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E-Book

Sigmund Freud

Der Arzt der Moderne

AutorPeter-André Alt
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl1039 Seiten
ISBN9783406696893
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR

Kaum jemand hat ein ganzes Zeitalter durch sein Denken so tiefgreifend verändert wie Sigmund Freud. Nach Freud träumen und lieben, denken und phantasieren wir anders. Diese grandiose Biographie schildert Freuds Leben und die Entwicklung der Psychoanalyse als großen Roman des Geistes.
Wien im sinkenden 19. Jahrhundert: Eine bessere Kulisse für die Seelenleiden des modernen Menschen, für seine Existenzlügen und zerbrechenden Selbstbilder, als die prachtvoll morbide Hauptstadt des k.u.k.-Reiches ist kaum vorstellbar. Hier arbeitet der Nervenarzt Sigmund Freud an seinen bahnbrechenden Theorien zu Sexualität und Neurose, Traum und Unbewusstem, Familie und Gesellschaft, Märchen und Mythos. Peter-André Alt erzählt, gestützt auf unveröffentlichtes Material, von der Bewegung der Psychoanalyse, ihrem Siegeszug und ihren Niederlagen, und er portraitiert Freud als selbstkritischen Dogmatiker und wissenschaftlichen Eroberer, als jüdischen Atheisten und leidenschaftlichen Familienvater, als eminent gebildeten Leser und großen Schriftsteller, nicht zuletzt als einen Zerrissenen, der die Nöte der Seele, von denen die Psychoanalyse befreien sollte, selbst aus dunkler Erfahrung kannte.



<p>Peter-Andr&eacute; Alt, geb. 1960, ist Professor f&uuml;r Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universit&auml;t Berlin, die er seit 2010 als Pr&auml;sident leitet.</p>

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Leseprobe

Vorwort


4. Juni 1938, Wien, Berggasse 19: Sigmund Freud verläßt für immer seine Wohnung, in der er seit 47 Jahren ohne Unterbrechung gelebt hat. Sein Ziel ist London, wo zwei seiner Söhne, die älteste Tochter und ihr Ehemann ihn schon erwarten. Es war höchste Zeit für den Aufbruch, der letzte Moment für den Absprung, ehe sich die Tore noch fester schlossen. Drei Monate zuvor, am 12. März 1938, erfolgte der ‹Anschluß› Österreichs an das Deutsche Reich, organisiert von 65.000 Mann – Polizei und Militär –, die mit schweren Waffen in langen Kolonnen über die Grenzen marschierten. Freud war zwar auf die befürchtete Okkupation innerlich seit langem vorbereitet, jedoch nicht auf eine Flucht ins Ausland. Nur dem Drängen seines Schülers Ernest Jones, der eigens aus London über Prag nach Wien kam, ist es zu verdanken, daß er sich nach wochenlangem Zögern zur Abreise entschloß. Freud brach zunächst mit relativ leichtem Gepäck auf, aber er wußte, daß es eine Fahrt ohne Wiederkehr war. Möbel und Bücher blieben ebenso zurück wie die meisten Stücke der großen Antikensammlung, die das Arbeitszimmer zierten. Gestapelt in großen Kisten, warteten sie darauf, dem Exilanten wenige Wochen später zu folgen. Sie waren die stummen Zeugen für die Geschichte einer bahnbrechenden Wissenschaft, die am Schreibtisch in der Berggasse 19 über nahezu ein halbes Jahrhundert wuchs.

Seinem in London lebenden Sohn Ernst schrieb Freud kurz vor der endgültigen Emigration, im Mai 1938: «Es ist Zeit, daß Ahasver irgendwo zur Ruhe kommt.»[1] Das scheint ein merkwürdiges Selbst-Bild zu sein, wenn man bedenkt, wie seßhaft Freud tatsächlich war. Niemals lebte er als Erwachsener außerhalb Wiens; sein Urlaub führte ihn zumeist in die nähere Umgebung der Stadt, gelegentlich nach Italien, sehr sporadisch nach England. Die Vereinigten Staaten hat er ein einziges Mal besucht, weitere Fernreisen niemals unternommen. Ein Ahasver war er nur im Blick auf seine – allerdings ambivalent begründete – jüdische Identität, die er in wachsendem Lebensalter stärker wahrnahm und kultivierte, weil er begriff, daß sie sein Denken intensiver beherrschte, als er ursprünglich vermutete. Im übrigen bezeichnete das Bild eine tiefe Todessehnsucht, die ihn in den letzten Jahren machtvoll erfaßte. Der ‹Ahasver› Freud war ein jüdischer Gelehrter, der im Alter von 82 Jahren einen Ort suchte, an dem er sterben durfte.

Nahezu ein halbes Jahrhundert hat Freud in der Berggasse 19 gelebt. Im September 1891 zog er hier ein, als niedergelassener Nervenarzt, seit fünf Jahren verheiratet, Vater zweier Söhne und einer Tochter (seine Frau war bereits mit dem vierten Kind schwanger). In den Behandlungsräumen und im daneben gelegenen Arbeitszimmer vollzog sich die Erfindung einer neuen Lehre vom Menschen, die das Verständnis unseres Seelenlebens umfassend und eingreifend veränderte. In den langen Tagen, die Freud als Arzt neben der Couch verbrachte, wuchs das Wissen über das Unbewußte – über Traum und Sexualität, die Kulturleistungen der Sublimierung, die krankheitsbildende Macht der Verdrängung und die Ursprünge des moralischen Kontrollsystems, über Angst und Wahn, Neurosen und Ich-Spaltung, über die Spannung zwischen Ratio und Libido, zwischen Lebens- und Todestrieb. In der Berggasse 19 ereignete sich die innere Geschichte der Psychoanalyse mit ihren zahlreichen Widerständen, Durchbrüchen und Triumphen.

Es war eine zunächst sehr einsame Geschichte, fußend auf der Selbstanalyse des Arztes, der sich in die unvermessenen Gefilde seines eigenen Seelenlebens begab, um daraus neue Einsichten über kindlichen Vaterhaß und erotisch geprägte Mutterliebe, über die infantile Sexualität und die feste Verbindung zwischen Angst und Libido zu gewinnen. Freud hat von diesen Erkundungsreisen bevorzugt mit romantischen Metaphern gesprochen und ihre Exkursionen, heroisierend eingefärbt, als Abstieg in die dunkle Unterwelt des Unbewußten bezeichnet – als Reise ins Innere eines Berges, in dem nicht nur Gold, sondern ebenso Schmutz und Schlamm zu finden waren. Auch wenn solche Metaphern im Zeichen der Verklärung stehen und daher kaum zur Beschreibung der objektiven Leistungen Freuds dienlich sind, besitzen sie einen wahren Kern. Sie spiegeln nämlich das Gefühl der Einsamkeit, das den Vater der Psychoanalyse über viele Jahre begleitete, die Angst vor dem öffentlichen Scheitern und der schroffen Verurteilung durch die gesamte Wissenschaft. Daß Freud zahlreiche seiner Erkenntnisse aus der Selbstanalyse bezog, machte die Last noch drückender. Denn hier begegnete er nicht nur dem Zweifel an seinen Hypothesen, sondern auch den dunklen, verdrängten Seiten seines Inneren. Die Netze der neuen Theorie waren aus dem intimsten persönlichen Erfahrungsmaterial ihres Begründers gewebt. Das rückte sie in die Nähe der Kunst, deren Werke immer auch die subjektive psychische Signatur ihrer Schöpfer tragen. Freuds Wissenschaft bildete gleichermaßen ein geschlossenes System und ein ästhetisches Gebilde, das von den individuellen seelischen Erfahrungen seines Produzenten geprägt wurde.

Es steht außer Frage, daß Freuds Lehre heute in einigen Punkten historisch überholt oder zumindest von der Geschichte konditioniert ist. Ihr Geschlechterbild, ihr Verständnis abweichender sexueller Praktiken, ihr Körpermodell und ihre Kulturtheorie waren stark geprägt von der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Freuds strenger Dogmatismus und die unerbittliche Konsequenz seiner Lehre lassen sich heute nur nachvollziehen, wenn man den gesellschaftlichen Puritanismus dieses versunkenen Zeitalters berücksichtigt, gegen den sie aufgeboten wurde. George Steiner hat vom «ungeprüften Glauben» gesprochen, der sich «im Herzen der psychoanalytischen Methode» niedergelassen habe.[2] Es ist der Glaube an die direkte Ableitbarkeit des Triebes aus allen Zeichen der Kommunikation und des Alltags, der hier zum Grundsatz der Theorie wird. Dem Gespür für die Ambivalenzen des menschlichen Seelenlebens stand bei Freud ein merkwürdiger Hang zur einseitigen Begründung von Symptomenkomplexen und Heilungsverfahren gegenüber. Das machte seine Wissenschaft, diese scientia nova der Seele, anfällig für Irrtümer, Fehleinschätzungen und Dogmen. Trotz der Irrwege, die Freud auch ging, kann man aber die kulturhistorische Leistung nicht leugnen, die seine Lehre als Moment der Moderne, als Instrument ihrer Deutung und ihr Motor zugleich vollbracht hat. In dieser Doppelrolle blieb sie typisch für das 20. Jahrhundert, das sich in Selbstauslegungen kommentiert und vollzieht. Und in dieser Funktion ist sie wegweisend auch für die Postmoderne, in der die Psychologie zur Universalwissenschaft wurde, die Ökonomie und Kultur, Medizin und Medien, Recht und Politik, nicht zuletzt das Sprechen des Menschen über sich selbst, seine Ich-Entwürfe und Rollenmuster wie keine andere Disziplin beherrscht.

Die Psychoanalyse bildete nicht allein die Wissenschaft der Ich-Erforschung, sondern zugleich ein System der verschlungenen Verbindungen und verwirrenden Spiegelungen, dessen labyrinthische Anordnung als Symbol unserer Zeit erscheinen kann. Deren Drang zur Selbsterkundung, zur Untersuchung verborgener Spuren und Zeichen, ihre Lust an der Entlarvung des Geheimen fand in Freuds Lehre eine modellhafte Struktur. Wer von der Moderne spricht, redet notwendig über die Psychoanalyse; er tut das nicht immer explizit, aber zwangsläufig. Die Moderne zu reflektieren heißt: von der Psychoanalyse begriffen, in ihr eingeschlossen sein. Auch der Kritiker entkommt ihr nicht, weil sie ein mächtiges Schwungrad in Gang hält. Die Diagnose, die sie dem Trieb und dem Unbewußten stellt, erfaßt unsere großen Erzählungen von der Kultur des Menschen. Niemand kann diese Erzählungen mehr anheben lassen, ohne den Deutungsmustern Freuds seinen Tribut zu zollen.

Sämtliche Formen der biographischen Erzählung sind in der Moderne von der Psychoanalyse beherrscht. Die Erkenntnis der frühkindlichen Prägungen, die Einsicht in das Spiel familiärer Einflüsse, die Theorie neurotischer Ängste, die Reflexion über das Verhältnis von Trieb und Kulturleistung bestimmen die Muster, in denen Lebensgeschichten dargestellt werden. Freuds Lehre hat ihre Spuren in den großen Modellen der Biographie und Selbstbiographie hinterlassen. Wie kann man angesichts dessen seinen eigenen Werdegang schildern, ohne sich in Widersprüchen zu verfangen? Die Antwort darauf lautet: man darf die...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch1039
Über den Autor1039
Impressum4
Zitat5
Inhaltsverzeichnis7
Vorwort13
Erstes Kapitel: Familienroman (1856–1873)19
Ein schwacher ‹Riesenkerl›19
Die Mutter und der dunkle Kontinent25
Wien in der Epoche des Liberalismus35
Primus ohne Prüfungen43
Zweites Kapitel: Im Labyrinth des Studiums (1873–1881)55
Atheistischer Mediziner55
Wissenschaft als Weltanschauung67
Brückes Labor73
Nicht enden können81
Drittes Kapitel: Arzt auf der Suche (1881–1885)87
Martha Bernays, ‹my sweet darling girl›87
Erst Physiologe, dann Chirurg101
Krankenhaus-Tristesse105
Kokain112
Diktatur der Enthaltsamkeit121
Viertes Kapitel: Von der Klinik zur Praxis (1885–1892)131
Privatdozent für Nerven-Pathologie131
Charcots großes Seelentheater136
Pariser Leben149
Niederlassung und Heirat154
Im Behandlungszimmer165
Fünftes Kapitel: Geburt der Psychoanalyse (1891–1898)175
Geheimnisse mit Fließ175
Kunstfehler und verdrängte Liebe184
Über Sprachstörungen190
Die kathartische Technik196
Hysterie-Studien203
Krankengeschichten als Novellen212
Formen der Neurose zwischen Trieb und Angst221
Ein sanfter Patriarch233
Sechstes Kapitel: Die Dunkelkammer des Traums (1895–1900)250
Sich selbst analysieren250
Erschriebenes Denken258
Tiefenstrukturen des Träumens266
Interpretationskunst279
Hinab in den Maschinenraum der Seele288
Kränkungen300
Die Schwägerin310
Siebentes Kapitel: Landschaften im Unbewußten (1901–1905)316
Die Theorie erreicht den Alltag316
Sexualität unter Beobachtung322
Ökonomie des Witzes341
Alte Irrtümer, neue Therapien347
Als Tourist in Italien und Griechenland363
Ausklang eines Wunder-Jahrzehnts368
Achtes Kapitel: Unerhörte Entdeckungen (1903–1913)376
Leistungsethik376
Ein detektivischer Leser381
Enthüllung des Genies394
Der Prophet in Rom400
Nervöse Moderne405
Neuntes Kapitel: Wahn und Methode (1900–1914)416
Verstörende Fallgeschichten416
Vom gespaltenen Ich437
Frondienst an Patienten446
In Europa unterwegs456
Zehntes Kapitel: Bewegte Forschung (1902–1914)463
Der Mittwochskreis463
Verbündete in der Schweiz478
Schüler aus aller Welt486
Eine emanzipierte Frau502
Vereine, Konferenzen, Intrigen507
Elftes Kapitel: Expansion und Verrat (1907–1914)522
C. G. Jung, ein schwieriger Kronprinz522
Nach Amerika537
Zerwürfnis mit Adler und Stekel547
Die Verbannung des Joshua556
Zwölftes Kapitel: Psychologische Grenzgänge (1912–1919)571
Wilde Völker und verbotene Wünsche571
Psychoanalyse zwischen Kriegsfronten583
Narzißmus, Verdrängung und Unbewußtes598
Meister im Hörsaal609
Seelenarbeit in dunkler Zeit616
Aus den Zonen des Unheimlichen623
Dreizehntes Kapitel: Thanatos-Vorahnungen (1919–1924)633
Die große Furcht633
Wieder Normalität und doch anders642
Hiobs Heimsuchungen651
Anna wird eingeführt660
Vierzehntes Kapitel: Letzte Fragen (1920–1930)673
Zweierlei Triebe673
Vor der Sumpflandschaft des Es685
Religion entlarven694
Die kulturellen Zumutungen705
Großvater und Familienoberhaupt715
Fünfzehntes Kapitel: Wissenschaft auf der Weltbühne (1923–1930)725
Ärzte oder Laien725
Internationale Wirkungen731
Rank, der gefallene Engel739
Analytischer Betrieb748
Aufbau des Berliner Instituts756
Das fremde Geschlecht762
Sechzehntes Kapitel: Spiegelungen der Lehre (1924–1933)770
Charismatiker, Magier, Scharlatane770
Neugierde778
Jüdische Identität?784
Ruhm und Enttäuschung791
Späte Vorlesungen, unveränderte Grundsätze801
Siebzehntes Kapitel: Endzeit in Wien (1930–1937)807
Unbehagliches Altern807
Gewitterwolken der Politik814
Bilanzen, auch für die Zukunft825
Die unabschließbare Analyse830
Achtzehntes Kapitel: Emigration und Tod (1938–1939)841
Vertreibung aus dem Gefängnis841
Refugium London850
Die Moses-Akte858
Ein Testament des Exils871
Im Harnisch sterben?877
Anhang883
Siglenverzeichnis884
Anmerkungen885
Bibliographie993
Verzeichnis der Abbildungen1022
Personenregister1023

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