Wandlung ist Wachstum
Wandlung ist Wachstum. Das zu erkennen, fällt nicht immer leicht. Zumindest wenn unser Weg der Wandlung kein selbst gewählter ist, mögen wir das nicht gern akzeptieren. Und auch wenn wir den Wandlungsprozess selbst angestoßen haben, kann der Weg schwieriger werden als gedacht.
Ich erinnere mich noch gut, als ich von einem Bekannten zu hören bekam: „Wir reifen an Krisen und sind danach stärker.“ Es war nicht nur so dahin gesagt. Er wusste, wovon er sprach, weil er diesen Reifungsprozess bereits hinter sich hatte. Wer jedoch mitten in Schwierigkeiten steckt und sich kräftemäßig verausgabt hat, dem fällt es mitunter schwer, Krisenzeiten etwas Sinnvolles abzugewinnen. Es kann viele Jahre dauern, bis man die positiven Auswirkungen der erfolgreich gemeisterten Krise zu spüren bekommt. Meist machen sie sich in Form einer größeren Gelassenheit bemerkbar, wenn uns das Leben erneut viel abverlangt. Nichts haut uns mehr so schnell um. Wir erinnern uns, dass wir schon einmal in einer scheinbar ausweglosen Situation eine tragfähige Lösung gefunden haben.
Solange wir leben, werden wir herausgefordert, uns zu verändern. Vielleicht ist für viele Menschen die kritische Zeit in der Lebensmitte im Vergleich zu anderen Übergängen deswegen so schwierig, weil sie die einmalige Chance bietet, das Leben von Grund auf neu zu denken. Diese Gelegenheit haben wir nicht in der Pubertät, weil es uns an vergleichbaren Erfahrungen fehlt. Und nur in begrenztem Umfang bietet sich diese Gelegenheit beim Eintritt in den Ruhestand. Auch dann ist Veränderung weiterhin möglich und die Individuation keineswegs abgeschlossen. Allerdings reduzieren sich die Optionen aufgrund der verbleibenden Lebensspanne oder aber aufgrund körperlicher Beeinträchtigungen. Wer in der Lebensmitte den Drang verspürt, noch einmal etwas Neues anzufangen, kann hingegen auch langfristige Projekte in Angriff nehmen.
Das war einer der Gründe, warum sich Peter Sillem entschloss, den Traum von seiner eigenen Galerie jetzt und nicht erst später zu verwirklichen. Denn würde er sich in fünf oder mehr Jahren überhaupt noch trauen, diesen Schritt zu gehen? Äußere Umstände könnten ihn dann daran hindern – gesundheitliche Beeinträchtigungen zum Beispiel oder die Pflegebedürftigkeit der Eltern. Außerdem würde er eine Weile brauchen, um sich in sein neues Metier einzuarbeiten und um all die Leute kennenzulernen, die in der Kunstszene eine wichtige Rolle spielen. Vor allem aber ging es Peter Sillem darum, als Galerist den Künstlerinnen und Künstlern eine „gemeinsame Wegstrecke“ anbieten zu können – so wie er im Verlag immer langfristige, tragfähige Bindungen zu den AutorInnen angestrebt hatte. Je länger Peter Sillem über all diese Fragen nachsann, umso mehr war er davon überzeugt, dass 2017, das Jahr seines fünfzigsten Geburtstags, genau der richtige Zeitpunkt für die Eröffnung seiner eigenen Galerie sein würde. Ihr Schwerpunkt liegt auf internationaler, zeitgenössischer Fotografie (www.galerie-peter-sillem.com).
Die Resonanz auf diese Entscheidung war durchwegs positiv – auch wenn Verlag und Autoren sehr bedauerten, dass sie auf Sillems geschätzte Mitarbeit nun verzichten mussten. Doch die allseitige Bewunderung für diesen mutigen Schritt war ungleich größer. Niemand kritisierte seinen Entschluss, auch nicht in der Familie. „Meine achtjährige Tochter hat als erstes gefragt, ob sie die Galerie später erben dürfe. Dann hat sie sich mit ihrem Bruder überlegt, wie sie den Sektausschank bei der Eröffnung organisieren wollen. Ich weiß gar nicht, wer ihnen je gesagt hat, dass man bei Vernissagen Sekt trinkt.“
Ein Wandlungsprozess (in der Psychologie werden diese als Übergänge oder Transitionen bezeichnet) ist immer auch ein Selbstwerdungs-Prozess. Wir können uns in der Lebensmitte neu erfinden und unserem Leben dadurch mehr Tiefe und Fülle verleihen. Diesen Wunsch haben auch Männer und Frauen früherer Generationen in ihrer Lebensmitte verspürt, allerdings waren ihre Möglichkeiten viel begrenzter als heutzutage. Der Übergang in die zweite Lebenshälfte ist keine Strafe, sondern eine Einladung, sein weiteres Leben selbst zu gestalten. Diese Chance sollten wir uns nicht entgehen lassen. Schließlich müssen die meisten von uns in der ersten Lebenshälfte mehr oder minder fremdbestimmt agieren.
Außer Neugier und Abenteuerlust ist ein gerüttelt Maß an Widerstandskraft und Flexibilität erforderlich, um sich von widrigen Umständen nicht unterkriegen zu lassen. Wer sich auf einen neuen, unbekannten Weg einlässt, muss sich seiner Ressourcen bewusst sein. Manchmal geht im Laufe des Lebens der Kontakt zu diesen inneren Kraftquellen verloren. Aber es lohnt sich, sie wieder zu entdecken oder neue zu finden.
Andreas Dürr war Leistungsruderer in der ehemaligen DDR. Nach der Wende machte er Karriere in einer Bank, bevor er sich entschied, eine Eventagentur zu gründen (www.starke-teams.com). Er organisiert Teambuilding Events wie Drachenbootrennen, Floßbau, Stadtrallyes, Eisstockschießen und vieles mehr. Auftanken kann er am besten, wenn er sich bewegt – beim Wassersport, Joggen oder im Fitnesscenter. Seit einiger Zeit hat er auch Yoga für sich entdeckt. Die Kombination aus Bewegung und Meditation hilft ihm, den oft stressigen Alltag hinter sich zu lassen und wieder zu sich selbst zu finden.
Sibylle Vollrath begann mit Mitte vierzig noch einmal ganz von vorn. Sie hatte zwei Baustellen zu bedienen – privat und beruflich. In beiden Bereichen war sie schon lange „in hohem Maße unzufrieden“. Ihr Bürojob erfüllte sie nicht. Nach der Schule hatte sie Krankenschwester werden wollen. Eine Tante riet ihr ab. Während der Trennungsphase von ihrem Mann, mit dem sie sechsundzwanzig Jahre lang verheiratet war, holte sie ihren Berufswunsch von damals aus der Versenkung und ließ sich zur Kranken- und Gesundheitspflegerin ausbilden. Eine harte Zeit. Immer schon konnte sie den Kopf am besten frei bekommen, wenn sie draußen in der Natur war, am liebsten beim Joggen und ohne jegliche technische Ablenkung. Doch genau diese Kraftquelle droht zu versiegen, da Sibylle in der Klinik nun so stark eingespannt ist, dass ihr weder Zeit noch Kraft für diesen Ausgleich bleibt.
Unsere Ressourcen können sich verändern und entwickeln. Ihre Grundstruktur bleibt jedoch gleich. Will heißen: Wer immer schon ein Bewegungsmensch war, wird sich auch während der Wandlungsphase der Lebensmitte am besten regenerieren können, wenn er sich sportlich betätigt. Und wer früher seine Kraft aus Kirche und Gebet schöpfte, wird auch im Wandlungsprozess der Lebensmitte auf spirituelle Ressourcen setzen, auch dann, wenn er sich im Laufe des Lebens von Gott und Kirche entfremdet hat.
Der ehemalige Benediktiner-Mönch Anselm Bilgri trat nach seinem fünfzigsten Geburtstag aus dem Orden aus und machte sich als Unternehmensberater selbstständig (https://anselm-bilgri.de). Schon Jahre zuvor teilte er seinem damaligen Abt Odilo Lechner im persönlichen Gespräch mit, dass sich sein Glaube „verändert, geläutert und entwickelt“ habe. „Es könnte sein, dass er dieses Leben im Kloster irgendwann nicht mehr trägt. Dann müsste ich gehen.“ Abt Odilo reagierte gelassen und brachte ein sehr profanes Argument ins Spiel, um seinen Mitbruder zum Bleiben zu bewegen: „Überleg dir das gut. Jetzt bist du der berühmte Pater Anselm, Cellerar von Andechs und Prior. Wenn du weggehst, bist du vielleicht noch drei Monate interessant, aber danach bist du nichts mehr.“ Pater Anselm ging trotzdem, allerdings ein paar Jahre später und nicht nur aufgrund seines verlustig gegangenen Glaubens. Und Abt Odilo sollte nicht ganz recht behalten. Anselm Bilgri blieb nicht nur ein Vierteljahr interessant. Fernab von Stundengebet und Eucharistie verdient er seither in einem säkularen Umfeld sein täglich Brot. Sein Gottesbild hat sich völlig geändert. Geblieben ist ihm aber eine Art „Urvertrauen“, das Gefühl, „irgendwie getragen zu sein“.
Ursprünglich religiöse Ressourcen mutieren in der Lebensmitte häufig zu einer Art Metaspiritualität. Vormals überzeugte Christen entdecken in den Wirren eines Wandlungsprozesses die Weisheit nicht-christlicher Religionen. Manche werfen ihre Anker in der esoterischen Szene aus. Auch eine Kombination aus allem, die so genannte Patchwork-Spiritualität, hilft Männern und Frauen in dieser schwierigen Lebenslage über die Runden. Dass spirituelle Anker in dieser Lebensphase gesucht oder neu entdeckt werden, ist nicht weiter verwunderlich, da Lebensübergänge meistens auch an die Sinnsuche gekoppelt sind.
Auch soziale Ressourcen sind ein starkes Fundament, um die Wachstumsphase in der Lebensmitte besser zu meistern. Dazu gehört ein Kreis von vertrauenswürdigen Menschen, denen man seine Fragen, Ängste und Pläne mitteilen kann, ohne sofort kritisiert zu werden.
Die Beschäftigung mit einem Tier kann ebenfalls eine wertvolle Kraftquelle sein, die uns mit neuer Energie versorgt und erdet. Vor allem mit Hunden und Pferden bewegen wir uns viel in der freien Natur, was den Resilienzfaktor nochmal verstärkt.
Vielfach unterschätzt, aber enorm wichtig, sind auch die persönlichen Ressourcen. Dazu zählen Eigenschaften und Fähigkeiten, die uns zu einem Stehaufmännchen machen. Es gibt Menschen, die immer dann, wenn sie auf Widerstand stoßen, sagen: „Jetzt erst recht.“ Natürlich ist es nicht immer ratsam, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, aber Unnachgiebigkeit führt häufig zum Erfolg. Beharrlichkeit bis hin zum Trotz,...