Lerne, im Hier und Jetzt zu leben, und werde dir der Vergänglichkeit bewusst
»Wenn ich endlich in Rente bin, werde ich das alles nachholen. Sind ja nur noch zwölf Jahre. Bis dahin muss ich das halt noch durchhalten.« Kommt Ihnen dieser Satz nicht irgendwie bekannt vor? Die Idee, dass das Leben in diesem Augenblick zwar noch nicht optimal ist, aber in absehbarer Zeit doch noch besser werden wird? Sie leben unter der Woche für das Wochenende und am Wochenende in der Angst vor der Arbeitswoche? Und in all den Wochen des Jahres für den Urlaub oder gar für die Rente, in der Sie dann endlich alles nachholen wollen, was Sie bis dahin zu versäumen glauben?
Mal ganz ehrlich: Wie oft haben Sie Dinge, die Sie unbedingt tun wollten, auf später verschoben? Aus Rücksicht auf andere, weil der Moment unpassend gewesen wäre oder weil … ja, warum eigentlich? Und wie oft haben Sie das, das Ihnen einst so wichtig schien, dann später auch wirklich getan? »Selten«, höre ich Sie da sagen. »In Wirklichkeit viel zu selten.« Und wie oft haben Sie zu sich selbst gesagt: »Schön ist es da, wo ich jetzt gerade bin; gut, dass ich genau das tue, was ich gerade tue; schön, dass es dieses mein Leben gibt. Egal was gestern gewesen ist, egal was der nächste Tag, die nächste Stunde, die nächste Minute vielleicht bringen wird, es ist einfach gut, dass es genau diesen Moment gibt. Dass ich ihn erleben darf.« Höre ich Sie gerade wieder »selten« sagen? »In Wirklichkeit viel zu selten«?
Das Leben steckt im Augenblick
Hier beginnt nun das Shaolin-Prinzip der Gegenwart. Es fängt hier und jetzt an, in genau dieser Sekunde, an genau dem Ort, an dem Sie sich jetzt gerade befinden.
Das Shaolin-Prinzip lehrt uns, den Augenblick anzunehmen. Alles, was mit ihm zusammenhängt, zu akzeptieren. Anzunehmen, was ihn hat entstehen lassen, anzunehmen, was aus ihm entstehen wird. Den Moment zu akzeptieren, ohne ihn zu beurteilen. Ihn nicht mit der Vergangenheit und auch nicht mit der Zukunft zu vergleichen. Nach dem Shaolin-Prinzip leben bedeutet, in diesem Augenblick zu leben, diesen speziellen Moment als einen wunderbaren, kostbaren, vergänglichen Teil des Lebens zu betrachten.
In einer der wichtigsten Schriften des Judentums, dem Tal-mud, heißt es: »Auch eine gelebte Stunde ist Leben.« Was fraglos richtig ist. Die Mönche des Shaolin-Klosters gehen hier aber noch einen Schritt weiter. »Nicht nur jede gelebte Stunde, jeder gelebte Augenblick ist Leben«, heißt es dort.
Leben im Hier und Jetzt bedeutet, den Moment einzufangen, ihn dankbar anzunehmen, um ihn sofort darauf wieder herzugeben. Sich darüber klar zu werden, dass kein einziger Moment unseres Lebens, ob wir ihn schätzen oder achtlos vorüberziehen lassen, jemals wiederkommen wird.
Leben im Hier und Jetzt bedeutet, sich des Augenblicks und dessen Vergänglichkeit bewusst zu werden.
Es bedeutet, zu verstehen, dass wir jedem Augenblick, ob er uns gerade glücklich macht oder traurig, zufrieden oder begierig, fröhlich oder zornig, jene Achtung zukommen lassen müssen, die ihm gebührt: die Achtung als ein Teil unseres Lebens.
Der Weise und der Tiger
Jeder Novize des Klosters kennt die Geschichte eines weisen Mannes, der eines Tages auf einem Hochplateau spazieren geht. Plötzlich hört er in einiger Entfernung hinter sich einen fauchenden Tiger, der offensichtlich auf ihn zukommt. Um dem Tier zu entkommen, läuft er, so schnell er kann, rennt aber geradewegs auf einen Abgrund zu. Der Tiger kommt immer näher. In seiner Not drückt sich der Mann an den äußersten Rand und kommt dabei ins Rutschen. Im letzten Moment kann er sich noch an einer Wurzel festhalten. Doch über ihm der Tiger, unter ihm der Abgrund, es gibt kein Entkommen. Alle Fluchtwege sind versperrt. Da erblickt der Mann direkt vor seinen Augen eine wilde Erdbeere. Er pflückt sie, nimmt sie in den Mund und murmelt: »Wie köstlich, diese Erdbeere!« Das nenne ich im Augenblick leben! Auf den ersten Blick erscheint den meisten von uns das Verhalten des Mannes wohl befremdlich. Hat er in dieser Situation nichts Besseres zu tun, als über köstliche Erdbeeren nachzudenken? Sollte er sich nicht besser überlegen, welchen Lauf sein Schicksal in den nächsten Augenblicken nehmen wird? Sollte er das wirklich überlegen? Was würde es an diesem Moment ändern? Selbst wenn der Mann im nächsten Moment vom Tiger verschlungen wird oder in den Abgrund stürzt, warum soll er sein Leben nicht bis zum letzten Augenblick genießen? Warum sich nicht noch über die Erdbeere freuen?
Wenn wir den Moment annehmen wollen, ohne ihn zu beurteilen, dann dürfen wir ihn auch nicht verurteilen.
Kein Moment ist gut oder schlecht, er ist einfach. Denn auch wenn die Lage des Mannes nicht die beste zu sein scheint, kann aus jedem Augenblick ein anderer entstehen, der nichts mit unserer Erwartung zu tun hat. Weil wir den Ausgang der Geschichte nicht kennen, dürfen wir ihn selbst erzählen: Der Tiger verliert das Interesse an dem Mann und zieht ab. Wäre doch eine Variante, oder? Natürlich genauso eine wie die Möglichkeit, dass der Tiger den Mann verschlingt, aber eben eine Variante.
Nicht aber hätte dann die Erdbeere dem Mann das Leben gerettet und auch nicht sein Interesse an ihr. Nichts hat ihm das Leben gerettet. Der darauffolgende Moment hat nur unsere Erwartungen nicht erfüllt. Selbst wenn er sie aber erfüllt hätte wie in der anderen Variante, hätte ihn das deshalb besser oder schlechter gemacht? Kaum. Er war einfach da. Und der weise Mann hat ihn akzeptiert, wie er war.
Übungen
Ein Ausflug ins Hier und Jetzt
Beim Lesen sind wieder viele Moment vergangen, ohne dass es Ihnen wohl aufgefallen wäre. Zeit also, sich den Moment bewusst zu machen, ihn im Wortsinn zu erleben. Sind Sie bereit dazu? Gut. Jetzt lesen Sie bitte zuerst den folgenden Absatz zu Ende und legen dann das Buch beiseite, um den Augenblick zu erleben. Nein, nicht irgendwann, wenn dazu Zeit sein wird. Hier und jetzt.
Wenn wir den Moment bewusst erleben wollen, müssen wir ihn definieren. Wir könnten das mit dem Zeitabschnitt einer Sekunde tun, aber sie definiert nur Zeit, jedoch nicht Leben.
Wie wäre es mit einem Atemzug? Unterbrechen Sie bitte kurz, und achten Sie auf Ihren Atem. Das ist am Anfang gar nicht so einfach. Nehmen Sie Ihre Hand zu Hilfe, und legen Sie sie auf den Bauch.
Atmen Sie ganz bewusst, fühlen Sie, wie sich Ihre Lunge, die Brust, der Bauch und Ihr Unterleib mit Sauerstoff füllen.
Verharren Sie kurz, und lassen Sie den Atem wieder entweichen.
Spüren Sie das Heben und Senken Ihrer Hand? Den...