2
ICH WÜRDE MICH GERNE MEHR WIE EIN SPORTLER FÜHLEN
DAS BESCHÄDIGTE DENKEN ÜBER UNSERE SPORTLERISCHE IDENTITÄT IN ANGRIFF NEHMEN
Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind. –ANAÏS NIN
»Erzähl mir etwas über dich als Sportler.« Die Antworten von Athleten auf diese einfache Frage würden Sie in helles Erstaunen versetzen. Oberflächlich betrachtet ist diese Frage eine Einladung, um über die Routine und messbaren Aspekte des Sportlerlebens zu sprechen: die Disziplin, in welcher der Sportler antritt, Art und Umfang des Trainings, neueste Ergebnisse, die persönlichen Rekorde und so weiter. Es ist jedoch viel aufschlussreicher, wie die Athleten über sich selbst sprechen – welche Begriffe sie verwenden, was sie als Erstes betonen, was als Zweites und vor allem, was sie gar nicht ansprechen. Hier drei Antworten von verschiedenen Sportlern:
Klar. Ich bin ziemlich gut. Wahrscheinlich wechsle ich bald ins Profilager. Ich habe als Mountainbiker angefangen und habe dort ein paar Jahre lang zur Elite gehört. Das habe ich aber hingeschmissen. Ein Typ, gegen den ich immer Rennen gefahren bin und den ich regelmäßig geschlagen habe, ist zu XTERRA gewechselt und hat sich da direkt ziemlich gut geschlagen. Vielleicht kennst du ihn [nennt den Namen eines Top-Profis bei XTERRA], ich kenne ihn recht gut. Jedenfalls habe ich es deswegen auch bei XTERRA probiert und war richtig schnell erfolgreich. Ich habe im [Rennen X] in meiner Altersklasse gewonnen und den dritten Platz bei den Nationalmeisterschaften geholt. Direkt in meiner ersten Saison habe ich mich für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Wüsste nicht, dass das außer mir schon jemand geschafft hat.
Dave, 27, Off-Road-Triathlet
Ich mache olympische Distanz und ab und zu mal einen Ironman 70.3. In den nächsten Jahren möchte ich gerne die Langdistanzen angehen, weil ich das Gefühl habe, dass ich dort mehr erreichen kann. Ich glaube nämlich, dass mir für die Kurzdistanzen einfach die Schnelligkeit fehlt. Ich bin sehr realistisch bei der Einschätzung, wie lange es dauert, um in einer Ironman-Distanz wirklich gut zu werden, aber ich möchte diese Stufe gerne erreichen. Ich bin sehr diszipliniert und habe einen enormen Antrieb. Meine Familie hält mich für etwas verrückt, aber sie versteht, wie sehr ich das alles liebe und kommt zu all meinen Rennen. Und das bedeutet mir viel.
Stephen, 44, Triathlet
Ich weiß nicht, ob ich mich als Athletin bezeichnen würde. Also, ich versuche, eine zu werden. Ich bin nur so endlos langsam. Ich bin wahrscheinlich diejenige, die den anderen im Weg rumsteht. Ich glaube, mir fehlt ein bisschen Selbstvertrauen. Mir macht das echt Spaß, aber … [lange Pause] … na ja, wenn ich da zum Beispiel an meine Gruppenläufe denke. Ich hasse es, immer abgehängt zu werden, nicht nur weil ich so langsam bin, sondern auch weil ich mich bei dem Gedanken, dass die anderen auf mich warten müssen, richtig beschissen fühle. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie alle so was denken wie: »Na toll, jetzt müssen wir schon wieder auf die warten.« Glaubst du, ich bin ein hoffnungsloser Fall? Arbeitest du nur mit Leuten, die schnell sind?
Katherine, 46, Läuferin
Das sind natürlich nicht die vollständigen Antworten von Dave, Stephen und Katherine, aber bei diesen Auszügen bekommt man schon ein Gespür dafür, wie sie über sich selbst als Sportler denken. Vielleicht können Sie sich sogar mit einem von ihnen identifizieren? Dass sie alle in praktisch jedem Gespräch, das wir mit ihnen führten, eine gleichbleibende Selbstwahrnehmung beibehielten, war ebenfalls sehr aufschlussreich. Dave ließ sich ständig darüber aus, wie toll er sei, Stephen war nachdenklich und realistisch und Katherine kritisierte sich permanent selbst. Man muss natürlich nicht jedes einzelne Wort, das jemand über seine Athletik sagt, auf die Goldwaage legen oder jeder Aussage bei einem eigentlich lockeren Gespräch über den Sport zu große Bedeutung beimessen. Wir glauben aber, dass die Art und Weise, wie jemand über seinen Sport und über sich als Sportler redet, ein Fenster zu seinem tief empfundenen Glauben, seinen Erwartungen und Erfahrungen ist. Natürlich gibt es auch Gesprächspartner, die überall versteckte Bedeutungen einbauen oder einem eiskalt ins Gesicht lügen. Im Kasten »Nerd-Alarm« finden Sie heraus, warum manche Menschen genau das tun.
NERD-ALARM!
Kognitive Verzerrung, Impression-Management und die Wissenschaft des Selbstbetrugs
»ICH WÜNSCHTE, mein Sportler wäre mir gegenüber einfach ehrlich.« Diesen Satz hat jeder Trainer mindestens schon einmal gesagt. Die Sportler sagen im Übrigen genau dasselbe über ihre Trainer. Wenn Sie so etwas sagen wie »Quatsch, mein Trainer/Sportler ist mir gegenüber immer ehrlich«, sind Sie auf dem Holzweg. Rein wissenschaftlich gesehen leiden Sie an einem Bestätigungsfehler mit einem Hauch von Illusion der Transparenz, aber das müssen wir hier nicht vertiefen. Die Wissenschaft hat ganz ausdrücklich gesagt, wie es wirklich ist: Wir alle sind Lügner und Manipulatoren. Diese Aussage müssen wir ein wenig verdeutlichen. Wir reden hier nicht von einer Art der vorsätzlichen und willkürlichen Täuschung, wie wir sie bei Gebrauchtwagenhändlern, untreuen Ehepartnern oder fiesen Kredithaien vorfinden. Die Art der Täuschung, über die wir hier sprechen, ist viel harmloser, selbstgesteuert und mühelos. Herzlich willkommen zu der aufregenden Wissenschaft der kognitiven Verzerrung!
Wenn Sie sich selbst davon überzeugen, dass Sie unbedingt das 10 000 Euro teure Superrad brauchen, um in Ihrer Altersklasse ein wettbewerbsfähiger Triathlet zu sein, leiden Sie an einer schweren Form von Selbstbetrug. Wenn Sie Ihren Trainer dafür verantwortlich machen, dass Sie nicht schneller geworden sind, obwohl Sie doch nur 60 Prozent der Runden absolviert haben, haben Sie einen etwas, sagen wir mal, freien Umgang mit der Wahrheit. Wissenschaftler bezeichnen diese kleinen Selbsttäuschungen als »kognitive Verzerrungen« und sie sind so normal wie das Atmen. Sie resultieren aus systematischen Fehlern in unserem Denken, die uns dazu bringen, auf die eine bestimmte Art zu denken oder zu handeln, auch wenn die Logik ein anderes Denken oder Handeln vorsehen würde.
Das menschliche Gehirn ist so anfällig für Selbsttäuschung, dass viele Wissenschaftler mittlerweile der Meinung sind, dass dies der Sicherung unseres Überlebens dient. Aus welchem anderen Grund sollten wir uns sonst auf 70 verschiedene Arten selbst belügen?9 Wissenschaftliche Studien belegen, dass wir unser eigenes Gehirn wesentlich öfter täuschen, als wir andere Menschen irreführen, und meistens merken wir es nicht mal. In der Regel ist dies nicht schädlich und vielleicht sogar »natürlich«, wir sollten uns aber zumindest ab und zu mal selbst kontrollieren, damit diese Selbsttäuschung nicht aus dem Ruder läuft (indem wir zum Beispiel Sachen kaufen, die wir uns eigentlich nicht leisten können).
Bei der Steuerung unserer Sportleridentität liegt eine kognitive Verzerrung ganz vorn: soziale Erwünschtheit. Dieser hochtrabende Begriff sagt nichts anderes aus, als dass wir dazu tendieren, den Menschen Dinge zu erzählen, die uns in ein gutes Licht stellen. Jeder gute Trainer weiß, dass die Aussage von Sportlern, sie würden »echt diszipliniert arbeiten«, mit Vorsicht zu genießen ist und man erst einmal die Beweise, die dieser Aussage folgen müssten, abwarten sollte, denn Athleten sprechen manchmal eine ganz andere Sprache als Trainer. Die soziale Erwünschtheit gehört zu einer Familie in der kognitiven Verzerrung, die kontrollieren will, wie wir von der Welt gesehen werden. Psychiater nennen das »Impression- Management«. Beinahe jeder von uns tendiert auf ganz natürliche Weise dazu, sich auf Impression-Management einzulassen, denn schließlich steht ja unsere äußere Identität auf dem Spiel (also unser Ansehen und unsere Persönlichkeit). Stellen Sie sich mal vor, jemand würde eine Software entwickeln, die permanent Daten an die Welt ausgeben würde, die die öffentliche Meinung über Sie fachmännisch steuern würde. Die Softwareentwickler wären ganz schnell Milliardäre! Nein, warten Sie mal – das Ding heißt Facebook beziehungsweise Impression-Management-Software. Denken Sie einfach mal daran, wenn Sie das nächste Mal einen Post von jemandem sehen, der einen Screenshot seiner Trainingsstatistiken postet. Wir beschäftigen uns in Kapitel 5 noch intensiver mit Impression-Management und dem Blödsinn, den die Leute auf Facebook treiben.
Ein Aspekt unserer Innenwelt ist unsere Sportleridentität, die sich aus dem Grad, zu dem wir uns selbst als »Sportler« betrachten, und inwieweit wir andere Menschen brauchen, um unseren Glauben an unsere Sportlichkeit...