Dieses Kapitel wird dir dabei helfen, dich in deinem Alltag besser zu beobachten und einzuschätzen. Das ist wichtig, damit du in Zukunft Veränderungen zielorientiert angehen kannst. Dafür betrachten wir die Ebene der Bilder vor deinem inneren Auge und hören uns die Muster an, in denen du denkst. Wir fühlen uns näher in deine persönliche Integrität hinein und lernen, wie du dich im Alltag hinterfragen darfst.
Innere Bilder wirken. Immer! Im ersten Kapitel habe ich erläutert, dass wir Menschen in den meisten Situationen unseres Lebens auf die Bilder vor dem inneren Auge reagieren.
Betrachten wir einmal das Beispiel der Zukunftsangst: Dennis ist trübsinnig, unmotiviert, oft niedergeschlagen. Bei der Frage, was ihn gedanklich am meisten beschäftigt, spricht er von seiner Zukunft. Er hat zwar einen guten Job, der ihm Spaß bereitet und gut bezahlt wird. Auch lebt er eigentlich in einer glücklichen Beziehung. Uneigentlich aber nütze ihm das gar nichts, denn er beschäftigt sich jeden Tag mit den immer den gleichen Fragen: „Was ist, wenn ich meinen Job verliere? Wenn meine Lebensgefährtin mich verlässt? Was, wenn das, was ich in meinem Leben noch so vorhabe, nicht klappt?“ Dennis hat in Bezug auf seine Umwelt keine Gründe, depressiv zu werden. Vor seinem inneren Auge jedoch werden ihm Dinge präsentiert, auf die er gefühlsmäßig reagiert – und das in keinem Falle überzogen! Denn sein Gehirn bietet ihm eine düstere Zukunft an, geprägt von Verlust, Mangel und Scheitern.
Dein Gehirn denkt dramatisch!
Eine Eigenschaft unseres Gehirns ist es, dramatisch zu denken. Diese Art zu denken scheint unseren Vorfahren einen Überlebensvorteil verschafft zu haben und hat sich deshalb evolutionsbiologisch durchgesetzt. Wir dürfen dankbar für unser dramatisch denkendes Gehirn sein, denn ohne diese Eigenschaft würdest du dieses Buch heute gar nicht lesen können. Weil du vermutlich gar nicht existieren würdest.
Diese dramatisch denkende Eigenschaft kommt vor allem bei einer Fragestellung zum Tragen: Was könnte mir in meiner Zukunft passieren? Bei diesem Könnte-Modus schaltet das Gehirn sofort in den dramatischen Modus und präsentiert ein Worst-Case-Szenario als mögliche Zukunft. Und das wirkt!
Dennis kann seine Zukunft noch nicht kennen. Das Problem aber ist, dass er sie doch irgendwie kennt, indem er sie sieht! Und das wirkt sich auf sein Gefühl im Hier und Jetzt aus.
Dazu ein Beispiel: Ich begleite Benjamin im letzten Drittel seines Studiums. Er hat in früheren Semestern eine Klausur bereits zweimal nicht bestanden und steht jetzt vor dem entscheidenden
Drittversuch. Fällt er wieder durch, ist das Studium für ihn zu Ende, er dürfte sich an keiner anderen Uni für den gleichen Studiengang einschreiben. Entsprechend hoch ist der Druck. Benjamin berichtet, dass er sich intensiv mit dem Lernen beschäftigt. Jedoch kommen etliche Male Gedanken hoch, was denn passiert, wenn er wieder nicht besteht. Er sieht sich selbst, wie er die schlechte Nachricht bekommt, zu seinen Eltern zurückkriechen muss und quasi fast schon auf der Straße steht. Dieser Gedankengang kommt wie aus dem Nichts, überdeckt manchmal auch das konzentrierte Lernen.
„Was könnte passieren“ versetzt unser Gehirn in den dramatischen Modus, und es präsentiert ein Worst-Case-Szenario.
Diese Art von Worst-Case-Gedanken kommt passiv, also ohne aktives Zutun. Dennis setzt sich ja nicht bewusst hin und überlegt sich extra, was denn als nächstes bitteschön schief gehen soll.
Dieser ungünstige Ausblick auf seine Zukunft erzeugt jetzt, in der Gegenwart, ein schlechtes Gefühl in Dennis. Mit diesem schlechten Gefühl wird er den Lernstoff mit Sicherheit nur mittelprächtig bis gar nicht in den Kopf bekommen. Und vielleicht wird er trotz des vielen Lernens tatsächlich durch die Prüfung fallen – aus dem ungünstigen Gedanken an die Zukunft ist eine self-fulfilling prophecy geworden. Die Prophezeiung hat sich selbst erfüllt.
Wenn Dennis aus diesem Schreckensszenario rausmöchte, geht es im Prinzip nicht darum, wie er herauskommt. Denn er würde sich die Frage stellen, wie er sich vom dramatischen Ergebnis ablenken kann, und macht es damit vor seinem inneren Auge präsent. Man könnte dies auch in folgendem Dialog darstellen:
Klient: „Ich befürchte, dass ich durch die Klausur falle.“
Therapeut: „Oh, das wäre ja gar nicht gut. Ist das Ihr Ziel?“
Klient (leicht erbost): „Nein, natürlich nicht!“
Therapeut: „O.k., was wäre denn dann Ihr Ziel?“
Klient: „Na, dass ich nicht durch die Klausur falle!“
Verloren. Mit dem letzten Satz baut der Klient entsprechende Bilder vor dem inneren Auge auf, nämlich, dass er durch die Klausur fällt.
Um dies zu illustrieren, stell dir vor, es gäbe eine Kamera, mit der man die Bilder vor deinem inneren Auge fotografieren könnte, und zwar ein Bild pro Sekunde. Das wären 60 Bilder in der Minute, und am Ende des Tages hättest du einen langen Filmstreifen mit 86 400 Einzelaufnahmen! Das Entscheidende daran ist aber weniger die Zahl, sondern: Das Bild wirkt. Und nicht eine Eigenschaft, die an ein Bild gesetzt wird. Ich verabschiede dich zum Beispiel nach einer Sitzung mit den Worten „Komm gut heim. Hoffentlich hast du keinen Stau!“ Woran denkst du in diesem Moment? An eine freie Straße? Oder vielmehr an eine Autokolonne und viele rote Rücklichter? Das kein vor dem Stau verhindert nicht, dass du ein Bild vom Stau generierst und dies als Foto im Kopf behältst. Unser Gehirn kann in diesem Sinne mit Verneinungen nicht umgehen.
Gedanken aktiv gestalten
Übertragen wir diese Idee auf Dennis. Der Worst-Case-Gedanke kommt häufig passiv, also ohne großes Zutun. Möchte Dennis etwas verändern, darf er als Erstes selbst aktiv werden. Er darf sein Ziel positiv als gewünschtes Ziel konstruieren: „Ich möchte die Klausur bestehen!“ Diese Aussage geht noch nicht mit einer entsprechenden Präsenz auf der visuellen Ebene einher. Er braucht noch weitere Informationen, um ein wirksames Bild zu erzeugen. „Ich sehe mich, wie ich die Klausur schreibe, und ich habe ein fettes Grinsen im Gesicht, weil ich die Aufgaben gut verstehe und direkt erste Lösungsansätze im Kopf habe.“ Schon besser. „Und bei dem Blick nach vorne sehe ich die hübsche Prüferin mit dem strengen Zopf und dem kurzen Kleid!“ Das macht Laune! (Die geneigte Leserin darf jetzt an Patrick Dempsey denken, der noch einmal persönlich viel Erfolg wünscht.)
Es ist durchaus sinnvoll, bei der konkreten Zielplanung mit realistischen Inhalten zu arbeiten. Dennis hat es bereits geholfen, ein Bild zu haben, welches ihn zum Grinsen bringt. Denn die erfreuliche Aussicht auf seine Zukunft macht ein gutes Gefühl in der Gegenwart. Und mit diesem Gefühl darf er sich dann an den Schreibtisch setzen und das Lernen in einem gänzlich neuen Modus starten!
Übrigens: Ich denke durchaus, dass der Fokus auf das gewünschte Ergebnis eine wichtige Grundlage für den Erfolg darstellt. Aber ich möchte dabei nicht naiv werden. Ich fokussiere mich nicht auf das gewünschte Ergebnis „Klausur bestehen“, vertraue voll und ganz auf dieses Zukunftsbild und lege mich dann zum Sonnen in den Park.
Zielorientiert denken bereitet neue Wege
Das alles hat nichts mit dem viel beschworenen positiven Denken zu tun. Viel zu oft meinen die Leute, man solle doch einfach positiver denken. Fragt man mal nach, was genau man sich denn vorstellen soll, um positiv zu denken, bleiben konkrete Antworten häufig aus.
Nimm dir einmal deine aktuelle Stimmung und platziere sie auf einer Skala zwischen 0 = schlecht und 10 = gut. Gehen wir davon aus, deine Stimmung liegt gerade bei 6,5. Wir spinnen jetzt mal gemeinsam rum: Was könnte heute noch alles passieren, sodass sich deine Stimmung auf der Skala nach unten entwickelt? Du könntest dir den kleinen Zeh am Schrank stoßen. Das Essen schmeckt nicht. Dein Partner kommt schlecht gelaunt nach Hause. Oder du schaltest heute Abend aus Versehen die Nachrichten ein und wirst mit schlechten Bildern konfrontiert, die dein Kopf aufsaugt und als Informationen nicht nicht verarbeiten kann.
Machen wir die Gegenprobe: Was könnte heute alles passieren, damit sich deine Stimmung nach oben hin entwickelt? Siehst du etwas? Vermutlich wird sich wenig bis nichts vor deinem inneren Auge aufbauen. Dein Gehirn ist nicht zum positiven Denken konstruiert. Sondern zum dramatischen. Lässt du dich von deinem dramatischen Gehirn kontrollieren, wirst du depressiv. Ich möchte dir beibringen, das dramatische Gehirn unter Kontrolle zu bringen!
Bringe das dramatische Gehirn unter Kontrolle.
Und das schaffen wir unter anderem, indem wir erst gar nicht versuchen, positiv zu denken und uns dadurch...