1 Wovor fürchten Sie sich… und warum?
Ich werde damit fertig
Ich bin im Begriff, wieder einen Kurs zum Thema Angst abzuhalten. Der Seminarraum ist leer. Ich warte darauf, daß meine neuen Schüler erscheinen. Lampenfieber habe ich bei diesen Gruppen schon lange nicht mehr. Ich habe solche Kurse bereits sehr oft geleitet, und außerdem kenne ich meine Schüler schon, bevor ich sie zum ersten Mal sehe. Sie unterscheiden sich nicht von uns übrigen; sie wollen alle ihr Bestes tun und sind alle unsicher, ob sie gut genug sind. Es ist immer dasselbe.
Als die TeilnehmerInnen den Raum betreten, spüre ich die Spannung. Sie setzen sich soweit auseinander wie möglich, bis die freien Stühle dazwischen mangels Platz belegt werden müssen. Sie sprechen nicht miteinander, sondern sitzen still da, nervös und erwartungsvoll. Ich empfinde tiefe Sympathie für sie, weil sie den Mut haben zuzugeben, daß ihr Leben nicht so funktioniert, wie sie es wollen. Und ihre Anwesenheit in der Gruppe signalisiert, daß sie bereit sind, etwas dagegen zu tun.
Zu Beginn bitte ich alle der Reihe nach, uns übrigen zu erzählen, welchen Schwierigkeiten im Leben er oder sie sich nicht stellen kann. Jeder berichtet seine Geschichte:
Jonas will seine vierzehnjährige berufliche Laufbahn abbrechen und seinen Traum, Künstler zu werden, verwirklichen.
Maria ist Schauspielerin und will herausfinden, warum sie alle möglichen Entschuldigungen findet, nicht zum Vorsprechen zu gehen.
Sarah will nach fünfzehn Jahren Ehe ihren Mann verlassen.
Frank will seine Angst vor dem Altern überwinden. Er ist gerade 32.
Johanna ist eine ältere Dame, die ihrem Arzt die Stirn bieten will; er behandelt sie wie ein Kind und gibt nie eine klare Antwort.
Paula will ihr Geschäft erweitern, doch sie schafft den erforderlichen Sprung zur nächsten Stufe nicht.
Rebekka will ihren Mann mit Dingen konfrontieren, die sie stören.
Karl will seine Angst vor Ablehnung überwinden, die ihn hindert, eine Frau zu bitten, mit ihm auszugehen.
Laura will wissen, warum sie unglücklich ist, obwohl sie alles hat, was man sich nur wünschen kann.
Richard ist Rentner und fühlt sich nutzlos. Er fürchtet, daß sein Leben vorbei ist.
So geht es, bis jeder seine Geschichte erzählt hat.
Ich bin fasziniert, als ich beobachte, was während der Erzählungen vor sich geht. Während jeder einzelne offen und aufrichtig berichtet, verändert sich die Atmosphäre völlig. Die Spannung löst sich schnell auf und Erleichterung wird spürbar.
Erstens erkennen alle in der Gruppe, daß sie nicht die einzigen Menschen auf der Welt sind, die Angst empfinden. Zweitens sehen sie, wie anziehend Menschen dadurch werden, daß sie sich öffnen und ihre Gefühle mitteilen. Lange bevor der letzte Erfahrungsbericht zu hören ist, breitet sich ein Gefühl der Wärme und Kameradschaft aus. Sie sind sich nicht mehr fremd.
Obwohl Hintergrund und Situation der Gruppenmitglieder sehr unterschiedlich sind, dauert es nicht lange, bis die oberflächlichen Schichten ihrer jeweiligen Geschichten verschwinden und der Weg frei wird, um einander auf einer zutiefst menschlichen Ebene zu begegnen. Der gemeinsame Nenner ist die Tatsache, daß Angst sie alle daran hindert, das Leben so zu erfahren, wie sie es sich wünschen.
Der geschilderte Ablauf wiederholt sich in jedem Kurs zum Thema Angst, den ich leite. Sie fragen sich jetzt vielleicht, wie man in einem Kurs all die verschiedenen Ängste, von denen berichtet wurde, unterbringen kann – die Bedürfnisse der einzelnen scheinen so unterschiedlich. Das stimmt. Sie scheinen unterschiedlich, bis wir ein bißchen tiefer graben und die zugrundeliegende Ursache dieser – und aller anderen – Ängste anschauen.
Angst kann in drei Schichten gegliedert werden. Die erste ist die oberflächliche Geschichte, wie sie oben beschrieben wurde. Diese Ebene der Angst kann in zwei Arten unterteilt werden: die Ängste, die »passieren«, und diejenigen, die Handeln erfordern. Es folgt eine unvollständige Liste von Ängsten der ersten Ebene, aufgeteilt in diese zwei Arten:
ÄNGSTE DER ERSTEN EBENE
Was passiert | Was Handeln erfordert |
Altern Körperliche Behinderung Ins Rentenalter kommen Allein sein Die Kinder gehen aus dem Haus Naturkatastrophen Verlust der finanziellen Sicherheit Veränderung Sterben Krieg Krankheit Einen geliebten Menschen verlieren Unfälle Vergewaltigung | Wieder eine Ausbildung anfangen Entscheidungen treffen Die berufliche Laufbahn ändern Freunde finden Eine Beziehung beenden oder eingehen Telefonieren Sich durchsetzen Abnehmen Ein Bewerbungsgespräch führen Auto fahren Vor Publikum sprechen Einen Fehler machen Nähe zulassen |
Vielleicht können Sie die Liste noch ergänzen. Wie ich bereits angedeutet habe, sind Sie nicht allein damit, wenn Sie sich sagen: »Einige Punkte treffen auf mich zu«, oder sogar: »Alle Punkte«. Dafür gibt es einen guten Grund. Eine heimtückische Eigenschaft der Angst ist, daß sie viele Bereiche des Lebens durchdringt. Wenn Sie zum Beispiel Angst haben, Freundschaften zu schließen, dann liegt es nahe, daß Sie auch davor Angst haben, auf Parties zu gehen, enge Beziehungen zu haben, sich um einen Arbeitsplatz zu bewerben und so weiter.
Dies wird noch klarer, wenn man sich die zweite Ebene der Angst vor Augen führt, die mit ganz anderen Empfindungen verbunden ist, als die erste Ebene. Die Ängste der zweiten Ebene sind nicht situationsorientiert; sie betreffen das Ich.
ÄNGSTE DER ZWEITEN EBENE
Verletzlich sein | Imageverlust |
Die Ängste der zweiten Ebene haben mehr mit der inneren Einstellung zu tun als mit äußeren Situationen. Sie spiegeln Ihr Selbstgefühl und Ihre Fähigkeit, mit dieser Welt umzugehen. Dies erklärt, warum eine allgemeine Angst entsteht. Wenn Sie Angst vor Ablehnung haben, wird diese Furcht fast alle Lebensbereiche beeinflussen – Freundschaften, intime Beziehungen, Bewerbungsgespräche und so weiter. Ablehnung ist Ablehnung – ganz gleich, wo man sie erlebt. Also werden Sie sich schützen und sich folglich stark abgrenzen. Sie machen zu und verschließen sich gegenüber der Welt um Sie herum. Schauen Sie sich die Liste zur zweiten Ebene noch einmal an und Sie werden sehen, daß jede dieser Ängste viele Lebensbereiche erheblich beeinflussen kann.
Die dritte Ebene bringt die Sache auf den Punkt: die größte Angst von allen – die Sie wirklich am Weiterkommen hindert. Sind Sie so weit?
ANGST DER DRITTEN EBENE
Ich werde nicht damit fertig!
»Das soll es schon sein? Das ist die größte Angst?« fragen Sie vielleicht. Ich weiß, daß Sie enttäuscht sind und etwas viel Dramatischeres erwarten als das. Doch Tatsache ist:
Jeder Furcht, die Sie verspüren, liegt die Angst zugrunde,
daß Sie mit dem, was das Leben bringt,
nicht fertig werden können.
Das wollen wir prüfen. Die Ängste der ersten Ebene lassen sich folgendermaßen übersetzen:
Ich werde mit Krankheit nicht fertig.
Ich werde nicht damit fertig, wenn ich einen Fehler mache.
Ich werde nicht damit fertig, wenn ich meinen Arbeitsplatz verliere.
Ich werde nicht mit dem Altern fertig.
Ich werde nicht damit fertig, allein zu sein.
Ich werde nicht damit fertig, wenn ich mich lächerlich mache.
Ich werde nicht damit fertig, wenn ich die Stelle nicht bekomme.
Ich werde nicht damit fertig, wenn ich sie / ihn verliere.
Ich werde nicht damit fertig, wenn ich mein Geld verliere ...
…und so weiter.
Die Ängste der zweiten Ebene lassen sich so übersetzen:
Ich werde nicht damit fertig, wenn ich erfolgreich bin und Verantwortung übernehmen muß.
Ich werde nicht mit Mißerfolg fertig.
Ich werde nicht mit Ablehnung fertig…
…und so weiter
Deshalb steht auf der 3. Ebene nur: »Ich kann nicht damit fertig werden.«
Tatsache ist:
Wenn Sie wüßten, daß Sie mit allem,
was Ihnen möglicherweise begegnet, fertig werden könnten,
was hätten Sie dann noch zu fürchten?
Die Antwort...