Verb »Sehnen«) zeigen es: Die Abwechslung zwischen Anspannung und Entspannung bringt Bewegung hervor.
Unsere Atmung zeigt es: Der Wechsel zwischen Ein- und Ausatmung bringt Lebensatem in uns und lässt verbrauchte Luft entweichen.
Pfeil und Bogen zeigen es: Ein Pfeil kann nur von einem gespannten Bogen kraftvoll in ein Ziel gelenkt werden.
Die Saiteninstrumente zeugen davon: Nur richtig gespannte und angespannte Saiten einer Geige, eines Cellos oder eines Kontrabasses können durch Streichen oder Zupfen harmonische Töne hervorbringen.
Viele Menschen neigen dazu, diese Spannung nicht ertragen zu können, und geben sich mit Vorläufigem zufrieden, was aber nicht zur inneren Zufriedenheit führen kann. Beliebte innere Haltungen zeigen sich in Formulierungen wie »Eigentlich sollte man …« oder »Man müsste mal wieder …« oder »Schön wäre es, wenn …«. Getan wird es aber sehr selten und somit bleibt der innere seelische Impuls ohne Wirkung, der Betreffende tritt auf der Stelle, begnügt sich mit Ersatzbefriedigungen und begnügt sich doch nicht damit, denn die Sehnsucht schwelt weiter im Untergrund.
Die Dichterin Mascha Kaléko (1907–1975) kleidet dieses »Traurige-immer-im-selben-Trott-Traben« in schöne Worte:
Einmal sollte man
Einmal sollte man seine Siebensachen
Fortrollen aus diesen glatten Gleisen
Man müsste sich aus dem Staube machen
Und früh am Morgen unbekannt verreisen.
Man sollte nicht mehr pünktlich wie bisher
Um acht Uhr zehn den Omnibus besteigen.
Man müsste sich zu Baum und...