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Siebenknie

Eine Kindheit und Jugend in Kriegs- und Nachkriegszeiten

AutorGötz Schmidt
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783743156562
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,49 EUR
1945 - die Flüchtlinge aus dem Osten werden "einquartiert". Mitten hinein ins Leben einer noch ländlichen württembergischen Kleinstadt. Wir waren Fremde und blieben es lange. Als Flüchtlingskind, vaterlos aufwachsend, erlebte ich die Nachkriegszeit hinter den Fassaden und Legenden.

Götz Schmidt, geb. 1941 in Lodz/Polen. 1945 Flucht über Berlin nach Murrhardt/Württemberg. Abitur in Backnang. Studium in Tübingen, Berlin. Germanistik, Psychologie, Soziologie. Seefahrt auf Handelsschiff, Mittel und Nordamerika (Messesteward) . Bildungsreferent in der Landjugend Westfalen. Arbeit auf Bauernhöfen. Redakteur der "Bauernstimme". Dozent Uni Kassel Witzenhausen, Ökologischer Landbau. Seit 2006 Autor und Journalist.

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Leseprobe

Es war immer Winter.


Obwohl ich bei Flucht und Kriegsende schon dreieinhalb Jahre alt war, habe ich nur wenige Erinnerungen daran. Sie verwirren sich mit Erzählungen und Fotos, die mir gezeigt wurden.

Ich sehe Bomben-Flugzeuge zwischen Häuserschluchten. Der Asphalt der Straße brennt, auf der Straße liegen schwarze, verkohlte, zusammen geschnurrte Menschen. Wie bei Max und Moritz der Pfeifenraucher, dem die Pfeife explodiert ist.

Meine fünf Sinne sind wie auseinander geplatzt. Bilder ohne Ton. Die Leichen geruchslos. Der brennende Asphalt ohne Hitze. Das Heulen der Sirenen erinnere ich losgelöst von allen Bildern, als entsetzlichen an- und abschwellenden Lärm. Heute bin ich kurz vor einer Panik, wenn ich die Sirenen höre, weil ein Keller überschwemmt, oder ein Auto Öl verloren hat. Eine Angst ohne Bilder, ohne Erinnerung an die Situation, in der ich die Sirenen in Berlin und Murrhardt hörte.

Es gibt viele Geschichten, die mir über Krieg und Flucht erzählt wurden. Darin war es immer Winter. Ende Januar 1945 begann unsere überstürzte Flucht aus Polen, wenige Tage vor dem Einmarsch der Russen. Die Parteibonzen, die jede Vorbereitung auf die Flucht als „Wehrkraftzersetzung“ verfolgt und verhindert hatten, waren schon Tage vorher bequem im Zug oder ihren Autos abgereist. Mein Vater war tot. So floh meine Mutter allein, mit meiner Schwester im Kinderwagen und mit mir an ihrer Hand. Bei Minus 20 Grad fuhren wir zwei Tage und zwei Nächte auf offenen Fuhrwerken mit Pferden. Dann im offenen Güterwagen, und zuletzt bis Frankfurt/Oder im Packwagen eines Personenzuges. Das Essen war gefroren, die Züge überfüllt. Das Schrecklichste war die Gefahr, dass die Familie im brutalen Gedränge der Flüchtenden auseinander gerissen wird.

Bei meinem Großvater David geschah dies. Sein Treck wurde von den Russen beschossen und auseinander gerissen. Er allein konnte sich retten. Seine Frau, die Schwiegertochter und mein drei Jahre alter Vetter Klaus wurden nach Kasachstan verschleppt.

In Berlin herrschte Hungersnot, wir aßen Futterrüben. Trotz Fliegeralarm ging meine Mutter in Berlin nicht mehr mit uns in den Keller, wir blieben in der Wohnung, während die Bomben fielen und die Häuser brannten. Später sagte sie uns zwei Gründe dafür. Sie hätte den Mut verloren gehabt, sie wollte nicht mehr. Ein anderes Mal hörte ich von ihr, dass die Keller voll waren, die Flüchtlinge wurden abgewiesen.

Ende März 1945 begann unsere Flucht aus Berlin nach Murrhardt in Württemberg. Eine Odyssee mit dem Zug durch ganz Deutschland, zu Fuß über zerstörte Eisenbahnbrücken. Meine Schwester im Kinderwagen, ich schon zu Fuß.

Als Kind fand ich diese Geschichten abenteuerlich und aufregend. Und heute staune ich darüber, wie hart gesotten Kinder sind, wenn nur die Mutter bei ihnen ist.

Tagebuch


Das Tagebuch meiner Mutter bricht mit dem Ende der Flucht ab. Worte für ihre Gefühle finden sich darin nicht. Ihre Sorgen gelten den Kindern. Mitten im Chaos der Flucht aus Polen im Januar 1945 findet meine Mutter bemerkenswert, dass der obere linke Backenzahn bei meiner Schwester herauskommt, wir alle schrecklichen Husten haben und alles Essen im offenen Güterwagen gefroren ist. Während des Bombenkrieges in Berlin, als wir nicht mehr in den Luftschutzkeller gingen, bekam meine Schwester das 3. Backenzähnchen. Nach der drei Tage dauernden Flucht aus Berlin Ende März 1945 in überfüllten Zügen, kamen wir endlich nach achtmaligem Umsteigen in Murrhardt an. Meine Mutter notiert:

„Hier ging es uns gut und wir hatten schönes Essen und vor allen Dingen Ruhe. Nur Tieffliegeralarm, Bahnbeschuss.“

Wir bekamen Masern, starke rote Flecken, sehr bösen Husten und meine Schwester den 4. Backenzahn unten rechts.

Tante Lizzes Tod


In dem benachbarten Dorf Siegelsberg wurde ein anderes Schwäbisch gesprochen. Die Dialektgrenze zu einem Schwäbisch mit fränkischem Einschlag verlief durch diese Gemarkung. Um ein ungewöhnliches „ua“ herauszubringen und an den unmöglichsten Stellen in den Wörtern unterzubringen, musste der Mund schief verzogen werden. Die Lippen hingen dabei herunter. Die Kinder des Dorfes wurden in unserer Schule deshalb gehänselt. Ich spielte nie mit diesen Kindern, kannte die Gemarkung nicht und bin auch später nie wieder dort hingegangen. Die Landschaft Siegelsbergs war mir unheimlich. Der Grund dafür war der Tod meiner Tante Lizze (Alice).

In den letzten Kriegstagen wollte meine Mutter aus Murrhardt fliehen und uns in dem Bunker auf der Straße nach Siegelsberg verstecken. Meine Mutter fürchtete sich vor den „Negern“ in den anrollenden amerikanischen Truppen. Überstürzt, mit wenigen Habseligkeiten und meiner jüngeren Schwester im Handwagen, gingen meine Mutter und Tante Lizze in Richtung Siegelsberg. Auf dem Weg wurde unsere kleine Gruppe von Tieffliegern mit Maschinengewehren und Granaten angegriffen. Meine Tante Alice wurde vor meinen Augen getötet.

Ich weiß nichts mehr darüber, wie meine tote Tante aussah, was wir taten, wie wir schrieen. Als einzige Erinnerung an dieses Ereignis blieb mir ein lautloses Bild der Straße und des weiten Tals mit dunklem Waldrand.

„Das war auf dem Weg nach Siegelsberg“. Das sagte meine Mutter, wenn später über den Tod Tante Alices geredet wurde. Eine Wegbeschreibung wurde zu meiner Erinnerung an das schrecklichste Ereignis des Krieges.

Die Geschichte wuchs sich zu einem Familientrauma aus. Selten wurde darüber gesprochen, doch soviel konnte ich verstehen: Meine Mutter fühlte sich schuldig am Tode meiner Tante, schuldig wegen ihrer Angst vor den „Negern“. Schuld am Tode der Pflegetochter des Uhrmachers Carl Pharion. Tante Alice war die Briefpartnerin und Freundin meiner Mutter, als sie noch in Bessarabien lebte. Sie hatten sich gegenseitig besucht. Beide fuhren als Studentinnen mit dem Fahrrad durch Deutschland. Bei einem HJ-Treffen in Nürnberg schüttelten sie Hitler die Hand. Auf einem Foto spaziere ich mit ihr auf der Straße, die Hände im Rücken verschränkt. Bevor wir beim Eisenwarenhändler einquartiert wurden, hatte der Uhrmacher Pharion uns die erste Unterkunft in einem Zimmer seines Haus gewährt. Hier wurden wir mit großer Freundlichkeit aufgenommen und nun hatten wir alles zerstört.

Als Kind konnte ich nicht verstehen, warum meine Mutter solche Angst vor den „Negern“ hatte. Über die Erfahrungen der Frauen mit den Russen, über Vergewaltigungen wurde nicht gesprochen. Ich hätte auch nicht gewusst, was das ist. Bei uns Kindern waren die „Neger“ die Beliebtesten unter den Amis. Sie waren freundlich, sie gingen so lustig und beschenkten uns.

Liesbeth, die oben im zweiten Stock beim Bäcker wohnte, hatte einen „Neger“ zum Freund. Damit, so hieß es, hat sie großes Glück gehabt. Denn schön war sie nicht.

USA, das heißt Amerika.


Als die Amis in Murrhardt durch die Straßen fuhren, stand ich am Straßenrand und rief Tschewing-Gum, Tschewing-Gum. Die Amis warfen Kaugummi, Schokolade und einmal sogar eine Dose Kakao herunter. Sie trugen Uniformen und Schnür-Stiefel, die nach Kampf aussahen, nicht nach Strammstehen wie die albernen Reithosen unserer Soldaten mit ihren polierten Lederstiefeln und steifen Schirmmützen. Pferde hatten die Amis nicht mehr. In ihren offenen Jeeps hingen sie lässig herum, fuhren durch Murrhardt, lachten und waren freundlich. Einmal sah ich einen, der die Füße mit Stiefeln auf den Tisch legte.

Von nach Amerika ausgewanderten Deutschen bekamen wir Flüchtlinge „Kär“-Pakete geschickt. Darin waren so unglaubliche Dinge wie Milch- und Kakaopulver und Cornedbeaf. Auf dem Paket, das wir unter dem Bett aufbewahrten, stand in großen Buchstaben „USA“. Stolz verkündete ich meinen Freunden: „USA, das heißt Amerika“.

Nur kurze Zeit stand vor unserem Haus wie ein Fabelwesen ein schwarzer Cadillac. Wenn ich aus dem Fenster herunterblickte, sah ich das ungeheure Blechgebirge mit hellen Ledersitzen und weißen Streifen auf den Rädern. Es hieß, dass dieser „Ami-Schlitten“ 40 Liter Benzin auf hundert km verbraucht. Der VW-Käfer war für uns seither lächerlich. Nicht weil er klein war, sondern weil er nur 5 Liter Benzin verbrauchte.

Meine Mutter, 30 Jahre alt


Außerhalb des oberen Friedhofs wurden die Kriegstoten Murrhardts beerdigt. Ich suchte nach dem Grab meiner Tante Lizze. Von der Gedenktafel erfuhr ich, dass sie mit 32 Jahren am 18. April 1945 starb. Einen Tag bevor die Amerikaner kamen und der Krieg in Murrhardt zu Ende war. Noch nie hatte ich darüber nachgedacht, wie alt sie war, als sie starb. Und ebenso war es für mich ohne jede Bedeutung, wie alt meine Mutter war, als sie 1945 mit uns zwei Kindern in Murrhardt als Flüchtling ankam. Jetzt rechnete ich es im Kopf aus: Sie war erst 30 Jahre alt. Mit 30 hing ich als Student in Berlin herum und lebte nicht schlecht von einem Stipendium.

Als Kind wusste ich nicht, wovon wir lebten. Ich wusste nur, dass wir arm waren. Meine Mutter, eine in...

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