EINLEITUNG
Experimente haben vor Kurzem ergeben, dass Psilocybin, ein Bestandteil, den man in halluzinogenen Pilzen gefunden hat, die Furcht vor dem Tod bei Krebspatienten im Endstadium reduzieren kann. Die Droge vermittelt »das Verständnis, dass im Großen und Ganzen betrachtet alles gut ist«, sagte der Pharmakologe Richard Griffiths in einem im Jahre 2016 geführten Interview.1 Testpersonen berichteten von dem Gefühl, »der Vernetzung aller Menschen und Dinge, von dem Bewusstsein, dass wir mit allem eins sind.« Manche behaupteten, während ihrer psychedelischen Reise eine Pseudo-Todeserfahrung gemacht zu haben, »dem Tod direkt ins Auge gesehen« zu haben »… wie bei einer Anprobe«, wie Michael Pollan es in einem Bericht des New Yorker über diese Experimente formulierte.2 Dieses Zusammentreffen wurde nicht als makaber oder beängstigend erlebt, sondern als befreiend und positiv.
»Im Großen und Ganzen betrachtet ist alles gut.« Das klingt sehr nach der Botschaft, die Lucius Annaeus Seneca den römischen Lesern Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus vermitteln wollte. Er stützte sich dabei allerdings eher auf die Stoische Philosophie als auf organische Halluzinogene als Methode, einen Blick auf diese Wahrheit zu werfen. »Die Vernetzung aller Menschen und Dinge« war ebenfalls eines seiner Hauptthemen, genauso wie die Vorstellung, dass man im Verlaufe seines Lebens für den Tod proben sollte – denn das Leben, richtig verstanden, sei in Wirklichkeit nur eine Reise, die dem Tod entgegenführe; wir sterben, so Seneca, jeden Tag, vom Tag unserer Geburt an. In den Passagen, die in diesem Büchlein zusammengestellt wurden, und die aus acht verschiedenen Werken mit ethischem Gedankengut stammen, sprach Seneca zu bestimmten Personen – und durch sie zur Menschheit im Allgemeinen – über die Notwendigkeit, den Tod zu akzeptieren bis hin zu dem Punkt, das eigene Leben zu beenden, und zwar mit einer Offenheit, die zu seiner und unserer Zeit ihresgleichen sucht.
»Studiere stets den Tod«, riet Seneca seinem Freund Lucilius, und diesen Rat beherzigte auch er selbst. Angefangen von seinem wahrscheinlich frühesten Werk, der Trostschrift an Marcia (verfasst um das Jahr 40 n. Chr.), bis hin zu dem großen Opus seiner letzten Jahre (63–65), den Briefen an Lucilius, kam Seneca wieder und immer wieder auf dieses Thema zu sprechen. Es durchzieht auch vollkommen andere Abhandlungen, als hätte er es nie aus den Augen verloren; die eindringliche Befürwortung vernunftgeleiteten Selbstmords taucht beispielsweise unvermittelt in einem Ratschlag über die Selbstbeherrschung in seiner Schrift Über den Zorn auf. Wenn man sie gemeinsam untersucht, wie in diesem Band, gruppieren sich Senecas Gedanken um ein paar Schlüsselthemen: die Allgemeingültigkeit des Todes; seine Bedeutung als finales und entscheidendstes Übergangsritual des Lebens; seinen Anteil an rein natürlichen Zyklen und Prozessen; und seine Fähigkeit, uns zu befreien, indem er die Seele vom Körper befreit oder – im Falle des Selbstmords – uns einen Ausweg aus dem Schmerz, aus dem Joch der Sklaverei oder aus der Demütigung durch grausame Könige und Tyrannen bietet, die anderenfalls unsere moralische Integrität untergraben würden.
Dieser letzte Punkt hatte für Seneca und seine ursprünglichen Leser einen besonderen Nachklang, denn oft hatten sie miterleben müssen, wie Tod oder Demütigung auf Geheiß eines Herrschers über sie kam. Als Politiker und Philosoph war der junge Seneca Ende der Dreißigerjahre nach Christus Senator gewesen, als Caligula dem Wahnsinn anheimfiel und jene misshandeln ließ, denen er misstraute; in den Vierzigerjahren, unter Claudius, wurde Seneca selbst in einem politischen Showverfahren zum Tode verurteilt, aber das Urteil wurde in einen Exilaufenthalt auf der Insel Korsika umgewandelt. Nachdem man ihn nach Rom zurückberufen und dem jungen Nero als Berater an die Seite gestellt hatte, verbrachte Seneca die Fünfziger- und den Anfang der Sechzigerjahre am kaiserlichen Hof und beobachtete, wie Nero immer weiter den Verstand verlor und schließlich Familienmitglieder, die er als Bedrohung wahrnahm, ermorden ließ. Schließlich wurde er (wahrscheinlich fälschlich) der Beteiligung an einem gescheiterten Attentatsversuch verdächtigt und zog ebenfalls Neros Zorn auf sich. Im Alter von etwa sechzig Jahren wurde er im Jahre fünfundsechzig nach Christus gezwungen, Selbstmord zu begehen.
Roms jahrhundertealte Regierungsform, in der ein princeps oder »erster Mann« inoffiziell, aber dennoch beinahe absolute Macht innehatte, entpuppte sich insbesondere unter der Herrschaft Caligulas als Autokratie. Als erster Berater Neros, ein Amt, das er länger als ein Jahrzehnt bekleidete, diente Seneca pflichtschuldigst den Erfordernissen des Systems und gelangte dadurch zu Wohlstand, was ihm von seinen Zeitgenossen (und auch von modernen Lesern) vorgeworfen wurde. Aber die Philosophie bot ein Gegengift zur toxischen Atmosphäre des kaiserlichen Palastes. Seneca veröffentlichte auch während seiner fünfzehn Jahre an Neros Seite Abhandlungen, gab Freunden und anderen Senatoren ein größeres, moralisches Bezugssystem, um in diesen schweren Zeiten zu bestehen. (Er schrieb auch Verstragödien, von denen auch heute noch etliche vorhanden sind. Diese Werke, die sich im Ton deutlich von seiner Prosa unterscheiden, fließen in dieses Bändchen nicht mit ein.)
Seneca fand, wie viele belesene Römer seiner Zeit, dieses übergeordnete moralische Bezugssystem in der Stoa, einer griechischen Lehre, die im vorangegangenen Jahrhundert nach Rom und dort zur Blüte gelangt war. Die Stoiker lehrten ihre Anhänger, nach einem inneren Königreich zu suchen, dem Königreich des Geistes, wo das Festhalten an Tugend und Naturbetrachtung selbst dem misshandelten Sklaven, dem armen Exilanten oder dem Gefangenen auf der Folterbank Glückseligkeit bringen konnte. Wohlstand und gesellschaftliche Stellung wurden von den Stoikern als adiaphora, als »Gleichgültiges« betrachtet, das weder zum Glück noch zu dessen Gegenteil beitrug. Freiheit und Gesundheit waren nur insofern wünschenswert, als sie dem Einzelnen erlaubten, seine Gedanken und ethischen Entscheidungen in Harmonie mit dem Logos zu halten, der göttlichen Vernunft, die aus Sicht der Stoiker den Kosmos beherrschte und zu wahrer Glückseligkeit führte. Wenn die Freiheit von einem Tyrannen oder der Gesundheit unterminiert wurde und dadurch für immer verwirkt war, so dass den Maßgaben der Vernunft nicht mehr Folge geleistet werden konnte, dann war in ihren Augen der Tod dem Leben vorzuziehen, und die Selbsttötung, oder die Selbst-Euthanasie konnte gerechtfertigt sein.
Seneca erbte dieses stoische Denksystem von seinen griechischen Vorfahren und seinen römischen Lehrern, gab den Lehren aber eine neue Bedeutung hinsichtlich der Arten des Todes und insbesondere in Bezug auf den Selbstmord. In der Tat erhält dieses letzte Thema in seinen Schriften einen neuen Stellenwert, der weit über das hinausgeht, was man in anderen stoischen Abhandlungen – wie den Lehrgesprächen des Epiktet oder den Meditationen von Mark Aurel – findet. Wir modernen Leser müssen dabei im Kopf behalten, dass Seneca als politischer Insider unter zwei der schlimmsten Herrscher Roms häufig Zeuge von Selbsttötungen wurde, wie er sie in seinen Essays beschreibt. Caligula und Nero und in der Tat sämtliche Herrscher der julisch-claudianischen Dynastie forderten von ihren politischen Gegnern regelmäßig, sich das Leben zu nehmen, wobei sie damit drohten, sie ansonsten nicht nur hinrichten zu lassen, sondern auch ihren Besitz zu konfiszieren. Seneca war Zeuge zahlreicher erzwungener Selbstmorde, und so kommt er immer wieder auf das Thema zurück, ob und wann man sich dem Schmerz oder der politischen Unterdrückung entziehen sollte.
Auch in anderer Hinsicht war Seneca mehr als ein reiner oder doktrinärer Anhänger der stoischen Lehren. Zeitweise macht er Anleihen bei den Epikureern, einer konkurrierenden gedanklichen Schule, indem er die Vorstellung äußert, dass der Tod nur die Auflösung in die einzelnen Bestandteile sei, die als Teile anderer Substanzen ein neues »Leben« bekämen. Gelegentlich klingen bei ihm auch platonische Töne an, wenn er über die Unsterblichkeit und die unendliche Wiedergeburt der menschlichen Seele spricht. Er hatte keine feste Vorstellung hinsichtlich des Jenseits, außer derjenigen, dass es nichts Beängstigendes hat, und dass die Visionen von Ungeheuern und Qualen im Hades, die von den Dichtern verbreitet wurden, nur leere Fantasiegebilde seien. Auch im Hinblick auf seine Einschätzung der Selbst-Euthanasie schwankte er: Zeitweise lobte er diejenigen, die einen schmerzhaften Tod oder eine Hinrichtung durch ihren Freitod verhinderten, in anderen Fällen bewunderte er jedoch die Standhaftigkeit jener, die sich weigerten, diesen Weg zu gehen. Selbst im Falle des Selbstmords, den er generell einem moralisch verwerflichen Leben vorzieht,...