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E-Book

Selbstbestimmt leben

Wege zum Ich

AutorJorge Bucay
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783104028231
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Niemand kann für dich tun, was du für dich selbst tun kannst.« Jorge Bucay Die Autonomie des Einzelnen, seine Begegnung mit der Liebe, seine Auseinandersetzung mit Schmerz und Verlust und die Suche nach Glück, das sind die vier entscheidenden Wege, die zur Erfüllung unseres Daseins führen. ?Selbstbestimmt leben? ist der erste Weg, den ein jeder für sich erobern muss, der eine unabhängige Persönlichkeit entwickeln will. Wie kann ich mich selber wahrnehmen? Wie schaffe ich es, mich von den Wünschen und Projektionen anderer, mit denen ich mein Leben verbringe, frei zu machen. Jorge Bucay erzählt, wie Abhängigkeiten entstehen und wie wir uns von anderen unterscheiden und abgrenzen können. Nur wenn wir uns selbst genug lieben, können wir Autonomie im Zusammenleben mit anderen erlangen.

Jorge Bucay, 1949 in Buenos Aires geboren, ist einer der einflussreichsten Gestalttherapeuten Argentiniens. Mit »Komm, ich erzähl dir eine Geschichte« gelang ihm der internationale Durchbruch als Autor. Bucays Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über zehn Millionen Mal verkauft.

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Leseprobe

1 Die Ausgangssituation


Unterschiedliche Formen der Abhängigkeit

Hamlet Lima Quintana schreibt[1]:

Alles ist eine Frage des Lichts,

das auf die Dinge fällt …

Alles ist eine Frage der Form,

der Konturen,

der Auslassungen und

Unwägbarkeiten.

Alles ist auch eine Frage dessen,

wie die Zeit uns prägt,

wie, was uns umgibt, zu dem macht, was wir sind.

Im Grunde geht es darum, zu wählen,

ob man den Schatten folgt

oder sich damit abfindet, der Verfolgte zu sein.

Ein merkwürdiges »To be or not to be«

in diesem Beinahe-Sein,

in diesem Beinahe-Nichtsein.

Aus den Schatten herausfinden

oder die Schatten beständig werden lassen.

Und sich auf der letzten Etappe des Abgrunds,

wenn wir die anderen befreit haben,

all jene anderen,

daran erinnern,

dass man selbst der Gefangene ist.

Und von nun an …

frei werden.

Um den Begriff der Abhängigkeit zu begreifen, lohnt es sich, uns vorzustellen, dass wir auf manche Weise frei und auf vielerlei Weise Gefangene sind. In diesem »Beinahe-Sein und Beinahe-Nichtsein«, von dem der Dichter spricht, von der Frage auszugehen: Welchen Sinn und welche Bedeutung messen wir der Tatsache bei, dass wir von anderen abhängig sind?

Ich greife hier einen Gedanken wieder auf, für den ich seinerzeit einen eigenen Begriff formte: die Selbstabhängigkeit (= Autodependenz).

Gibt es nicht schon genügend Wörter, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen?

 

Abhängigkeit = Dependenz

Co-Abhängigkeit = Co-Dependenz

Wechselseitige Abhängigkeit = Interdependenz

Un-Abhängigkeit = Independenz

 

Braucht es da noch ein weiteres?

Ich glaube ja.

Das Wort abhängig – dependiente – leitet sich im Spanischen von pendiente – hängend – ab, bezeichnet also etwas, das sich ohne Kontakt zu einem Untergrund in der Luft befindet.

Gleichzeitig bezeichnet es etwas, das unvollständig ist, ohne Abschluss, etwas Unerledigtes. In der maskulinen Form bezeichnet es zudem ein Schmuckstück, einen Anhänger oder Ohrring nämlich. Ist es weiblich, bezeichnet es eine abschüssige Fläche, einen Abhang, der durchaus schwierig zu erklimmen und gefährlich sein kann.

Bei all diesen Bedeutungen und Ableitungen ist es nicht verwunderlich, dass das Wort Abhängigkeit in uns Bilder hervorruft, die wir zu seiner Erklärung verwenden:

Abhängig ist jemand, der sich an einen anderen hängt, der quasi ohne Bodenhaftung in der Luft schwebt, wie ein Schmuckstück, ein Anhänger oder Anhängsel dieses anderen. Jemand, der am Abhang, am Abgrund steht, ewig unvollkommen, ewig unvollständig.

 

Es war einmal ein Mann, der litt an der absurden Angst, sich in der Menge zu verlieren. Alles begann an einem Abend, als er noch sehr jung war. Es war auf einem Maskenball. Jemand hatte ein Foto gemacht, auf dem alle Gäste in einer Reihe standen. Aber als er es betrachtete, konnte er sich nicht finden. Er hatte sich für ein Piratenkostüm mit Augenklappe und Kopftuch entschieden, aber viele andere waren in einer ähnlichen Verkleidung gekommen. Er hatte die Wangen rot angemalt und sich ein Schnurrbärtchen aufgemalt, aber es gab noch mehr Kostümierte mit roten Bäckchen und Schnurrbärten. Er hatte sich prächtig amüsiert auf dem Fest, aber auf dem Foto sahen alle sehr vergnügt aus. Schließlich fiel ihm wieder ein, dass er den Arm um ein blondes Mädchen gelegt hatte, als das Foto gemacht wurde; also versuchte er diesen Anhaltspunkt auf dem Foto auszumachen. Jedoch vergeblich: Mehr als die Hälfte der Frauen war blond, und nicht wenige zeigten sich Arm in Arm mit einem Piraten.

Dem Mann machte dieses Erlebnis sehr zu schaffen. In der Folge ging er jahrelang nirgendwo mehr hin, aus Angst, sich erneut zu verlieren.

Aber eines Tages fand er eine Lösung: Ganz gleich zu welchem Anlass, von nun an würde er stets braune Kleidung tragen. Braunes Hemd, braune Hose, braunes Sakko, braune Strümpfe, braune Schuhe. »Wenn dann jemand ein Foto macht, weiß ich immer, dass ich der Mann in Braun bin«, sagte er sich.

Im Laufe der Zeit hatte unser Protagonist Hunderte von Gelegenheiten, seine Schläue bestätigt zu sehen: Wenn er sich neben anderen Passanten in den Schaufenstern der großen Geschäfte spiegelte, beruhigte er sich immer wieder mit dem Satz: »Ich bin der Mann in Braun.«

Im darauffolgenden Winter schenkten ihm Freunde einen Wellnesstag. Der Mann war begeistert; er war noch nie in einem solchen Bad gewesen und hatte von Freunden schon viel über die Vorzüge von Wechselbädern, finnischer Sauna und Dampfbad gehört.

Im Bad angekommen, reichte man ihm zwei Handtücher und forderte ihn auf, in einer Kabine die Kleider abzulegen. Der Mann zog die Jacke aus, die Hose, den Pullover, das Hemd, Schuhe und Strümpfe … Als er auch die Unterhose ablegen wollte, fiel sein Blick in den Spiegel, und er erstarrte. »Wenn ich das letzte Kleidungsstück ausziehe, bin ich ein Nackter unter Nackten«, dachte er. »Und wenn ich mich verliere? Wie soll ich mich wiederfinden ohne diesen Hinweis, der mir so gute Dienste geleistet hat?«

Eine gute Viertelstunde saß er in Unterhosen in der Kabine und überlegte, ob er wieder gehen sollte … Dann fiel ihm ein, dass er vielleicht ein Identitätsmerkmal bei sich behalten konnte, wenn er schon nicht angezogen bleiben konnte. Ganz vorsichtig zupfte er einen Faden aus seinem Pullover und band ihn sich um den rechten großen Zeh. »Falls ich mich verliere, weiß ich: Der mit dem braunen Faden um den Zeh bin ich«, sagte er sich.

Nun beruhigt, genoss er den heißen Dampf in der Sauna und schwamm ein paar Bahnen. Dabei bemerkte er nicht, dass sich der Wollfaden im Wasser von seinem Zeh löste und auf der Oberfläche trieb. Als ein anderer Schwimmer den Faden im Wasser entdeckte, sagte er zu seinem Freund: »So ein Zufall! Das ist genau die Farbe, die ich meiner Frau immer beschreibe, damit sie mir einen Schal strickt. Ich nehme den Faden mit, dann kann sie Wolle in der gleichen Farbe kaufen.« Damit fischte er den Faden aus dem Wasser, und als er merkte, dass er nichts hatte, worin er ihn aufbewahren konnte, kam er auf die Idee, ihn sich um den rechten großen Zeh zu binden.

Inzwischen hatte der Held dieser Geschichte alle Angebote genutzt und begab sich wieder in die Kabine, um sich anzuziehen. Er ging guter Dinge hinein, aber als er sich abgetrocknet hatte und einen Blick in den Spiegel warf, stellte er entsetzt fest, dass er völlig nackt und der Faden an seinem Zeh nicht mehr da war. »Ich habe mich verloren«, sagte er zitternd und stürzte hinaus, um den braunen Faden zu suchen, der ihm seine Identität gab. Nachdem er eine Weile aufmerksam den Boden abgesucht hatte, fiel sein Blick auf den Fuß des anderen Mannes, der den Wollfaden um seinen Zeh gebunden hatte. Schüchtern ging er zu ihm und fragte: »Entschuldigen Sie. Ich weiß, wer Sie sind. Können Sie mir sagen, wer ich bin?«

 

Es muss nicht so weit gehen, dass wir auf andere angewiesen sind, damit sie uns sagen, wer wir sind. Aber wenn wir unseren eigenen Augen nicht trauen und uns nur durch die Augen der anderen sehen, sind wir nahe dran. Abhängig zu sein bedeutet, mich freiwillig einem anderen auszuliefern, damit er mich führt und leitet und mein Verhalten nach seinem Willen lenkt, nicht nach meinem. Abhängigkeit ist für mich immer etwas Dunkles und Krankhaftes, eine Haltung, die, und mag sie durch noch so viele Argumente gerechtfertigt sein, letztendlich zwangsläufig Trottel hervorbringt.

Das spanische imbécil=Trottel haben wir von den Griechen entlehnt (im: mit, báculo: Stock), die damit jene bezeichneten, die sich stets auf andere stützen, die auf andere angewiesen sind, damit sie gehen können.

Ich spreche hier nicht von Menschen, die sich in einer vorübergehenden Krise befinden, von Versehrten und Kranken, Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung, unreifen Kindern und Jugendlichen. Sie sind mit Sicherheit von anderen abhängig, und daran ist nichts Schlechtes oder Schlimmeres, denn sie haben einfach nicht die Fähigkeit und die Möglichkeiten, es nicht zu sein.

Gesunde Erwachsene jedoch, die sich weiterhin dafür entscheiden, von anderen abhängig zu sein, werden mit der Zeit zu Trotteln. Viele von ihnen wurden schon zur Abhängigkeit erzogen, denn es gibt Eltern, die ihre Kinder zur Freiheit erziehen, und es gibt Eltern, die ihre Kinder dumm halten.

Es gibt Eltern, die ihre Kinder dazu ermuntern, eigene Entscheidungen zu treffen, und ihnen mit zunehmendem Alter die Verantwortung für ihr Leben übertragen, und es gibt Eltern, die am liebsten immer in der Nähe sind, »um zu helfen«, »für alle Fälle«, »weil er oder sie (mit zweiundvierzig Jahren!) so gutgläubig ist«, und »wozu haben wir das ganze Geld verdient, wenn nicht, um unseren Kindern unter die Arme zu greifen?«

Diese Eltern werden irgendwann sterben, und dann werden diese Kinder versuchen, uns als Krückstock zu benutzen.

Ich kann Abhängigkeit nicht gutheißen, weil ich die Dummheit nicht gutheißen möchte.

Fernando...

Blick ins Buch

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