Seit der Verbreitung des Begriffs Shitstorm[13] durch den Blogger Sascha Lobo auf der Web-2.0-Konferenz re:publica im April 2010 taucht das Wort immer wieder in den Massenmedien auf. Fast wöchentlich breitet sich demnach ein neuer „Sturm der Entrüstung“ über das Internet aus. Um dem Phänomen näher zu kommen, werden im Folgenden fünf große, bekannte Shitstorms vorgestellt, die in den Massenmedien ausführlich behandelt wurden. Anschließend werden diese auf ihre gemeinsamen Merkmale hin analysiert, um das Phänomen Shitstorm – unter Zuhilfenahme existierender Definitionen – einzugrenzen. Aus diesem Blickwinkel erscheint der Shitstorm als Semantik, mit der die Gesellschaft bestimmte Phänomene beschreibt.
Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass eine gewisse Bandbreite an Shitstorms vertreten ist, sowohl in Bezug auf den Anlass als auch auf den Verlauf. Am Ende jedes Kapitels wird zudem auf ähnliche Shitstorms verwiesen. Dennoch wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Selektion nicht repräsentativ ist. Die Beispiele werden für die anschließende erste definitorische Eingrenzung des Phänomens und darüber hinaus im theoretischen Teil der Arbeit immer wieder für die Argumentation herangezogen.
2.2.1 Nestlé
Am 17.03.2010 lancierte die Umweltschutzorganisation Greenpeace eine (Social Media-)Kampagne gegen den weltgrößten Nahrungsmittelkonzern Nestlé „Ask Nestlé to give rainforests a break“.[14] Der Vorwurf lautete, dass Nestlé für die Produktion seines Schokoriegels „KitKat“ Palmöl verwende. Für die Palmölgewinnung würde Regenwald in Indonesien abgeholzt und damit einer der letzten Lebensräume von Orang-Utans zerstört. Dieser Zusammenhang wurde mithilfe eines provokanten Videos demonstriert: Ein Büromitarbeiter schreddert Unterlagen und gönnt sich eine Pause – Have a Break, Have a KitKat – in der er einen Schokoriegel gedankenverloren auspackt. Nur die anderen Büromitarbeiter im Video und der Zuschauer sehen, dass es sich bei der vermeintlichen Süßigkeit um einen behaarten Finger eines Affen handelt. Als der Mitarbeiter abbeißt, fließt ihm Blut aus dem Mund und spritzt auf die Tastatur seines Rechners: „Give the Orang-utang a Break.“[15] Das Video wurde auf YouTube online gestellt und war gleichzeitig auf der Internetseite und der Facebook-Seite von Greenpeace abrufbar mit der Aufforderung, das Video via Facebook und Twitter zu verbreiten. Am Abend desselben Tages, unmittelbar nach Beginn der Kampagne, veranlasste das Unternehmen die Sperrung des Videos auf dem englischsprachigen YouTube-Kanal. Zahlreiche Internetnutzer luden daraufhin das Video erneut hoch – das Video verbreitete sich nun viral. In der Folge gingen auf der Facebook-Seite von Nestlé tausende Protest-Kommentare ein: „Ich finde schade, dass sich Nestlé scheinbar nicht ernsthaft mit der Palmöl-Problematik auseinandersetzt – Kitkat ist für mich gestorben!“[16], „Urwald zerstören, Menschen vertreiben, Tiere umbringen – da schmeckt kein Riegel mehr.“[17] Einen Tag später verkündete das Unternehmen Nestlé, dass es die Verträge mit der Zuliefererfirma gekündigt habe und durch einen anderen zertifizierten, nachhaltigen Palmölproduzenten ersetze. Doch der Protest in den sozialen Netzwerken weitete sich aus, es kam zu Boykottaufrufen und auch die Massenmedien nahmen sich des Themas an. Es kam zu einer regelrechten „Unterwanderung“ der Facebook-Fanseiten von Nestlé und KitKat durch instruierte Aktivisten und Empörte.[18] Gleichzeitig begannen einige Fans auf Facebook veränderte Versionen des Nestlé-Logos bzw. der Produkt-Logos als Profilbild zu verwenden – so wurde zum Beispiel aus dem KitKat-Logo ein „Killer“-Logo. Die Reaktion der Administratoren kam prompt: „Die werden gelöscht“. Kritik an diesem Vorgehen wies Nestlé mit den Worten zurück, dass es ihre Facebook-Seite sei und sie die Regeln machen würden.[19] Die Fans begannen das Unternehmen immer heftiger zu beschimpfen: „#Nestlé, für mich schon immer ein Dreckskonzern, ünterstützt nicht nur Gentechnik sondern auch Regenwaldabholzung [sic!].“[20] Zwei Tage nach Kampagnenbeginn verschwand die englischsprachige KitKat-Seite auf Facebook mit über 750.000 Fans für kurze Zeit komplett.[21] Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Kommentare und Einträge in den sozialen Medien zum Thema Palmöl verachtfacht.[22] Zwei weitere Tage später lag die Anzahl an Nachrichtenartikeln zum Thema bereits über zweihundert. Berichtet wurde weltweit, so zum Beispiel auch in The Times.[23]
Insgesamt konzentrierte sich der Shitstorm am stärksten auf den Mikroblogging-Dienst Twitter.[24] Sechs Tage nach Beginn des Shitstorms beruhigte sich der „Sturm der Entrüstung“, der seinen Höhepunkt vom 17.03.2010 bis zum 22.03.2010 hatte und nach zwei Wochen komplett überstanden war.[25]
Ein ähnlicher Shitstorm ereignete sich im November 2012, als Tierschützer auf Facebook einen Shitstorm gegen EM-Sponsoren anzettelten. Der Vorwurf lautete, dass die Ukraine im Vorfeld des Großereignisses streunende Hunde und Katzen brutal getötet habe. Die Facebook-Nutzer griffen vor allem Adidas an und forderten das Unternehmen auf, sich als Sponsor zurückzuziehen. Es kam zu wütenden Kommentaren und Boykott-Aufrufen.[26]
Auch der Tierschutzverein Vier Pfoten e.V. nutzte die Empörung der Masse und löste im Juli 2013 mit einem YouTube-Video eines illegalen Bärenkampfes, bei dem es Pokale mit dem Logo der Tierfutter-Marke Royal Canin zu gewinnen gab, einen internationalen Shitstorm gegen den französischen Hersteller und Vertreiber von Hunde- und Katzenfutter aus. Der Vorwurf: Royal Canin sponsert illegale Bärenkämpfe in der Ukraine. In den sozialen Netzwerken kam es daraufhin zu zahlreichen Boykottaufrufen und Drohungen gegen die Firma und seine Mitarbeiter.[27]
2.1.2 Deutsche Bahn
Auslöser des Shitstorms war eine Werbeaktion der Deutschen Bahn (DB) auf Facebook: Für 25,00 Euro quer durch Deutschland mit dem „Chef-Ticket“. Die am 18.10.2010 eigens für den Verkauf des Tickets eröffnete Facebook-Seite hatte binnen kürzester Zeit 8.000 Fans. Allerdings nutzten viele Internetnutzer den Dienst ganz anders – die Seite wurde zu einer Art Beschwerde-Plattform. Gründe für die Unzufriedenheit mit dem Service der Deutschen Bahn gab es viele: der laufende Streik der DB-Mitarbeiter, Verspätungen, ausgefallene Züge, Stuttgart 21, schmutzige Züge oder mangelhafte Technik. Die Moderatoren der Facebook-Seite reagierten auf Kommentare zum Streik mit automatischen Antworten: „Details zur aktuellen Situation sind über die kostenlose Servicehotline 08000 996633 erhältlich.“ Bei kritischen Fragen blieb eine Antwort meist ganz aus – lediglich die Fragen zum Chefticket wurden zügig beantwortet. Kommentare wie „Scheiß Deutsche Bahn“ zeigen die Entrüstung der Kunden.[28] [29] Die Resonanz der Online-Nachrichtendienste war eher verhalten, allerdings berichteten viele Blogger und Magazine über den Shitstorm. Nach drei Tagen war der Shitstorm fast überstanden. Auf befriedigende Antworten warteten die Nutzer bis zum Schluss vergeblich. Die DB löschte drei Wochen später kommentarlos die Pinnwandeinträge auf der Fanpage und erklärte damit die Chefticket-Kampagne für beendet.[30]
Auch O2[31], die Telekom[32] und Vodafone[33] gerieten in einen Shitstorm, weil sich die Kunden aufgrund falscher oder überzogener Werbeversprechen bzw. schlechtem Service betrogen fühlten.
2.1.3 Pril
Unter dem Motto „Mein Pril - Mein Stil“ startete das Unternehmen Henkel am 01.04.2011 auf seiner Pril-Facebook-Seite eine Mitmach-Aktion für eine neue Design-Edition der Spülmittelflasche. Jeder Fan der Seite konnte mit seinem eigenen kreativen Designvorschlag an dem Wettbewerb teilnehmen und seine Meinung in Form von Likes oder Kommentaren kommunizieren. Mehr als 50.000 Entwürfe wurden eingereicht – meist Bilder von Schmetterlingen und Blumenwiesen. Vereinzelt gab es jedoch auch Designs mit Monstergesicht, Bratwurst oder Nasenbrille. Die Community durfte anschließend ihre Favoriten wählen – am Ende sollte eine vierköpfige Pril-Jury abstimmen. Ein krakeliges Grillhähnchen mit dem Spruch „Schmeckt lecker nach Hähnchen!“ entwickelte sich schnell zum mit Abstand beliebtesten Entwurf. Daraufhin reagierten die Verantwortlichen der Social Media-Kampagne mit einer Verschärfung der Teilnahmebedingungen: Von nun an wurden die Designs überprüft, bevor sie online gehen durften. Zudem wurden „die Votes der Top-Designs...