Vorwort
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich zum ersten Mal seit meinem eigenen Eintritt ins Leben teil an einer Geburt. Indem ich mit der Mutter atmete, den Kopf des Kindes erscheinen sah und das gesamte Geschehen von Augenblick zu Augenblick miterlebte, wurde es mir möglich, ein Ur-Element in meinem eigenen Wesen zu berühren. Ich lachte und weinte, empfand Angst, teilnahmsvollen Schmerz und tiefe Freude. Ich stand am Tor der Existenz und spürte wie nie zuvor die Verbundenheit meiner menschlichen Natur mit der übrigen Schöpfung, die ihre Zyklen von Sommer und Winter, Werden und Vergehen durchläuft. Jeder Moment war erfüllt von ehrfurchtgebietender Gnade und einer Ahnung des lebendigen Geistes. Es war ein Ritual, in dem ich meine tiefsten Gefühle für die menschliche Gemeinschaft wiederentdeckte.
Doch über die Geburt hinaus ist nun auch der Tod ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Erst in den letzten zehn Jahren ist unter dem Einfluß der bahnbrechenden Arbeit von Cecily Saunders mit ihrer Hospiz-Bewegung in Großbritannien und Elisabeth Kübler-Ross in den Vereinigten Staaten ein sehr viel humaneres Milieu für jene geschaffen worden, die den Sterbeprozeß erleben. Einen weiteren Anstoß erfuhr diese Bewegung durch die wachsende Erkenntnis der Ärzteschaft, daß ihre Technologien der Lebenserhaltung und Intensivpflege hinsichtlich ihres angemessenen Gebrauchs dringend einer tiefergehenden Erforschung bedürfen - einer Erforschung unserer Menschlichkeit. Wenn eine Person, die sich offenkundig dem Tode nähert, in eine sterile Umgebung gebracht wird, die sie von der Familie, den Freunden, Kindern und Liebsten, sowie von ihrer vertrauten Umgebung trennt, dann ist dies eine besonders barbarische Art und Weise, unser Schuldbewußtsein und unsere Furcht vor dem Tod zu tilgen und uns dabei einzubilden, wir hätten mit dem Einsatz der Techniken und sterilen Mechanismen unserer Zeit „alles getan, was wir konnten”.
Die neue Hospiz-Bewegung zielt darauf ab, dem Individuum während des Sterbeprozesses eine freundliche, entlastende und zwanglose Umgebung zur Verfügung zu stellen. Man leistet Hilfestellung bei der Regelung verschiedener Angelegenheiten, steht der trauernden Familie zur Seite und kümmert sich um die täglichen Bedürfnisse des Patienten.
Ihren vielleicht wichtigsten Beitrag leistet die Bewegung jedoch, indem sie alle Beteiligten zunehmend erkennen läßt, daß das Sterben tatsächlich „eine dringliche Angelegenheit” ist. Wie erfrischend wirken diese Impulse, nachdem die Menschen, die dem Tod entgegengehen, in der Vergangenheit von einer regelrechten Verschwörung allgemeiner Todesablehnung umgeben waren!
Doch so bewundernswert diese aufkeimende Bewegung auch sein mag, sie repräsentiert nur die ersten zögernden Schritte in eine Transformation unserer Beziehung zum Sterbeprozeß. Sie sieht den Tod noch immer als „verhängnisvoll” an und betrachtet ihre Tätigkeit als einen Versuch, das Beste aus einer widrigen Situation zu machen. Diese Bewegung wurzelt noch in der Verneinung - zwar nicht in der Verneinung des Todes, aber in der Verneinung unserer eigenen Intuition.
Von der um Objektivität bemühten Wissenschaft erfahren wir, daß wir aus unserem Körper bestehen, einem Produkt der Darwinschen Evolution, das aus einer zufälligen Verkettung molekularer Gase hervorgegangen ist und dessen Wachstum und Zerfall vom genetischen Code der DNS diktiert wird. Folglich ist der Tod das Ende. Doch im kollektiven Unbewußten (so der Jungsche Terminus) der menschlichen Spezies läßt uns ein intuitives Wissen ahnen, daß diese „objektive” Definition nicht die Ganzheit dessen umfaßt, was wir sind. Wir haben uns eingeredet, daß das Leben eher von unserem Intellekt als von unserer Intuition gesteuert werden muß, und daß wir folglich nur das anzuerkennen brauchen, von dem wir wissen, daß wir es wissen. Intuitive Weisheit erfüllt dieses Kriterium jedoch nicht. Sie scheint einem Bereich zu entspringen, der jenseits des rationalen, objektiven Verstandes liegt, und so haben wir weitgehend geleugnet, was sie uns sagt - obwohl doch alle großen Weltreligionen und viele profunde Philosophen in eben jener tieferen Weisheit verwurzelt waren.
In jüngerer Zeit indessen scheinen intuitive Erkenntniswege an Legitimität gewonnen zu haben. So sagte Albert Einstein von der Quelle seiner Inspiration zur Relativitätstheorie: „Zu einem Verständnis dieser fundamentalen Gesetze des Universums gelangte ich nicht durch meinen rationalen Verstand”. Er wurde eines anderen Erkenntnisprozesses gewahr, auf den schon zuvor Philosophen wie William James aufmerksam gemacht hatten, der hinsichtlich des Universums an Realitäten von Erkenntnismethoden sprach, die so lange verborgen bleiben, bis wir sie anerkennen.
Wenn unsere Kultur erst einmal die Intuition zu würdigen beginnt, wird sie dem Zweifel entgegenwirken, der die Intuition normalerweise ihrer Macht beraubt, und unsere Sicht auf die Welt wird sich weitgehend verändern. Unter diesen Veränderungen steht unsere Einstellung zum Tod an erster Stelle. Es gibt einen Aspekt in uns - man könnte ihn „Sein”, „Bewußtsein”, „reinen Geist” oder „Ich” nennen - der hinter allen sichtbaren Phänomenen (dem Körper, den Emotionen, den Sinnen, dem denkenden Verstand) liegt, die in der Matrix von Zeit und Raum erscheinen. Wir ahnen, daß selbst dann, wenn wir im Tod unseren Körper verlassen, dieser tiefere Teil unseres Seins unbeeinflußt bleibt. Mit dieser grundlegenden Veränderung unserer Identität und unseres Selbstverständnisses wird der Tod von einem furchteinflößenden Feind, einer Vernichtung, einem verhängnisvollen Irrtum des Universums umgewandelt in eine weitere Transformation, die wir durchlaufen, ein Abenteuer, das alle anderen Abenteuer übertrifft, eine Öffnung, einen unvorstellbaren Augenblick des Wachstums, einen Schritt auf eine neue Stufe.
Vielleicht entspricht das in etwa dem Gefühl der ersten Weltentdecker, nachdem die Theorie, daß die Erde flach sei und man über ihren Rand stürzen könne, durch das sphärische Konzept unseres Planeten ersetzt worden war. Welchen Mut muß diese Theorie freigesetzt haben, daß sie den Forschungsreisenden erlaubte, furchtlos ins Unbekannte zu fahren!
Die meisten Menschen erleben lediglich ein intuitives „Aufblitzen” oder kurze Momente der Einsicht in die verborgene Natur des Selbst, denen sich fast augenblicklich die Wiederbehauptung der Vorherrschaft unserer gewohnten Denkweisen anschließt. Wenn wir also von unserer umfassenden, intuitiven Weisheit profitieren wollen, müssen wir jene tiefergreifende Art des Erkennens in uns entwickeln. Dies geschieht, indem wir lernen, zuzuhören: Wenn wir zum Beispiel, wie die Quäker sagen, der „stillen, leisen Stimme im Innern” zuhören - wenn wir den Mustern, Gesetzen und Harmonien des Kosmos lauschen, dessen Bestandteil wir sind - wenn wir in der feinen Balance eines ruhigen, meditativen Geistes und eines offenen, liebevollen Herzens zuhören. Dieser Aufgabe müssen wir uns alle widmen, die Lebenden und die Sterbenden, die Heilkundigen und die Patienten. Unser Dienst füreinander muß in eben dieser Arbeit an uns selbst verwurzelt sein. Es ist dieses Streben nach Vertiefung unserer Anerkennung des intuitiven Herz-Geistes, welche die gerade erst dem Tode geöffnete Tür ins Licht führen läßt und nicht in eine noch größere Dunkelheit.
Vor einigen Jahren fragte ich Stephen Levine, ob er das Sterbe-Projekt der Hanuman Foundation leiten wolle. Dieses Projekt zielt darauf ab, einen Kontext für den Sterbeprozeß zu schaffen, dessen zentraler Schwerpunkt in der Arbeit aller Beteiligten an sich selbst liegen soll - seien sie nun Heilende, Helfer, Familien oder die mit dem Tod konfrontierten Personen selbst. Dieses gemeinschaftliche Bemühen hat sich für die Transformierung des Sterbeprozesses in einen Prozeß umfassenden, liebevollen Wachstums als überaus förderlich erwiesen.
Und nun entstand aus Stephens Arbeit in diesem Projekt das Buch WER STIRBT?-WEGE DURCH DEN TOD. Weil es in unserer kollektiven, intuitiven Weisheit gründet, die aus einem achtsamen, ruhigen Geist geschöpft wurde, hebt es sich aus der Überfülle von Büchern heraus, welche die neue Sterbebewegung hervorgebracht hat. Dieses Buch widmet sich den zahlreichen Aspekten des Sterbeprozesses mit erfrischender Einsicht, mit Offenheit und Unbeschwertheit. Es lädt uns ein, den „Tatsachen” klar und ohne Wertung ins Auge zu sehen. Es nimmt dem unglaublichen Melodrama, das „Tod” genannt wird, seine schreckensvolle Macht und ersetzt die Furcht vor ihm durch stilles, einfaches und teilnahmsvolles Verständnis.
Stephen Levine ist Poet, langjähriger Praktiker buddhistischer Meditation und Meditationslehrer. In enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Ondrea dient er voller Hingabe denen, die dem Tod gegenüberstehen. In diesem Buch integriert er die Gebiete seiner Sachkenntnis in einer Form, die zuweilen klassische Proportionen annimmt. Ich würdige dies Bemühen und...