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Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in Sören Kierkegaards 'Krankheit zum Tode'

AutorWolfram Schäfer
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl105 Seiten
ISBN9783638339902
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 1995 im Fachbereich Philosophie - Philosophie des 19. Jahrhunderts, Note: sehr gut, Westfälische Wilhelms-Universität Münster (Philosophische Fakultät), 82 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Die Krankheit zum Tode' (1849) gilt nicht nur dem Autor als der Höhepunkt des literarischen Schaffens Sören Kierkegaards, sondern es ist das Hauptwerk des dänischen Philosophen und Theologen, in dem sich das Grundanliegen seiner Existenzphilosophie wiederfindet. Dieses Werk wird für den Leser/die Leserin umso verständlicher als W. Schäfer andere Hauptwerke Kierkegaards heranzieht, um dieses komplexe Werk überhaupt erst mit Hilfe des Gesamtwerkes durchsichtig zu machen. 'Die Krankheit zum Tode' gilt als schwierig, gerade auch hinsichtlich der an Hegel erinnernden Sprache zu Anfang des Werkes. W. Schäfer, der Anti-Climacus' theologische Anthropologie umfassend darlegt, erläutert klar, was es mit dem 'Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält', auf sich hat. Die verschiedenen Verzweiflungsformen werden von W. Schäfer deutlich dargestellt und differenziert, so dass auch die sogenannte 'unbewusste Verzweiflung' nach Anti-Climacus mit seiner theologischen Anthroplogie erläutert werden kann (M. Theunissen hat in seinem Werk 'Der Begriff Verzweiflung: Korrekturen an Kierkegaard', 1993, die unbewußte Verzweiflung lediglich als die 'unangemessene Form der Verzweiflung' darstellen können. W. Schäfer erklärt hingegen die unbewußte Verzweiflung mit Hilfe von Anti-Climacus' anthropologischen Überlegungen: vgl. II 2.). Im dritten und letzten Kapitel gibt es nicht nur einen Exkurs zum Sündenbegriff bei Haufniensis ('Der Begriff Angst', 1844) im Vergleich zu Anti-Climacus' Verzweiflungsbegriff und seiner Sündenabhandlung, sondern Anti-Climacus' Sündenbegriff wird zunächst einmal von seinen Vorstellungen hinsichtlich der Verzweiflung unterschieden. Eine abschließende Kritik darf der Leser/die Leserin in der Schlußbetrachtung erwarten, wobei hier weitere Aspekte aufgenommen werden, insofern sie nicht Teil der Hauptanalyse sind.

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Leseprobe

Einleitung


 

In der vorliegenden Arbeit geht es um eine umfassende Analyse der Krankheit zum Tode, wobei die Begriffe Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis im Mittelpunkt stehen. Die Krankheit zum Tode wird nicht isoliert betrachtet, sondern andere Werke, die von Sören Kierkegaard herausgegeben wurden, tragen dazu bei, mehr Licht in dieses schwierige Werk zu bringen. Was hat es aber mit den Begriffen Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis hinsichtlich der Krankheit zum Tode auf sich? Werden diese Begriffe einfach an dieses Werk herangetragen oder geht es letztlich nicht immer schon um Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in der Krankheit zum Tode, einschließlich des mangelnden Selbstbewußtseins und der unzureichenden Selbsterkenntnis in der Verzweiflung[2] und der Sünde? Das letztere ist der Fall und dementsprechend ist diese Arbeit aufgebaut. Tatsächlich stehen die Begriffe Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis nicht isoliert da, sondern sie beziehen sich auf das Selbst des Menschen. So heißt es bei Anti-Climacus (Sören Kierkegaard)[3]:

 

So ist das Bewußtsein das Entscheidende. Überhaupt ist Bewußtsein, d. h. Selbstbe­wußtsein, das Entscheidende in bezug auf das Selbst. Je mehr Bewußtsein, desto mehr Selbst;[4]

 

Es geht also um das Selbst des Menschen. Wie kommt der Mensch zu sich selbst? Er findet nur dann zu sich selbst, wenn er sich seines Selbst als Synthese ständig bewußt wird. Was es mit dieser Synthese auf sich hat und wie der Mensch allein zur Synthese seines Selbst gelangen kann, ist das Grundanliegen des ersten Kapitels. Anti-Climacus' Anthropologie ist theologisch, da schon aus seiner Anthropologie hervorgeht, daß ein wahrhaftes Selbstbewußtsein und eine Verwirklichung des Selbst als Synthese nur kraft des christlichen Glaubens möglich ist.

 

Wird der christliche Glaube aber als absurd und paradox beurteilt, drängt sich die Frage auf, ob die menschliche Existenz nicht durch diesen Glauben paradox wird. Der zweite Teil (I. 2) des ersten Kapitels wird hierüber Aufschluß geben.

 

Wir sollen uns unseres Selbst als Synthese kraft des christlichen Glaubens bewußt werden. Gibt es bei Anti-Climacus vielleicht eine Begründung, warum uns bei der Selbstbewußtwerdung nur der christliche Glaube weiterhelfen kann oder will er gar "beweisen", daß das Selbst des Menschen gottgesetzt ist? Anti-Climacus versucht tatsächlich das gottgesetzte Selbst des Menschen über die Verzweiflung herzuleiten, was umso erstaunlicher ist, als Kierkegaards Bruch mit Schelling doch gerade darauf zurückgeht, daß Schelling glaubte, das "Unvordenkliche" bzw. Gott rekonstruieren zu können (vgl. Exkurs I. 3).

 

Im nächsten Kapitel (I. 4) wird es um den Zeitbegriff bei Sören Kierkegaard gehen.[5] In Anti-Climacus' Krankheit zum Tode gibt es kein spezielles Kapitel, welches sich um den Zeitbegriff dreht. Also warum sollte der Zeitbegriff dann hier thematisiert werden? Allein der Mensch, der sich dank des christlichen Glaubens bewußt wird, kann seine Gegenwart erfahren, und es ist Anti-Climacus' Ziel, uns aufzuzeigen, daß wir uns nur dann "gegenwärtig sind", wenn wir den christlichen Glauben angenommen haben. Sich selbst kann der Mensch nur dann bewußt werden, wenn er in der Gegenwart lebt und sich nicht an ein Leben klammert, daß entweder nur an die Vergangenheit oder nur an die Zukunft gebunden ist. Vergangenheit und Zukunft spiegeln sich bei Anti-Climacus in der Verzweiflung wieder. Die Verzweiflung der Schwachheit bezieht sich auf die faktische Situ­ation eines jeden Menschen. Die faktische Situation ist vergangenheitsbestimmt. Die Verzweiflung des Trotzes bezieht sich auf das mögliche, ideelle Sein eines jeden Menschen. Das mögliche, ideelle Sein bezieht sich auf die Zukunft. Also spielt der Zeitbegriff auch bei Anti-Climacus eine große Rolle und wird deshalb gerade in bezug auf das erfüllte oder sich bewußte Selbst näher be­trachtet.

 

Im zweiten Kapitel geht es um die Verzweiflung, in der der Mensch sich seines Selbst entweder gar nicht oder nur "unvollständig" bewußt wird. Es ging mir nicht darum, die einzelnen Formen der Verzweiflung nachzuerzählen, sondern sie den Bewußtseinsstufen der Verzweiflung zuzuord­nen. Bei Anti-Climacus unterscheidet sich das Bewußtsein in der Verzweiflung danach, ob sich der Mensch (1) seines Selbst überhaupt bewußt ist, (2) verzweifelt nicht er selbst oder (3) verzweifelt er selbst sein will. Daß das verzweifelte Nichtselbsteinwollen mit dem verzweifelten Selbstsein­wollen letztlich übereinstimmt, wird hier wie auch bei M. Theunissen abgelehnt (vgl. II. 2 u. II. 5). Besonders in diesem Kapitel (II) trägt der Rückgriff auf andere Existenzphilosophen - auch Horkheimer und Adorno als Vertreter der "kritischen Theorie" können sinnvoll eingebunden werden - zur Erhellung des Verzweiflungsbegriffes bei Anti-Climacus bei. Wird die Verzweiflung nach Bewußtseinsstufen und Formen unterschieden, sollte klar sein, daß die Wirklichkeit der Ver­zweiflung mit einer sorgsamen Trennung und Unterscheidung des Verzweiflungsbegriffes nicht immer übereinkommt. Wenn auch verschiedene Verzweiflungsphänomene unterschiedlichen Be­wußtseinsstufen zugerechnet werden, überschneiden sich diese Verzweiflungsphänomene nur allzu häufig. Die Unterscheidung der Bewußtseinsstufen und die der Formen der Verzweiflung hat eben nur Modellcharakter.

 

Wie kann aber die Sünde auf das Selbstbewußtsein und die Selbsterkenntnis des Menschen bezogen werden? Wenn der Mensch nur kraft des christlichen Glaubens zu sich selbst finden kann oder sich seiner selbst bewußt werden kann, dann ist es für Anti-Climacus ein nahezu unbeschreibliches Übel, wenn der Mensch sich trotz der Offenbarung Gottes nicht glaubend zu Christus verhalten will. Die Sünde ist bei Anti-Climacus keine gesonderte Kategorie, sondern sie ist die potenzierte Verzweiflung, insofern der Mensch verzweifelt, obwohl er von der Offenbarung Gottes weiß. Die Sünde ist eine Position, da sich der Mensch trotz der Offenbarung Gottes ent­schieden hat, sich nicht zu Gott zu verhalten. Die Steigerung der Sünde, die eine Position ist, beginnt mit der Passivität gegenüber Gott und geht bis zum aktiven Kampf gegen das Christentum. In den folgenden Kapiteln (III. 3 u. 4) wird der Sündenbegriff bei Anti-Climacus nuanciert, indem auf die Sünde verwiesen wird, den Glauben in eine phantastische oder objektive Angelegenheit "umzufunktionieren".

 

Ein Exkurs zu Haufniensis Der Begriff Angst wird dazu beitragen, den Sündenbegriff in der Krankheit zum Tode näher zu differenzieren.

 

In der Schlußbetrachtung hat es der Leser weder mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse noch mit einer "bodenlosen" Kritik zu tun. Über die Würdigung der Krankheit zum Tode hinaus, werden Aspekte kritisch - aber nichtsdestotrotz fundiert - beleuchtet, die in dem Haupteil dieser Arbeit zu kurz gekommen sind.

 

In der vorliegenden Arbeit ist sehr häufig nur von den Pseudonymen die Rede. Eine Ausnahme ist dann gegeben, insofern von einer Philosphie die Rede sein kann, die verschiedene Werke miteinander verbindet. Andererseits möchte ich auch Sören Kierkegaard gerecht werden, wenn er in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken ausdrücklich darum bittet, bei Zitaten nur die Pseudonyme anzuführen. Die Pseudonyme machen einen Sinn, wenn man sich einmal deutlich macht, daß Sören Kierkegaard mit ihnen nicht nur unterschiedliche Charaktere erfunden hat, sondern auch philosophische und religiöse Anschauungen geliefert hat, denen Kierkegaard nicht immer gerecht werden konnte oder wollte. Das gilt insbesondere für die Krank­heit zum Tode. Anti-Climacus ist der Christ schlechthin, aber gilt das auch für Sören Kierkegaard? Stephen Crites gibt uns den wichtigen Hinweis, daß sich Sören Kierkegaard ursprünglich als Autor für die Krankheit zum Tode bekennen wollte, er aber ein Pseudonym erfinden mußte, da er selbst mit der christlichen Idealfigur, die später Anti-Climacus heißen sollte, nicht mithalten konnte:

 

[...] he did not find in his own life the strict Christian solution to the sickness of despair that was prescribed by the text. Lacking faith, he considered himself to be one of the despairing sufferers of the sickness unto death. He needed to be addressed by the discourse, rather than being a man who might presume to speak its words in his own voice. Kierkegaard's typically literary solution to this problem was to attribute the discourse to a new pseudonym.[6]

 

Wieso nennt Sören Kierkegaard den Verfasser der Krankheit zum Tode nun Anti-Climacus? Äußert sich Anti-Climacus nun gegen Climacus, oder wie ist das zu verstehen? Wilhelm Anz bezieht das "Gegen" zurecht auf die "Umkehrung der Blickrichtung" und nicht auf eine Kritik, die sich gegen Climacus richtet. Climacus fühlt sich insbesondere Sokrates verpflichtet und schließt mit dem christlichen Gottesverhältnis. Für Anti-Climacus ist das christliche Gottesverhältnis der Ausgangs­punkt für die philosophischen Erörterungen, die sich in der Krankheit zum Tode anschließen:

 

Der Name Anticlimacus scheint Ausdruck für eine Gegenposition zu sein. Das "Gegen" bedeutet jedoch nicht, daß Anticlimacus die Denkbewegung des Climacus und das in ihr Gedachte widerruft; das...

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