Das unerwünschte oder ungeliebte Innere Kind – wie es sich entwickelt und wie es heute wirkt
Sie haben nun die unterschiedlichen Konstellationen und die destruktiven Elternbotschaften kennengelernt, in denen sich ein Kind unerwünscht und schließlich ungeliebt oder manchmal einfach nur ungeliebt erlebt. Doch wie entsteht daraus das Innere Kind und wie entwickelt es sich bis heute weiter? Wie entstehen die Eltern als innere Instanz, das sogenannte Eltern-Ich, und welchen Einfluss hat dieses Eltern-Ich auf das Innere Kind und damit auf Ihr eigenes Leben bis heute?
Dabei unterscheiden wir vier Prozesse:
- Entstehen eines Kind-Ichs, oft auch als Inneres Kind bezeichnet, in dem die frühen Erfahrungen gespeichert und zu einem eigenen Kind-Ich-Zustand zusammengefasst sind.
- Reaktion des Kindes in Form eines Lebensskriptes, mit dem das Kind versucht, die destruktiven Elternbotschaften und die damalige schwierige Familienkonstellation zu bewältigen.
- Entstehen eines Eltern-Ichs, in dem die destruktiven Elternbotschaften gespeichert werden, sodass sie bis heute wirksam sind.
- Wirkung des ungewünschten oder ungeliebten Inneren Kindes und des Eltern-Ichs heute im Erwachsenenleben.
Die hier beschriebenen Zustände des Ichs mit Erwachsenen-Ich, Eltern-Ich und Kind-Ich, also dem Inneren Kind, stammen aus dem Persönlichkeitsmodell der Transaktionsanalyse,1 die Eric Berne begründet hat. Ich werde immer wieder auf die sehr hilfreiche Transaktionsanalyse zurückgreifen, ohne Sie mit den theoretischen Grundlagen zu langweilen.
Das Innere Kind entsteht – bleibend unerwünscht oder ungeliebt
Das Innere Kind des unerwünschten und abgelehnten Jungen
Der 65-jährige Patient, der schon als Embryo unerwünscht war, beschreibt seine weitere Lebensgeschichte als Kette von ähnlichen Erfahrungen: Schon im Kindergarten fühlte er sich unwohl und fremd, später in der Schule fand er keine Freunde. Er hatte das Gefühl, dass er nirgends seinen Platz fand und überall überflüssig war. Der Junge entdeckte dann, dass er über Anstrengung und Leistung einerseits und über Anpassung und Nettsein andererseits anerkannt wurde. So konnte er zwar Beziehungen aufbauen. Er war dabei aber immer unsicher, ob er wirklich gewollt und erwünscht war.
Als sich eine Partnerin von ihm im Alter von 20 Jahren trennte, hatte er das Gefühl, er würde weggeschickt und abgetrieben. Er wurde gänzlich unerwartet von einem Gefühl der Vernichtung, das sich auch in Suizidwünschen zeigte, erfasst. Er hatte das Gefühl, dass er keine Existenzberechtigung besaß und nicht leben durfte. Eine psychologische Beratung, die er damals aufsuchte, half ihm zwar durch die Krise. Die tieferen Hintergründe aus seiner Biografie blieben ihm aber verschlossen.
Bei diesem Patienten hat sich das frühe Gefühl des Unerwünscht- und Ungeliebtseins erhalten. Es zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Der Patient erlebt sich in den verschiedenen Altersphasen immer wieder als abgelehnter und unerwünschter Junge. Fragt man ihn nach diesen Erfahrungen, dann erinnert er sich an diesen Jungen und dessen Gefühle. Genau dieses mit Gefühlen und Erfahrungen gezeichnete Bild des Jungen von damals können wir als Kind-Ich oder Inneres Kind dieses Patienten beschreiben.
Zur Vertiefung
Die Entstehung des Inneren Kindes und das Gehirn
Was wir als Embryo und Neugeborenes erlebt haben, geht nicht verloren, sondern wird schon früh in dem erst sich entwickelnden Gehirn und im Körper des Kindes abgespeichert. Etwa ab dem dritten Lebensjahr können wir die frühen Erfahrungen zusätzlich auch als visuelle Erinnerungsbilder festhalten. Ebenso werden unsere kindlichen Bedürfnisse zum Beispiel nach sicherer Bindung, aber auch die Verletzungen dieser Bedürfnisse abgespeichert.
Um diese Erfahrungen bildet sich im Gehirn des Kindes ein neuronales Netzwerk, in dem die Nervenzellen eng miteinander verschaltet sind. Der Kern dieses Netzwerkes sind die unerfüllten und verletzten Bedürfnisse, die Körperreaktionen und die Gefühle des Kindes in der Situation von damals. Dieses neuronale Netzwerk ist tief im Gehirn, im sogenannten limbischen System abgelegt. Hier werden alle emotionalen und körpernahen Erfahrungen verarbeitet und aufbewahrt.
Verlassen wir nun die Sprache der Hirn- und Neurowissenschaft und gehen zu unserem Erleben und damit in die Sphäre der Psychologie und Psychotherapie. Ein um eine massive emotionale Erfahrung in unserer Kindheit gruppiertes neuronales Netzwerk bezeichnen wir hier als Kind-Ich-Zustand oder, noch einmal anders gesagt, als Inneres Kind.
Das Innere Kind bildet in unserer Person eine eigenständige Gestalt, ist also ein eigener Persönlichkeitsteil, den wir auch heute wieder abrufen und erleben können. Das fühlt sich dann so an, als wären wir das 8-jährige Mädchen oder der 10-jährige Junge von damals. Daraus folgt auch, dass es viele verschiedene Innere Kinder in uns gibt. So gibt es bei Ihnen möglicherweise das Innere Kind des ungewollten Embryos, das Innere Kind des abgelehnten Neugeborenen, aber auch das von der Großmutter geliebte Innere Kind.
Wir können diese verschiedenen Kind-Ichs aus verschiedenen Lebensaltern und mit unterschiedlichen Erfahrungen später recht gut voneinander unterscheiden. Meist lässt sich jeder Kind-Ich-Zustand durch ganz spezifische Gefühle und die damit verbundenen Körperreaktionen und Erinnerungen beschreiben. Wenn Sie Ihr Kind aus der Kindergartenzeit mit dem der Schulzeit vergleichen, werden Sie rasch sagen können, welche Erinnerungen und Gefühle in welche Zeit und zu welcher Erfahrung gehören.
Dabei wird für Sie auch erlebbar, dass sich dieser Kind-Ich-Zustand aus der Schulzeit fast genauso anfühlt, wie Sie sich damals als Kind in der Schule erlebt haben. Der Kind-Ich-Zustand von damals bleibt fast unverändert erhalten, weil sich die Erfahrungen tief in das limbische Systems des Gehirns eingebrannt haben. Wie wir gleich sehen werden, verfestigen sich die Erinnerungen zusätzlich durch eine dazukommende Skriptentscheidung des Kindes. So ist der Kind-Ich-Zustand als eine in sich geschlossene Gestalt zu verstehen, die bis ins Erwachsenenalter nicht nur bewahrt wird, sondern sogar plötzlich wieder aktiviert werden kann – und sich nun im Erleben in den Vordergrund schiebt und das Denken und Verhalten heute bestimmt.
Schlüsselfragen
Wollen Sie Ihr Inneres Kind spüren und wiederentdecken, können Sie sich immer wieder folgende Fragen stellen und dabei nach innen spüren:
- Wie alt fühlen Sie sich, wenn Sie heftige oder sich häufig wiederholende Gefühle heute erleben?
- In welche Zeit Ihrer Kindheit führen Sie die intensiven Gefühle und welche dazu passenden Erinnerungen werden wach?
- Wenn Sie an sich als Kind in einem bestimmten Alter denken, welches Bild von diesem Kind taucht vor Ihrem inneren Auge auf?
- Wenn Sie das Kind genauer betrachten, was sehen Sie da? Wie ist das Kind gekleidet, in welcher Haltung steht es da? Welche Frisur trägt es?
- Wenn Sie an das Kind denken, das Sie in einem bestimmten Alter waren, welche Gefühle wollen aufsteigen?
- Wenn Sie Fotografien von sich als Neugeborenes, Kleinkind, Kindergarten- oder Schulkind sehen, welche Körpergefühle steigen auf?
- Wenn Sie Kinder im Fernsehen weinen oder leiden sehen, was spüren Sie in Ihrem Körper und welche Gefühle tauchen auf?
Wir haben im vorangegangenen Kapitel beschrieben, wie sich Kinder in den verschiedenen Konstellationen und mit den dazugehörigen destruktiven Elternbotschaften fühlen. Im Inneren Kind sind diese Gefühle so gespeichert, dass sich das Innere Kind kaum von dem Kind von damals unterscheidet. Was das Kind damals erlebt hat, bleibt in dem jeweiligen Inneren Kind bis heute erhalten. Wenn sich Ihr Inneres Kind meldet, dann ist es genau das Kind von damals.
Schauen wir uns noch einmal genauer an, was der emotionale und körpernahe Kern eines unerwünschten oder ungeliebten Kindes darstellt.
Die bleibende Traumatisierung im Inneren Kind
Wird ein Kind in einer unerwünschten Schwangerschaft, durch Abtreibungsversuche oder auch später durch Ablehnung oder durch massive Abwertungen traumatisiert, bildet sich der Kind-Ich-Zustand eines traumatisierten Kindes. Das Zentrum ist hier die existenzielle Bedrohung, in der sich das Kind als nicht existenzberechtigt erlebt. Es hat als kleines verletzliches Wesen eine Vernichtungs- und Todesnähe erlebt und wurde dadurch traumatisiert. In diesem Inneren Kind bleibt die Traumatisierung auf Dauer erhalten.
Das Kind erlebt die Traumatisierung immer wieder
- im Erleben von Todesgefahr, Todesnähe und drohender Vernichtung,
- im Überfluten mit Gefühlen der Ohnmacht und Verzweiflung,
- im Erstarren des ganzen Körpers, der sich kalt und taub anfühlt,
- im Abspalten des Körper, sodass dieser wie abgeschnitten ist,
- im Wunsch, nicht zu sein oder sich selbst zu vernichten.
Nicht alle ungewollten und ungeliebten Inneren Kinder sind so massiv traumatisiert. Allerdings hinterlassen auch andere Abwertungen oder emotionale Ausbeutung durchaus Verletzungen und Wunden. Zwar sind sie im Unterschied zu einer Traumatisierung begrenzt, aber sie bleiben im Inneren Kind offen und schmerzen immer wieder.
Die bleibenden Verletzungen im Inneren Kind
Wenn ein Kind erlebt, dass es nicht gewollt ist oder als Last gesehen wird,...