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E-Book

In Afrika: Reise in die Zukunft

AutorAlex Perry
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783104006680
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
»Afrika entwickelt sich unaufhaltsam. Letzten Endes wird es sich befreien.« Alex Perry Wir wissen alles darüber, wie die Menschen in Afrika sterben, aber nichts darüber, wie sie heute leben. Das ändert Alex Perry, der als Auslandskorrespondent des »Time Magazine« fast ein Jahrzehnt durch den großen Kontinent reiste und ein Afrika erlebte, das sich in einer Phase geradezu wütender Selbstbehauptung befindet. Er sprach mit Unternehmern, Warlords, Entwicklungshelfern, Wissenschaftlern, Drogenschmugglern, Präsidenten, mit Menschen aus allen Bereichen der afrikanischen Gesellschaft. Ein ebenso eindringlicher wie facettenreicher Blick auf einen modernen und sich im Aufbruch befindenden Kontinent - literarische, hervorragend recherchierte und ganz und gar verblüffende Geschichten aus dem neuen Afrika. Mit einem aktuellen Nachwort für die Taschenbuchausgabe.

Alex Perry ist ein vielfach ausgezeichneter Auslandskorrespondent, über ein Jahrzehnt berichtete er als Büroleiter des »Time Magazine« aus Afrika, inzwischen schreibt er für »Newsweek«. Geboren in den USA und aufgewachsen in England, arbeitete er über fünfzehn Jahre in Asien und Afrika, berichtete aus mehr als hundert Ländern und von mehr als dreißig Kriegen. In Simbabwe kam er für mehrere Tage ins Gefängnis; seine Recherchen über die Enthauptungen durch Boko Haram wurden vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Beweismittel herangezogen.

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Leseprobe

Erster Teil Ein falsches Verständnis von Afrika


Eins Somalia


Die Natur bringt Dürren hervor, aber nur der Mensch produziert Hungersnöte, und im Juli 2011 ließ eine kleine Gruppe von Frauen und Männern es zu, dass die seit 60 Jahren schlimmste Dürre in Südsomalia nahezu drei Millionen Menschen einer Hungersnot aussetzte.

Ihren Höhepunkt erreichte die Katastrophe in der Hauptstadt Mogadischu. Nach zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg lag die Stadt bereits in Trümmern und beherbergte Zehntausende von Flüchtlingen. Als innerhalb weniger Wochen mehrere Millionen Menschen aus den ländlichen Regionen flohen, wurde Mogadischu von Hunderttausenden weiteren Flüchtlingen überschwemmt. Im Juli waren bereits mindestens eine halbe Million Menschen dort eingetroffen. Jeden Tag starben mehrere hundert der Neuankömmlinge an Hunger. Schon bald konkurrierten Lebende und Tote um den verbliebenen Platz. Auf alten Friedhöfen, auf denen nun wieder frische Gräber zu finden waren, zogen Familien ein. Mütter, die zu den Gräbern ihrer erst am Tag zuvor beerdigten Kinder zurückkehrten, mussten feststellen, dass dort über Nacht ein Flüchtlingslager entstanden war. Auf dem Höhepunkt der Not hungerten 2,8 Millionen Menschen, zwei Drittel der Bevölkerung Südsomalias. Neun Monate später war nahezu ein Zehntel von ihnen gestorben, meist Säuglinge, Kinder und Alte, die der Hunger als Erste dahinrafft.

Gemeinsam mit Dominic Nahr, einem 28 Jahre alten Schweizer Fotografen, mit dem ich oft zusammenarbeite, flog ich von Nairobi nach Mogadischu. Die Maschine folgte der Küste am nordöstlichen Rand des Kontinents, die Strände hatten im Morgenlicht die Farbe von Butter, das Meer war leer bis auf die Kielwasserspur eines Piratenbootes hier oder dort. Nach der Landung nahe dem Meer erwartete uns Bashir am Fuß der Gangway und leitete uns in einer einzigen raschen Bewegung durch die Kontrolle der Einwanderungsbehörde und des Zolls, das Flughafengebäude und hinein in einen seiner Pick-ups. Schon wenige Minuten später näherten wir uns dem Banadir Hospital, einem der wenigen noch funktionsfähigen Krankenhäuser der Stadt. Am Haupteingang wurden wir von einem erschöpft wirkenden Krankenpfleger in einem schmutzigen weißen Kittel angehalten, der sich sehr bemühte, uns den Zutritt zu verwehren, schließlich aber aufgab. Wir folgten ihm durch eine Tür in einen riesigen Krankensaal. Der Raum, ursprünglich nur ein Flur, war erfüllt von dem warmen, nach feuchtem Heu riechenden Gestank der Ruhr. Fünfzig Betten standen dort sauber aufgereiht. Daneben Menschen. Zunächst waren wir, abgelenkt von den Fliegen, verwundert über das erstaunlich gesunde Aussehen der Leute, bis uns klar wurde, dass wir nah an die Betten herantreten mussten, um die Kranken zu sehen. Die meisten waren so abgemagert und zusammengeschrumpft, dass ein neben dem Bett stehender Verwandter oder auch nur eine Falte in den Bettlaken sie vollständig verdecken konnten.

Khalima Adan war 38 Jahre alt. Sie trug eine braune Abaya und darunter ein Seidenkleid – Weiß, Schwarz und Grau, mit fuchsienfarbenen Flecken –, das ihr früher einmal gepasst haben mochte, nun aber wie ein Betttuch an ihr herabhing. Sie beugte sich über ihren siebenjährigen Sohn Umar und fächelte ihm mit einem Stück Karton Luft zu. »Wir kommen aus Kutubaray«, sagte sie (einer Stadt 240 Kilometer südwestlich von Mogadischu). »Da gab es nichts zu essen. Der Fußmarsch hat zehn Tage gedauert, vor zwölf Tagen sind wir angekommen. Ich habe sechs Kinder. Ich hatte neun, aber drei sind gestorben: ein zweijähriges und ein dreijähriges unterwegs und mein neunjähriger Junge an Masern nach unserer Ankunft.«

Ich fragte sie, ob ihr Mann sich um die übrigen fünf Kinder kümmere. Sie schüttelte den Kopf. »Sein Bauch ist unterwegs angeschwollen«, erwiderte sie. »Er konnte nicht mehr sprechen. Dann konnte er nicht mehr laufen. Wir mussten ihn zurücklassen.«

Später in den Lagern sollte ich Berichte über einen biblischen Exodus aus dem Süden hören, über Schlangen Zehntausender von Menschen, die massenhaft ihre Heimat verließen. Die meisten hatten nur ein paar Flaschen Wasser und Blätter zum Essen bei sich. Wer zu schwach war, um weiterzulaufen, blieb liegen, wo er zu Boden gesunken war, und wurde schon bald von Geiern und Hyänen gefressen. Ein fünfzigjähriger Mann, der zwei Wochen gelaufen war, berichtete mir von sieben Leuten, die sich gleich neben der Straße »einfach hinsetzten und starben«. Ein sechzigjähriger Bauer erzählte, er sei Hunderte von Kilometern gelaufen und habe dabei seine sterbenden Kinder abwechselnd auf den Schultern getragen. »Wenn ich merkte, dass sie tot waren, nahm ich sie herunter und begrub sie gleich dort am Weg.« Zwei Jungen und drei Mädchen hatte er so verloren.

Mogadischu brachte Khalima neue Sorgen. All ihre noch lebenden Verwandten durchstreiften die Stadt auf der Suche nach einem Begräbnisplatz für Umar, sagte sie, aber die Chancen standen sehr schlecht. Ein Arzt, der gerade hereinschaute, meinte, es gebe kein Stück freien Boden mehr. »Die Flüchtlinge haben sich sogar auf dem Krankenhausfriedhof niedergelassen«, sagte er. »Wir mussten alle Tore schließen, um sie daran zu hindern, das Krankenhaus zu besetzen. Jetzt klettern sie über die Mauern.«

Die neuen Beschränkungen hatten zur Folge, dass Khalima ihre fünf Kinder vor dem Tor zurücklassen musste. Einen Augenblick lang standen wir schweigend da, in der Hitze schwitzend und wankend. Der Arzt befürchtete, von den Hungernden und Obdachlosen überrannt zu werden. Khalima hatte Angst, ihre Kinder in der fremden Stadt allein zu lassen, in der Krieg und Hunger herrschten. Ich fragte mich, welche Zukunft Mogadischu wohl hatte. Wie konnte eine über Gebeinen errichtete Stadt jemals von ihrer Vergangenheit genesen? Unbeholfen fragte ich Khalima, wie sie sich fühle. Sie antwortete nicht, und da ich glaubte, sie hätte mich nicht gehört, begann ich meine Frage zu wiederholen. Aber sie unterbrach mich.

»Ich fühle keine Trauer«, sagte sie. Einen Augenblick lang war sie ganz ruhig. »So viele Menschen sterben. Ich weiß nicht, wo wir alle leben sollen. Ich versuche gerade, eine Grabstelle zu finden.«

Umar starb, während Khalima noch sprach. Er hatte sich eine Zeitlang nicht mehr bewegt, und als Khalima mit unseren Fragen kämpfte, sah eine Krankenschwester nach dem Jungen und wandte sich dann an einen Pfleger. Khalima verstummte. Der Pfleger griff nach einem gelb- und orangefarben gestreiften Betttuch am Fußende des Betts und zog es über Umars Leichnam. Ich blickte Khalima an, und es stimmte: Sie zeigte keine Trauer.

Der Pfleger nahm Umars Körper auf. Khalima, Dominic und ich folgten den beiden die Treppe hinunter und hinaus auf das Krankenhausgelände. In einer Ecke befand sich ein kleiner, weiß getünchter Bau, die Mauern übersät von Granatsplittereinschlägen, die Fenster vom Gewehrfeuer zu leeren Höhlen gemeißelt. Darinnen eine große Marmorplatte und zwei Plastikeimer mit Wasser. Der Pfleger legte Umar vorsichtig auf die Steinplatte; dann begann er, ihn gemeinsam mit einem anderen Mann zu waschen. Systematisch hoben sie das Laken an einer Stelle, befeuchteten den Körper, rieben ihn ab und bedeckten ihn wieder. Die Wäsche war gründlich. Wenn das Laken irgendwo knitterte, zogen sie es mit einer sanften Bewegung wieder glatt. Mit der Zeit wurde das dünne Tuch nass und transparent, so dass die Umrisse des Jungen darunter sichtbar wurden: zwei knochendürre Füße am Ende zweier Vogelbeinchen, eine Taille so dick wie mein Unterarm, ein Torso von der Größe meiner Handfläche, Arme, so dünn wie zwei meiner Finger, und all das unterhalb eines kugelrunden Kopfs, ähnlich den Beinen eines Schemels. Wie war es möglich, dass es dafür in dieser Stadt keinen Platz gab?

Ich floh nach draußen, um etwas Luft zu schnappen. In der Ferne hörte ich Gewehrfeuer. Bashirs Männer hatten einen Kreis um die kleine Totenhalle gebildet. Von jenseits der Krankenhausmauer hörte ich Kinder Verse aus dem Koran rezitieren – eine Flüchtlingsschule, nahm ich an.

Ich hörte noch ein anderes Geräusch, ein monotones Brummen von oben. Ich schaute hinauf und legte die Hand über meine Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen. Einer von Bashirs Leuten sah mich und kam zu mir herüber. Er schulterte sein Gewehr, legte den Arm um meine Schulter und zeigte in einer Wolkenlücke am Himmel auf einen winzigen schwarzen Punkt, der sich langsam bewegte.

»Kampfdrohne«, sagte er.

 

Dominic und ich verbrachten den größten Teil des Tages auf den Stationen des Krankenhauses und kehrten später noch zweimal dorthin zurück. Ich sprach mit Vätern, Müttern, Krankenschwestern, Ärzten, Managern, Pflegern, Totengräbern und Soldaten. Noch niemand hatte so viele Menschen sterben sehen, nicht einmal auf dem Höhepunkt des Kriegs. Ein türkischer Arzt beantwortete höflich meine Fragen, aber als ich ihn auf das scheinbar vollständige Fehlen jeglicher westlichen Hilfe ansprach, explodierte er und berichtete mir voller Zorn, dass die UN Tausende Tonnen Lebensmittel in riesigen Lagerhäusern am Hafen horteten, aber aus Gründen, die niemand verstand, nichts davon herausgab.

Wir verbrachten Stunden auf der winzigen Kinderstation im Erdgeschoss, in der wir Khalima begegnet waren. Die sieben Betten, die es dort gab, schienen mir allzu wenige zu sein, bis eines Tages alle Kinder dort gleichzeitig zu sterben begannen: erst ein Junge in einem Bett...

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