Körperselbstwert
Du als Ganzes bist einzigartig und wunderschön, und so ist es auch dein Körper. »Ulrike hat gut reden, wenn die wüsste …«, denkst du jetzt möglicherweise. Und du hast ja auch recht. Es geht hier nicht um meine Sicht von außen, sondern darum, dass du dich selber schön fühlst, auch ohne Bestätigung. Und das ist eine ganz andere Sache. Die oft so schwer ist. Ich kenne Scharen von Menschen, die mit ihrem Körper hadern. Vor allem Frauen fallen über ihre vermeintlichen »Schönheitsfehler« her: Winkemuskel und Bauchspeck, Nasenhöcker und Nasolabialfalte, Orangenhaut und Runzeln. Jeden Tag neu vor dem Spiegel, gnadenlos und so, wie sie niemals mit ihrer Tochter oder Freundin sprechen würden. Der Körper sieht anders aus, als er sollte; er hat vielleicht Schmerzen oder wird krank, weil er nicht mehr kann – aber trotzdem muss; er wird älter, doch er sollte ewig jung bleiben. Wie können wir von diesem Hadern mit unserem Körper ablassen?
Wenn der Körper anders sein soll, als er ist
Ziehen wir die Parallele zwischen der Körperbeziehung und Liebesbeziehungen: Auch Liebespaare hängen oft an der Erinnerung, wie es anfangs in der wundervollen Verliebtheitsphase war. Oder sie stellen sich einen idealen Partner vor. Der Partner, wie er jetzt ist, wirkt dann mangelhaft, und es geht los mit den Vorwürfen und Veränderungswünschen, die so viele Beziehungen kaputt machen.
Auch bei unserem Körper macht das die Beziehung kaputt: Wir können die Schönheit des Neuen nicht sehen, weil wir uns mit unserer jüngeren, schlankeren Version oder dem retuschierten Idealbild aus einem Magazin vergleichen, an das der eigene Körper nie heranreichen wird. Dann werten wir unseren Körper ab und wollen ihn verändern. Doch wenn du damit beschäftigt bist, dir den perfekten Körper zu wünschen, und ständig an ihm herummanipulierst, schwächst du dich selbst und hast somit weniger Energie frei für Wichtigeres: dich selbst zu lieben und einfach zu sein.
Bei einer aufrichtigen Liebe bist du nachsichtig mit den Makeln des anderen oder übersiehst sie. Bei der Liebe zum Körper können wir zum Beispiel das Wörtchen »zu« streichen: zu dick, zu dünn, zu alt, zu faltig. Ohne das »zu« ist jeder Körper einfach so, wie er ist. Lieben wir unseren unperfekten Körper – immer wieder staunend und voller Freude über das Neue. Du blickst dann von innen, aus dem Herzen, nicht mit dem öffentlichen Blick der Welt. Das Paradoxe dabei ist: In dem Moment, in dem du deinen Körper annimmst, wird er vollkommen. Denn wir sind vollkommen, wenn es nichts mehr zu verstecken gibt – und nicht, wenn alles perfekt ist. Das ist die Kunst der Liebe.
Wie Körperidealbilder uns schaden
Doch die Idealbilder des Körpers begleiten uns an jedem Tag: Das Model schreit uns dieses Idealbild vom riesengroßen Werbeplakat zu, aus der hochglänzenden Magazinseite springt es uns entgegen, im Artikel über die neueste Diät wird es uns vorgehalten: »Du könntest schöner, schlanker, jugendlicher und fitter sein.« Die Außenwelt erzählt uns, wie wir sein sollten, mit einer Norm, die zufällig zurzeit hier bei uns gilt – nicht in Afrika oder Asien, nicht vor zweihundert Jahren. Gerade seit ein paar Jahrzehnten lieben die Modeschöpfer dünne, androgyne, schmalhüftige Models. Wer zum aktuellen Maß passt: Glück gehabt. Wer anders veranlagt ist, hat Pech gehabt. Und quält sich oft sein Leben lang vergeblich, um abzunehmen.
Ich hatte gerade eine Teilnehmerin, die uns erzählte, dass sie sich keine Minute in der Öffentlichkeit bewegt, ohne die Blicke der anderen auf sich zu wähnen, die ihre ausladende Figur abfällig betrachteten. Im heißen Sommer hätte sie oft gerne ein Eis gegessen, doch sie stellte sich vor, wie andere das kommentieren würden: »Na, die hat‘s nötig, die sollte sich mal lieber zurückhalten«. Und eigentlich dachte sie über sich genauso. Als sie nicht mehr auf eine schlanke Version ihrer selbst hoffte, begann, mit erhobenem Haupt zu ihrer Figur zu stehen und sich innenorientiert um ihren Körperselbstwert kümmerte, vergaß sie in der Folge die Blicke der anderen – und konnte interessanterweise gerade dadurch ihr Frustessen beenden.
Aber nicht nur die Blicke anderer können uns aufbauen oder demotivieren. Auch die eigenen.
Leben ohne Spiegel
Frauen blicken zwischen 43- und 71-mal am Tag in irgendwelche Spiegel. Die Professorin für Soziologie an der University of Nevada, Dr. Kjerstin Gruys, hatte das satt und führte ein Selbstexperiment durch: Für ein Jahr verbannte sie alle Spiegel aus ihrem Blickfeld. Was passierte? Sie lernte, sich von innen schön zu fühlen. Sie entwickelte einen stabileren, innenorientierten Körperselbstwert, fokussierte sich mehr und mehr auf ihre Arbeit und ihre Freundschaften und darauf, anderen Menschen mehr zu vertrauen und sich in Beziehungen aufgehoben zu fühlen. Sie hatte mehr Energie und Konzentration für Wesentliches, Oberflächliches wurde nebensächlicher.
Unsere Welt ist voller Spiegelbilder, denen wir mehr oder weniger gewollt ständig begegnen: im Bad, im Flur, unterwegs in den Schaufenstern, in der Umkleidekabine, auf dem WC im Restaurant. Wie wäre es, wenn du seltener oder eine Weile gar nicht mehr in den Spiegel schaust? Das kann besonders dann interessant sein, wenn dein Blick in den Spiegel eher kritisch und missgünstig ausfällt und dazu führt, dass du dich weniger schön und »richtig« fühlst.
Der liebende Blick
Wie bewertest du das Aussehen von Leuten auf der Straße, im Café, auf Facebook-Fotos? »Uahh, hat die tiefe Falten«, »Der sieht aus wie ein Fass«, »Also, um die Hüften ist sie aber wirklich fett«. Wie wir über andere denken, so denken wir über uns selbst. Deshalb sind unsere Blicke auf andere ein wunderbares Feld zum Einüben eines liebenden Blickes. Wir können unseren Schönheitsbegriff weiten. Der liebende Blick sieht durch die Hülle eines Menschen hindurch. Dort findest du das »Wesen«, das bei jedem Menschen unverkennbar und einzigartig ist, mit einer ebenfalls einzigartigen Ausstrahlung. Wenn du das übst, wirst du merken, wie du dich bald auch selbst liebevoller betrachtest und einen Sinn für die Schönheit deines Wesens entwickelst. Diese Schönheit deines Wesens mit seiner einzigartigen Ausstrahlung erstrahlt.
Der liebende Blick sieht durch die Hülle eines Menschen hindurch. Die Schönheit des Wesens mit seiner einzigartigen Ausstrahlung erstrahlt. Du wirst schön, wie von selbst.
Körperblicke
Finde in deinem Alltag mehr darüber heraus, wie du dich von anderen betrachtet fühlst:
Erforsche deinen Blick in den Spiegel.
Wie und wozu siehst du dich im Spiegel an?
Ich mäkele an mir rum. / Ich bin immer kritisch. / Ich finde immer was an mir auszusetzen, ich suche regelrecht nach Makeln. / Ich freue mich schon auf den nächsten Spiegelblick. / Es baut mich auf, weil ich damit bestätigt bekomme, dass ich schön bin.
Werde unabhängig vom Blick in den Spiegel: Mal sehen, was passiert:
Hänge deine Spiegel zu Hause ab oder verhänge sie mit Tüchern, nutze höchstens einen kleinen Spiegel für Details im Gesicht, schau in die Gegend statt ins Schaufensterspiegelbild.
Ich bin dadurch freundlicher mit mir selbst geworden. / Ich vergesse öfter mal am Tag, an mein Aussehen zu denken: eine Entlastung! / Ich habe mehr Zeit für anderes.
Achte darauf, wie du das Wesen anderer erkennst, indem du durch ihre Hülle – das Äußere – hindurchblickst und ihre Ausstrahlung und Wirkung wahrnimmst:
Sie hat eine warme, freundliche Ausstrahlung. / Er wirkt wie ein fröhliches Kind. / Auf den ersten Blick ein tätowiertes Muskelpaket, aber dahinter wirkt er fein, hell und sanft. / voller Schalk
Und nun verlassen wir die Welt der Blicke im Zusammenhang mit dem Körperselbstwert, und es wird spürbarer und im wörtlichen Sinne greifbarer.
Selbstberührung
Über unsere Haut, unser größtes Sinnesorgan, reagieren wir mit Freude und Beruhigung auf stimmige Berührungen: Wenn die Kollegin kurz freundlich die Hand...