MARIECHEN
Heller ist besser
»Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen,
der liest sie auf,
der bringt sie nach Haus,
der leert sie aus,
und der Kleine, der isst sie alle auf.«
Mama hat mich im Kinderwagen mit nach draußen genommen. Sie hält mir ihre Hand vor die Augen, wackelt mit einem Finger nach dem anderen, während sie mir den Reim vorsagt. Die Sonne scheint mir ins Gesicht; ich strecke meine Arme in die Höhe, drehe meine Händchen hin und her und lache, wenn Mama ihre Finger bewegt.
Wenn ich draußen bin, wo die Sonne scheint, kann ich Umrisse erkennen. Hier spiele ich am liebsten. Wenn ich in der Küche auf der Eckbank im Halbdunkel sitze, werde ich still. Ich bin noch kein Jahr alt.
»Das Kind hat was mit den Augen«, sagte Mama zu ihrer Schwester.
Das hat sie mir später haarklein so erzählt. Es war das erste Mal, dass sie merkte, dass ich nicht war wie alle anderen, weil ich nicht richtig sehen konnte.
Wir wohnten im Erdgeschoss des großen Bauernhauses, das meine Patentante von ihren Eltern übernommen hatte. Wir Kinder nannten sie die »Godi«. Wenn man zur Haustüre hereinkam und in den Flur trat, ging man direkt auf die Küche zu. Links neben der Küche lag unser Schlafzimmer. Papa, Mama, meine drei Jahre ältere Schwester Anneliese, Rita, drei Jahre jünger, und ich – wir alle schliefen in diesem Zimmer: vier Betten nebeneinander, dazu eine Frisierkommode und ein Schrank mit Anziehsachen.
Auf dem Schrank standen Gläser mit Kirschen, Mirabellen, Apfelmus, Erbsen und Karotten. Äpfel und Kartoffeln kamen ins »Äbbelbett«, auf die Regale in dem Vorratslager unter der Küche. Einen tiefen Keller gab es nicht, weil das Haus nahe am Bach stand. Den Lagerraum nutzten Mama und ihre Schwester gemeinsam. Mama half manchmal bei anderen Familien im Garten oder auf dem Feld, und was sie geschenkt bekam, kochte sie ein, wenn wir es nicht gleich brauchten. In der Küche wurde gegessen, gespielt und gebadet. Am Samstag kam die große Wanne herein; Mama wärmte auf dem Kohleherd Wasser, und dann schrubbten sich mindestens zwei von uns darin, bevor sie es wechselte.
Die Godi und ihr Mann wohnten mit ihren vier Kindern im ersten Stock. Sie hatten zwei ältere Töchter und Zwillinge: ein Mädchen und einen Jungen. Der Bub stotterte.
1939 – ich war gerade zwei Jahre alt – brachten meine Eltern mich ins Krankenhaus, um meine Augen untersuchen zu lassen. Die Krankenschwester zog mir die Kleider aus. Ich musste für Untersuchungen bleiben und Krankenhauskleider anziehen. Meine Sachen gab die Schwester meinem Vater mit. Nach zehn Tagen durften mich meine Eltern wieder abholen.
Als sie kamen, baten die Ärzte sie zu einem Gespräch. »Sie ist blind«, erklärten sie meinen Eltern.
»Nein«, wehrte sich meine Mutter, »das stimmt nicht. Sie sieht etwas.«
Sie wusste, wie gefährlich eine körperliche Behinderung im Dritten Reich war. Das war der Grund, warum sie beweisen musste, dass ich nicht blind war. Also knipste sie die Taschenlampe an, die sie mitgebracht hatte, und legte sie in eine Ecke auf den Boden. »Mariechen, bring mir die Taschenlampe«, befahl sie. Weil sie hell leuchtete, fand ich die Lampe schnell. Der Arzt notierte, dass ich nur einen Sehfehler hatte, und wir durften nach Hause.
Doch was sollte ich anziehen? Meine Kleider hatten meine Eltern mitgenommen ‒ und vergessen wieder mitzubringen. Da ging Papa in den Ort und kaufte ein Leinenkleid für mich. Es hätte einer Sechsjährigen gepasst. Papa sorgte vor. Pudelnackt steckte er mich in das viel zu große Kleid, band es unten zu und nahm mich Bündel auf den Arm. Meine Eltern wussten sich immer zu helfen.
Wenn sie dich holen
Papa musste weg. Das Deutsche Reich hatte den Krieg gegen Polen begonnen, und Hitler brauchte Männer zum Kämpfen. Papa war eigentlich Schneider. In Bad Kreuznach wurde er zum Soldaten ausgebildet. Ich war gerade drei Jahre alt, als er gehen musste.
Die Godi unterstützte Mama, die nun mit uns drei Mädchen alleine war. Mama half ihr mit Näharbeiten, darin war sie gut. Beide versuchten, mir alles im Hellen zu zeigen, und behandelten mich wie ein normales Kind. Mama erzählte öfter, dass sie mir, als ich drei war, vorschlug: »Du kannst im Schuppen Holz holen.« Sie zeigte mir, wie ich die Scheite für den Ofen in einen Weidenkorb schichten und dann in die Küche tragen sollte. Ab diesem Tag war das meine Aufgabe, und ich wurde stärker und stärker.
Übermütiger auch. »Ihr sollt mich mitnehmen«, bettelte ich bei Anneliese und den Nachbarsmädchen: »Ich will das auch ausprobieren.«
»Na gut, heute nehmen wir dich mit«, versprach meine ältere Schwester. Mama und die Godi waren einkaufen gegangen. Hinter dem Haus lag unser Garten, daneben ein Misthaufen, auf dem immer schwarze Käfer krabbelten. Zwischen unserem Grundstück und dem gegenüber floss ein Bach. Darüber hatten die Erwachsenen eine Holzbohle gelegt, eine Verbindung zu den Nachbarn, deren Garten tiefer lag. Wir schoben uns zu viert, eine nach der anderen, Hand in Hand, die Füße quer auf dem Brett, Richtung anderes Ufer. Die vier Meter lange Bohle bog sich unter unserem Gewicht und schwankte wie eine Hängebrücke.
Da wurde mir schwindelig, ich verlor das Gleichgewicht und riss die anderen fast zwei Meter tief in den Bach. Genau als Mama und die Godi heimkamen, krabbelten wir mit tropfnassen Haaren und dreckigen Kleidern die Böschung hoch. Anneliese hat Peng – also Schläge – für uns alle gekriegt, weil sie die Älteste war.
»Gut sein ist brüderlich, zu gut ist liederlich«, hieß Mamas Motto, und danach hat sie gehandelt.
Sie konnte aber auch weich sein. An Winterabenden, wenn wir im Dunklen in unseren Betten lagen und uns aneinanderkuschelten, erzählte sie uns Geschichten von Räubern, Zauberern und Feen, die in unserem Wald lebten. Sie dachte sich immer neue für uns aus. Wir durften in dieser Zeit abends kein Licht anschalten, damit die Flieger uns nicht fanden und die Bomben uns nicht auf den Kopf fielen.
Mariechen saß auf einem Stein,
einem Stein, einem Stein.
Da ging die Türe, klingeling.
Da trat der böse Ritter ein.
Der Ritter zog den Säbel raus.
Da ging die Türe, klingeling.
Da trat die liebe Mama ein:
Mariechen, warum weinest du?
Ich weine, weil ich sterben muss.
Der Ritter steckt den Säbel ein.
Jetzt lasst uns alle lustig sein![1]
Ich war etwa sechs Jahre alt, saß im Klohäuschen und sang. Dabei hielt ich mir die Ohren zu. Über den Hof zurück ins Haus durfte ich noch nicht. »Warte, bis die Flieger weg sind«, hatte Mama mir herübergerufen. Bei Fliegeralarm läuteten die Kirchenglocken für die Leute auf dem Feld. Noch gab es keine Entwarnung. Da kam schon der nächste mit einem Pfeifen, dass es in den Ohren stach. Jetzt saß ich hier und hoffte, dass das Klohäuschen nicht in die Luft flog. Die Flak stand in sechs Kilometern Entfernung und donnerte. Unter meinen braunen Ledersandalen knirschte es. Zwischen meinen Zehen pikste der Sand. Noch immer gab die Sirene keine Entwarnung.
Mein Blick fiel auf die Inschriften auf den Wänden. Großvater hatte das Klohäuschen aus alten Grabsteinen gebaut: »Ruhe in Frieden« – »Hier ruhen in Gott« – »Ruhe sanft«.
Meine Klassenkameraden konnten nicht glauben, dass wir kein Häuschen aus Holz hatten wie alle anderen, sondern eines aus Grabsteinen.
Es war nicht das einzige Mal, dass ich wegen der Flieger mehr Zeit im Klohäuschen verbringen musste, als ich wollte. Geduldig blieb ich sitzen und wartete, bis das Kreischen über meinem Kopf aufhörte und keine großen Vögel mit dumpfem Knall mehr vom Himmel fielen.
Manchmal träumte ich nachts, eine Bombe wäre in mein Bett gefallen, und dann wachte ich von meinem eigenen Geschrei auf und konnte nicht wieder einschlafen.
Ich fühlte mich nicht wohl dabei, wenn ich nachts im Dunkeln über den Hof aufs Klo musste. Aber bei meiner kleinen Schwester Rita war es noch schlimmer, sie hatte richtig Schiss. Wenn wir abends im Bett lagen – Rita und ich schliefen im selben – und Mama mahnte: »Jetzt wird nicht mehr geredet, jetzt wird geschlafen«, flüsterte Rita mir ins Ohr: »W – W – W – W – A.« Das war unser Code für: »Wer wach wird, weckt die andere.« Ich weckte sie nie, wenn ich musste, sie hätte mir leidgetan, aber wenn sie musste, ging ich nachts mit ihr über den Hof und leuchtete ihr den Weg mit der Taschenlampe.
Einen Sommer zuvor wäre fast etwas Schlimmes passiert. Erna und Gisela, Hans und Ingrid waren wie jeden Nachmittag aus dem Nachbarhaus zum Spielen herübergekommen. Der Sandhaufen an der Mauer bei uns im Hof war unsere Burg, die wir mit Stöckchen und Steinen verzierten. Den Burggraben hatte ich ausgehoben. Ich konnte schleppen wie ein Gaul. Ich hievte die Eimer voller Sand weg, damit der Graben noch tiefer wurde. Die anderen wollten auch schaufeln, wir hatten aber nur eine große Schaufel, und die gab ich nicht her. Rita saß neben der Burg und lutschte am Daumen. Sie war zwei. Karl und Christel, die Zwillinge meiner Tante, stritten um die kleine Schippe. »Gggggibbb mir endlich dddddie Schippppe«, stampfte Karl und zerrte. Doch Christel hielt sie fest. Ich war mit meinen fünf Jahren die Älteste, stand breitbeinig im Burggraben und gab an wie ein Sack Flöhe: »Ich habe den Sand gut auf die Seite geschaufelt, schaut mal, ich steh schon bis zu den Knien drin.«
So hatte ich mit nackten...