Einleitung
„Der wahre Ort der Begegnung ist die Grenze.“
(Paul Tillich)
„Nein, jetzt reicht’s!“, protestierte eine Stimme in mir, als ich die Szenerie beobachtete. Sie hatte es schon wieder getan! Erneut hatte das Nachbarskind unserer Tochter im Sandkasten das Spielzeug aus der Hand gerissen. Und nun saß unsere Kleine zerbrechlich und weinend vor mir und jammerte. „Hol’ es dir zurück“, forderte ich sie auf. Aber sie schluchzte nur herzzerreißend und stammelte leise: „Ich trau mich nicht.“
Vielleicht erkennen Sie sich ja in dieser Szene wieder, als die1, der man unerlaubt etwas nimmt, als die, die sich nicht traut, für sich selbst einzutreten, oder aber als die, deren innere Stimme wie die eines Freundes sagt: „Nein! Das geht jetzt zu weit!“
Unser Sohn reagierte in vergleichbaren Situationen ganz anders. Er schaute sich sein Gegenüber kurz an, griff dann nach seinem Spielzeug, nahm es dem anderen Kind ruhig, aber beherzt aus der Hand und machte einfach weiter mit seinem Spiel. Kein Protest, kein Geschrei. Frieden. Wünschen Sie sich in Ihrem Alltag auch des Öfteren, so selbstbewusst und zielgerichtet vorgehen zu können?
Wie unterschiedlich wir gerade in alltäglichen Situationen doch reagieren! „Knicken“ wir ein oder bleiben wir souverän? In einer gelungenen Selbstbehauptung liegt offensichtlich das Geheimnis von innerem und äußerem Frieden. Und das muss auch für Sie kein Wunschtraum bleiben. Wir haben dieses Buch geschrieben, um Sie darin zu unterstützen, gesunde Selbstbehauptung zu kultivieren und Ihr Verhalten sowie Ihre innere Haltung entsprechend auszurichten. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen gehören zu den alltäglichen menschlichen Erfahrungen. Die Notwendigkeit, Grenzen zu definieren und aufrechtzuhalten, begleitet uns von Kindheit an. Für diese lange Reise sollten Sie einen Freund als Begleiter dabeihaben, eine innere Stimme, die Ihnen signalisiert, wann Zeit für ein klares Nein ist. Womöglich hat aus diesem Grund das vorliegende Buch den Weg zu Ihnen gefunden: Weil Sie feststellen mussten, dass Sie (noch) nicht zu den glücklichen Menschen gehören, die keine oder kaum Probleme damit haben, Nein zu sagen. Oder aber Sie haben dabei schon mal Schiffbruch erlitten und fragen sich nun, wie Sie eine weitere „Seenot“ verhindern können.
In unserer Arbeit als Heilpraktiker für Psycho- und Paartherapie bekommen wir Aussagen wie die folgenden fast täglich zu hören:
- „Mit mir kann man es ja machen!“
- „Alle quatschen mich voll und wenn ich mal jemanden brauche, ist niemand da.“
- „Ich will doch nur geliebt werden.“
- „Immer bin ich schuld.“
- „Wenn ich mich wehre, wird es nur noch schlimmer.“
Für Menschen, die sich mit diesen und ähnlichen Gedanken martern und die zugrunde liegenden inneren und äußeren Konflikte angehen möchten, haben wir dieses Buch geschrieben. Für solche, die an ihren belastenden Gefühlserfahrungen grundlegend etwas ändern wollen, die den Wunsch hegen, ihr Auftreten anderen Menschen gegenüber anders, vielleicht durchsetzungsstärker oder selbstbewusster, zu gestalten. Denn das ist möglich! Sie werden während der Lektüre Personen (mit realem Hintergrund) kennenlernen, die dies geschafft haben.
Durch die vielen Geschichten in diesem Buch werden Ihnen womöglich aber auch die Augen für Ihr eigenes grenzverletzendes Verhalten geöffnet und Sie beginnen zu verstehen, warum es in Ihrem Leben immer wieder zu Grenzüberschreitungen, Verletzungen und Meinungsverschiedenheiten kommt, und in der Folge aus Hilflosigkeit auch wiederholt zu Beziehungsabbrüchen. Vielleicht überrascht Sie diese Sichtweise? Immerhin haben Sie sich dieses Buch gekauft, weil doch Sie das Opfer sind und sich endlich wehren möchten – nicht umgekehrt. Ja und Nein.
Ja, denn ihr Gefühl, wegen des anderen verletzt, wütend oder traurig zu sein, ist völlig legitim. Negative Emotionen signalisieren uns, dass etwas nicht stimmt, dass Gefahr droht. Sie haben das Recht (und die Pflicht!), sich gegen solche Gefahren zu schützen.
Nein, weil es bei dysfunktionalen zwischenmenschlichen Dynamiken nicht um Täter und Opfer geht (diese Einteilung führt selten zur Lösung), sondern um das fehlende Verständnis füreinander und die zugrunde liegenden Motive für das (grenzverletzende) Verhalten. Wenn es Ihnen gelingt, die jeweiligen Anteile – Ihre und die des anderen – zu erkennen, die zu den Grenzsituationen geführt haben, sinkt das Eskalationsrisiko. Es wird Ihnen wesentlich leichter fallen, innerlich ruhig und souverän zu bleiben und Ihren Standpunkt selbstbewusst zu vertreten.
In den vielen Jahren der Begleitung und Beratung von Menschen hat das Thema Abgrenzung im inneren und äußeren Bereich immer mehr an Bedeutung gewonnen. Bei den meisten unserer Klienten entpuppte sich die Fähigkeit, selbstbewusst Grenzen setzen zu können, als grundlegende Voraussetzung für eine neue Lebensqualität. Wie auch sonst kann ein seelisch angegriffener oder verletzter Mensch dauerhaft stabil werden, wenn er nicht die Fähigkeit erlangt, sich vor neuen Übergriffen und Anschlägen auf seine Person zu schützen? Oft genug erleben Menschen „Grenzenlosigkeit“ im Sinne eines Übermannt- oder Benutztwerdens. Das ist zum Beispiel angesichts des übergriffigen Verhaltens eines Kollegen, der Schwiegermutter oder gar einer Freundin der Fall, aber auch, wenn wir von eigenen Gefühlen überflutet werden, wenn wir hilflos wie Ertrinkende keinen (inneren) Halt mehr finden. Oder wir erleben uns selbst, beabsichtigt oder aus einer Unfähigkeit und Hilflosigkeit heraus, als Grenzverletzer im eigenen wie im zwischenmenschlichen Bereich. Denn wie oben bereits beschrieben: Eine Grenzverletzung zieht oftmals weitere Grenzüberschreitungen nach sich. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Eine klare Täter-Opfer-Trennung ist daher meist weder möglich noch förderlich.
Um all diese hier kurz angerissenen Fälle der „Grenzenlosigkeit“ soll es in diesem Buch gehen. Während des Lesens werden Sie wahrscheinlich immer wieder eigenes Verhalten und eigene Probleme wiedererkennen. Durch das Spiegeln der eigenen Muster haben Sie die Chance, sich selbst wahrhaftiger zu begegnen, sich selbst wieder näher zu kommen und Lebenszusammenhänge besser zu verstehen.
Es erscheint uns ratsam, dass Sie beim Lesen Stift und Papier zur Hand haben, weil das Wichtige durch die folgenden Zeilen nur angestoßen werden kann und dann in Gänze in Ihren Gedanken und Ihren Gefühlen auftauchen wird. Machen Sie sich also bitte Notizen. Die Wahrheiten, die Sie erkennen, bilden den Nährboden, auf dem Sie in Ihrer Persönlichkeit wachsen und sich weiterentwickeln können.
Wir werden Ihnen neun unterschiedliche Typen und das entsprechende Grenzverhalten aufführen, die uns in unserer Praxis immer wieder begegnet sind. Bestimmt gibt es mehr als nur diese und in jedem Fall gibt es zahlreiche Überschneidungen und Mischformen. Diese neun Typen sind jedoch jene, mit denen wir ausreichend vertraut sind, sodass wir die jeweiligen Neigungen und Verhaltensstile fundiert skizzieren konnten. Sie bilden ein breites Spektrum ab und schaffen somit die Grundlage für eigene Schlussfolgerungen und Übertragung auf Ihre individuelle Situation.
Wenn Sie sich selbst in einer der Darstellungen wiedererkennen, dann finden Sie wahrscheinlich genügend Anregungen zur Selbstreflexion und konkrete Schritte zum Verändern Ihrer problematischen Verhaltensweise. Ebenso für den Fall, dass Sie mit jemandem zu tun haben, der einem der Typen entspricht.
Fallbeispiele aus unserem Therapeutenalltag veranschaulichen das Dargelegte und machen Veränderungshilfen greifbarer. An dieser Stelle danken wir all unseren Klienten für ihr entgegengebrachtes Vertrauen. Nur durch ihre Offenheit konnten wir von ihnen lernen. Lediglich die Namen, Orte und Situationen wurden zum Schutz der Personen verändert, jedoch ohne die wesentlichen Sachverhalte zu verfälschen. Im Film würde es heißen: „Nach einer wahren Begebenheit.“
Das Buch ist sowohl an all jene gerichtet, die sich Tipps für ihren persönlichen Alltag holen wollen, als auch an jene, die sich in den unterschiedlichen Situationen ihres Berufslebens besser abgrenzen lernen möchten bzw. müssen. Als Therapeuten können wir Ihnen vorab eines sagen: Wenn Sie sich (noch) nicht besonders gut abgrenzen können gegen die Anforderungen, Bedürfnisse und Meinungen anderer, dann geht es Ihnen wie sehr vielen anderen Menschen. Sie sind damit nicht allein. Aber etliche haben sich trotz der Krisen, in die sie aufgrund ihrer „Grenzerfahrungen“ geraten sind, erfolgreich gemausert und fanden zu einem neuen Lebenskonzept. Das können Sie auch!
Zu unserer Qualifikation als Heilpraktiker für Psychotherapie gehört, dass wir mit unterschiedlichen Therapieformen und -methoden arbeiten. Darüber hinaus haben wir im Laufe unserer täglichen Praxis die Vorstellung gewonnen, dass jeder Mensch – Sie und wir inbegriffen – nicht nur über ein eigenes Leben mit Werten, Sprache, Kultur und Chancen verfügt, sondern auch über ganz eigene Verteidigungs- und Vermeidungsstrategien. Vielleicht haben Sie sich ja etwas angeeignet, das funktioniert. Glückwunsch! Wenn Sie bisher aber gescheitert sind, bedeutet das lediglich, dass die verwendete Technik nicht geholfen hat. Beim Lesen des Buches werden Sie sehen, dass noch viele weitere Optionen zur Verfügung stehen, um endlich ein zufriedenstellendes Ergebnis in Ihrem Leben und Ihren Beziehungen zu erzielen und dadurch mehr Freude,...