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Sein lassen

Heilung im Leben und im Sterben

AutorStephen Levine
VerlagKamphausen Media GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783958833142
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Ein teilnahmsvoller, sanfter und zeitloser Führer für all jene, die nach körperlicher, psychologischer, emotionaler oder spiritueller Heilung suchen. Dieses Werk kann auf vielerlei Art Verwendung finden. Man kann es wie ein Buch lesen, gerade so, als würde man müßig an einem Flussufer sitzen - man kann aber auch hineintauchen, aktiv an ihm teilhaben und in ihm schwimmen wie in einem heilenden Strom.

Stephen Levine war ein erfolgreicher und weltbekannter Poet und Meditationslehrer. Sein besonderes Engagement inspirierte Menschen in besonderen Lebenssituationen. Seine geleiteten Meditationen waren dabei eine wertvolle Unterstützung.

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Leseprobe

KAPITEL 1


Was Heilung bedeutet


Als mich zum ersten Mal eine Krebspatientin fragte: „Soll ich meine Suche nach Heilung aufgeben und mich einfach dem Tod überlassen?“, drehte sich mir der Magen um, und ich bekam weiche Knie. Fast drei Jahre lang hatte für Robin die Heilung ihrer Krebserkrankung im Mittelpunkt gestanden. Sie hatte durch die Anwendung verschiedener Techniken auch eine Besserung erzielt. Aber nach neun Monaten war der Krebs in vollem Umfang zurückgekehrt und zehrte den Körper durch vielfache sekundäre Tumore (Metastasen) im Wirbelsäulenbereich und in den Hauptorganen aus. Sie litt starke Schmerzen. Unfähig, länger als eine oder zwei Minuten ruhig sitzen oder liegen zu können, wußte sie weder ein noch aus. Ihre Frage bohrte sich in meinen Körper und lähmte meinen Verstand. Ich schaute in ihre Augen, und weder aus meinem Wissen noch aus irgendeiner Erfahrung heraus war ich in der Lage, sie zu beantworten.

Zweifellos war dies eine Frage, die nur vom Herzen beantwortet werden konnte. Und mein Herz flüsterte wie aus einem tieferen Wissen heraus: „Eigentlich muß die Frage lauten: Wo können wir Heilung finden?“ Es ist die Frage, die das Leben selbst stellt: „Was ist Vollendung?“ Sie stellt das Niemandsland zwischen Herz und Geist in den Brennpunkt. Wie können wir das, was scheinbar voneinander getrennt ist, zu einer Ganzheit vereinen? Worin besteht das Wesen der Heilung, in der sich alle Dualität auflöst?

Als die Heilung für Robin zum Gegenstand innerer Erforschung wurde und nicht mehr ausschließlich an ihre vorgefaßte Meinung gebunden war, begann sich ihr Schmerz zu verringern. Je tiefer sie diesen Prozeß erkundete und fragte: „Auf welcher Ebene kann man Heilung finden?“, desto geringere Bedeutung maß sie ihrer ursprünglichen Frage bei, die das Leben dem Tod entgegenstellte. Nachdem Robin ihre Selbsterforschung einige Wochen fortgesetzt hatte, äußerte sie den Wunsch nach einem Heilungskreis. Mehrere bekannte Heiler/innen kamen bei ihr zusammen, um einen Kreis um sie zu bilden und alle Energien in sie hineinzuleiten, die auch immer für ihre Gesundung zur Verfügung stehen mochten. Ein intensives Auflegen der Hände wurde vollzogen. Ein paar Freunde, die dem Kreis von außen her zusahen, meinten später, daß die Energien förmlich greifbar gewesen seien. Es bestand in diesem Raum kein Zweifel darüber, daß die „heilenden Kräfte vorhanden waren“.

Eine Woche später entdeckte man auf Robins Kopfhaut und an ihrem Rücken dreißig neue Tumore. Sie sagte zu mir: „Die Heilung hat funktioniert. Ich habe in meinem Herzen nie eine größere Offenheit gespürt, und es scheint, als würde sich die Krankheit ihrer Vollendung nähern.“

In der Tat, die Heilung schien „funktioniert“ zu haben. In den Wochen vor ihrem Tod sprach sie davon, ein Gefühl von Ganzheit zu erfahren, wie sie es nie zuvor erlebt hatte.

Ondrea und ich hatten bereits mehrere Jahre lang mit Schwerkranken gearbeitet, ehe wir das Wesen der Heilung zu erforschen begannen. Während eines Großteils dieser Zeit leiteten wir das Sterbe-Projekt der Hanuman Foundation und unterhielten jahrelang einen kostenlosen, vierundzwanzigstündigen Telefonberatungsdienst für all jene, die mit schwerer Krankheit, Trauer oder Tod konfrontiert waren.

Unsere Erfahrungen mit Schwerkranken waren ein wesentlicher Bestandteil unserer eigenen, innersten Heilung. Ermutigt durch Jahre der psychologischen und spirituellen Praxis wie auch durch eine zunehmende Anerkennung meditativen Dienens wurden wir von dieser Arbeit förmlich angezogen. Sie brach unsere Herzen auf. Sie gab uns neue Hoffnung.

Es war eine schmerzvolle Gnade, den Tod von Kindern mitzuerleben, die uns oft an unsere eigenen Kinder erinnerten - oder die sanfte, pergamentene Hand einer sterbenden Urgroßmutter zu halten, unsere Blicke in diesem großen Moment miteinander verschmelzen zu lassen und teilzuhaben am Hauch ihres letzen Atemzuges, während das Licht sie verließ und entschwand. Oder in einem sommerlichen Garten am Liegestuhl eines jungen Mannes zu sitzen, der vor seinem Tod ein letztes Mal den freien Himmel genießen wollte und im Kreis seiner Kinder und Angehörigen ein letztes Schlückchen Wasser zu sich nahm. Und als dann, wenig später ein kleines Insekt über sein Auge kroch, ohne daß er blinzelte, waren wir tief beglückt, daß er nach Jahren der Schmerzen und Qualen seinen letzten Atemzug so friedlich vollzogen hatte, daß keiner etwas davon gemerkt hatte.

Aber diese außergewöhnlichen gemeinsamen Erfahrungen mit Menschen, die sich an uns gewandt hatten, beschränkten sich nicht etwa auf die Oberflächlichkeit von „Todesvorbereitung Nr. 101“. Jeden einzelnen begleiteten wir bei seiner Selbsterforschung, und jeder einzelne entdeckte seinen eigenen Pfad zum gemeinsamen Ziel. Alle fanden zu einer tieferen Erkenntnis, zu einem tieferen Lebensgefühl. Manche widmeten sich dieser Arbeit der liebevollen, sanften Selbstergründung in einer Weise, als wären sie verirrte Kinder, die im dunklen Wald auf einen Pfad gestoßen sind - tief beglückt darüber, dem Jetzt, dem Leben selbst endlich direkt zu begegnen. Für andere war es ein Kampf, zugleich aber eine große Erlösung von alten Ängsten und Verhaftungen - ein mühsam errungener Durchbruch auf einem Weg in ein neues Leben.

Unsere Arbeit mit Sterbenden hat uns über Jahre hinweg darin bestärkt, für den unmittelbaren Augenblick, in dem sich alles Leben offenbart, völlig offen zu sein, und die optimale Vorbereitung auf den Tod in einer vorbehaltlosen Offenheit für das Leben in all seinen Nuancierungen und Wandlungen zu sehen. Manchen erleichterte diese Offenheit für das Leben zwar nicht den Weg zum Tod, erschloß ihnen aber statt dessen Ebenen der Heilung, die vorher unvorstellbar für sie gewesen waren.

So zeigte es sich, daß eine Vorbereitung auf das Sterben, eine neue Offenheit für das Leben, stets zu einer tieferen Heilung führte. Bei manchen wirkte eine solche Heilung sowohl auf den Körper als auch auf das Herz. Nicht alle, die zum Sterben zu uns kamen, starben tatsächlich. Im Verlauf der Jahre begegneten wir vielen Menschen, die in einem bestimmten Stadium der Öffnung tatsächlich körperlich zu gesunden schienen. Unsere Anteilnahme an der Freude derjenigen, die mit fortgeschrittenen Tumoren zu uns gekommen waren und nun auf ein ganz neues Leben ohne Krebs hoffen konnten, lenkte unsere Aufmerksamkeit mehr und mehr auf diesen Prozeß, auf dieses Phänomen, welches Heilung genannt wird.

Manche, die zu uns kamen, um ihre geistigen Verhaftungen zu erkunden und sich von ihnen zu lösen, erfuhren dabei auch eine körperliche Heilung. Während sie eine bestimmte Herzenswärme in sich erweckten, begegneten sie ihren Schmerzen mehr und mehr mit Bewußtheit und Mitgefühl - eine optimale Strategie für das Leben wie auch für das Sterben, die schon für sich allein eine tiefgreifende Heilung darstellt.

Als Ondrea und ich die Bedeutung der Heilung zu erforschen begannen, weitete sich der Kontext rasch aus. Wenn Heilung das war, was sie zu sein schien, wenn sie in der Auflösung von Beklemmungen, im Ausbalancieren von Energien und in der Schaffung inneren Friedens bestand, dann war sie zweifellos nicht auf den Körper, ja auf die sichtbare Welt beschränkt. Sie mußte die Möglichkeit umfassen, selbst die tiefsten, unsichtbarsten Wunden zu heilen - all die Qualen, die den Tod als einen Ausweg erscheinen lassen.

Eine Therapeutin, die diese Techniken etwa ein Jahr lang bei ihren Patienten angewandt hatte und sie dann auch täglich selbst auszuüben begann, sagte später: „Ich wurde sogar von Wunden geheilt, von denen ich überhaupt nichts wußte. Ich meine, ich hatte sicher keine lebensgefährliche Krankheit wie zum Beispiel Krebs. Aber ich litt unter der lebensgefährlichen Krankheit der Verzweiflung, der Depression, der Wut, der Trunksucht und der Selbstverachtung. Hübsch, was? Aber als ich mich mit diesen Dingen zu konfrontieren begann, anstatt mich aus ihnen herauszutherapieren und sie immer wieder von neuem zu analysieren, da fing ich an, sie richtig zu erforschen. Was für eine Abwechslung, das alles mal richtig kennenzulernen, anstatt immer nur auf der Oberfläche herumzutanzen! Ich kam mir selbst ein ganzes Stück näher dabei. Ich hörte mit dem Trinken auf. Ich besorgte mir einen jungen Hund, das erste Haustier, welches ich mir überhaupt gegönnt habe. Mir ist nicht mehr so bange vor dem, was kommt.“

Bei dem Versuch, unsere Arbeit zu definieren, verdeutlichte sich die Schwierigkeit, Heilung auf eine bestimmte Ebene zu beschränken, mehr und mehr. Wenn Heilung tatsächlich die Integration von Körper und Geist in das Herz beinhaltet, dann haben wir uns seit jeher an ihr orientiert. Heilung ist das Wachstum, nach dem wir alle streben. Heilung tritt ein, wenn wir an unsere Grenzen stoßen, das unerforschte Territorium von Geist und Körper betreten und dann mit einem einzigen Schritt ins Unbekannte hinausschreiten, in den Raum, in dem sich alles Wachstum...

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