1. Die britischen Kolonien in Nordamerika
Im Spätherbst des Jahres 1773 herrschte eine klirrende Kälte in den Neuenglandkolonien.[1] Zwar schien häufig die Sonne aus einem strahlend blauen Himmel, während eine leichte Brise über den unruhigen Nordatlantik wehte, aber der Wind war frostig kalt. Viele kleinere Gewässer waren längst eingefroren. Die Menschen in Boston waren froh, wenn sie ihre Tage und Nächte in ihren festgefügten Häusern aus Stein oder Holz verbringen durften. Der Rauch aus den zahllosen Schornsteinen dieser entlegenen, etwas provinziellen Großstadt des britischen Empire vermittelte dem unbeteiligten, oberflächlichen Beobachter einen beinahe behaglichen, ruhigen Eindruck. «Biedermeier» hätte man im 19. Jahrhundert gesagt. Indes, der Eindruck trog. Die Stadt stand nicht nur seit Jahrzehnten in dem allzu berechtigten Ruf, notorisch unruhig zu sein, nein, seit Wochen sorgten immer neue Meldungen für Aufruhr. Gerüchte machten die Runde. Nicht einmal mehr hinter vorgehaltener Hand sprachen die Einwohner Bostons über Vorgänge, die ihnen aus dem warmen, viel weiter südlich, in South Carolina, gelegenen Charles Town, dem heutigen Charleston, zu Ohren gekommen waren. Dort hatte der königliche Gouverneur eine Ladung Tee der Ostindienkompanie (EIC) auf dem Schoner Polly beschlagnahmt, weil wegen des Drucks einer patriotischen Gruppe, der Sons of Liberty (Söhne der Freiheit), keine Abgaben entrichtet worden waren. Nun schimmelte der Tee im dortigen Hafen vor sich hin, wo die Sons of Liberty die Ladung bewachten und somit ihren Verkauf unterbanden. In Philadelphia wiederum hatte ein Schiff der Ostindienkompanie einfach kehrtgemacht und war unverrichteter Dinge nach Großbritannien zurückgesegelt, weil die dortigen Freiheitssöhne ebenfalls Anstalten gemacht hatten, das Entladen des indischen Tees zu verhindern.
All dies erregte die Yankees in Boston. Sie solidarisierten sich mit ihren so unbekannten britischen Landsleuten im Süden. Nein, Tee aus Indien war ein Unding, ein Angriff auf die Freiheit und Lebensweise guter Briten hier auf dem nordamerikanischen Kontinent. Sollte die Ladung in Charles Town doch verschimmeln. Am besten verrottete der britische Tory-Premier Lord Frederick North, der an allem schuld war, gleich mit! Vorerst aber blieb die Unruhe verhalten. Noch brach sie sich nicht in einem der üblichen gewalttätigen und blutigen riots Bahn, für die Boston so berühmt und berüchtigt war. Aber viele, auch aus der konservativen Oberklasse, hatten Sorgen. Wenn die Stadt explodierte, könnte es Tote geben. Würden die Demonstranten sich möglicherweise nicht bloß am Eigentum der ungeliebten EIC vergreifen, sondern obendrein Häuser der reichen Kaufleute angreifen, wenn ihr Zorn erst einmal entfesselt war? Wie würde sich der Gouverneur der Krone, der umtriebige und einflussreiche Thomas Hutchinson, verhalten, wie die Soldaten, die zum Ärger aller in der Stadt stationiert waren? Wenn es zu Unruhen kommen sollte, war es an den Eliten, die Kontrolle zu behalten, zumal gerade sie ebenso verärgert über die englische Regierung waren wie der verachtete Pöbel. Nicht wenige Augen richteten sich in diesen Novembertagen verstohlen auf den Hafen.
Dann kam es, wie es kommen musste. Am 27. November, einem Samstag, fuhr ein Frachtschiff, die Dartmouth, in den Hafen ein. Etwas gelangweilt und routiniert machte sich die Hafenwache auf, die Besatzung zu kontrollieren, ob sich eventuell einer der Seeleute auf der neunwöchigen Überfahrt mit einer schwerwiegenden Krankheit infiziert hatte, was womöglich zu einer längeren Quarantäne geführt hätte. Nachdem diese Sorge sich zur Erleichterung aller Beteiligten als unbegründet herausgestellt hatte, erkundigten sich die Herren von der Hafenbehörde nach der Ladung der Dartmouth, um die Abfertigung durch die Zollinspektoren einzuleiten. Als sie das Wort «Tee» hörten, setzten sie sorgenvolle Mienen auf. Jetzt war es so weit. Auch Boston würde sich entscheiden müssen. Um Zeit zu gewinnen, wurde der Frachter bei Griffin’s Wharf untergebracht, einer besonders abgelegenen Ecke des weiträumigen Hafens, die heute nicht mehr identifiziert werden kann. So absonderlich es anmuten mag: Eines der wichtigsten Ereignisse der amerikanischen Geschichte, die Boston Tea Party, lässt sich nicht mehr verorten.
Kaum war die Hafenwache von Bord gegangen, begannen die ersten Meldungen über die Ankunft der Dartmouth die Runde zu machen. Da der nächste Morgen, der 28. November, ein Sonntag war, machten sich die Bostonians, gute puritanische Protestanten, die sie überwiegend waren, auf zum Kirchgang. Bereits während der Gottesdienste begannen die Pfarrer und ihre Gemeinden sich über die Ladung Tee am Griffin’s Wharf zu ereifern. Nach dem Ende der oft mehrere Stunden währenden Predigten, die Mittagszeit war schon verstrichen, wälzten sich die Menschenmengen zu den bekannten Versammlungshallen. Dort warteten die lokalen Sons of Liberty auf ihre Anhänger. Über den gesamten Tag hinweg tobten die Debatten, Argumente wurden ausgetauscht, Resolutionen eingebracht, verabschiedet oder verworfen. Wie in Charles Town, Philadelphia und inzwischen auch New York wollten die Bostonians sich dem Ansinnen verweigern, Abgaben auf den Tee der EIC zu entrichten, die sie als verfassungswidrig und als Anschlag auf ihre Freiheiten begriffen.
Gouverneur Hutchinson bestellte seine eigenen Ratgeber ein, darunter auch die ranghöchsten Offiziere der Garnison. Niemand hatte ein Interesse daran, die Situation eskalieren zu lassen, aber Hutchinson war der Ansicht, Recht sei Recht und müsse Recht bleiben. Das Parlament in London hatte diese Abgaben beschlossen, also mussten sie entrichtet werden. Die Diskussionen zogen sich über mehrere Tage hin. Hutchinson stellte dem Kapitän der Dartmouth, der bereits signalisiert hatte, er würde an sich gerne nach England zurückkehren, eine Frist bis zum 16. Dezember, eine Art Ultimatum, danach würde der Tee wegen Verstoßes gegen geltendes Abgabenrecht beschlagnahmt und von den Behörden verkauft werden. Die Lage wurde noch dramatischer, als zwei weitere Frachtschiffe, die Beaver und die Eleanor, gleichfalls bis an den Rand mit Tee beladen, in den Hafen einfuhren. Sie ankerten gleichfalls am Griffin’s Wharf.
Während es ungeachtet der beißenden Kälte zwischen dem 28. November und dem 16. Dezember täglich zu Demonstrationen gegen die Teelieferung kam, sammelte der ehemalige Steuereintreiber Samuel Adams eine besonders engagierte und radikale Gruppe innerhalb der örtlichen Sons of Liberty um sich. Diese Männer strebten nach radikaler Aktion. Die bisherige Vorgehensweise der elitären Führer der Freiheitssöhne, die sich mit ihren Protesten an den Vorbildern im Süden orientierten, war ihnen zu moderat, eines freien Bostonians unwürdig. Immer dieses leere Geschwätz von öffentlicher Ordnung und Eigentumsrechten selbst der Ostindienkompanie. Das britische Mutterland, so die feste Überzeugung der Radikalen, bewegte sich unter dem Einfluss der EIC und der Tories am Rande der Despotie. Ein Schritt noch, und der katholische Absolutismus Frankreichs würde auf Großbritannien und seine Kolonien übergreifen. Angesichts dieser unheimlichen und überwältigenden Bedrohung wirkten die Reden der Moderaten wie Gefasel. Einige Teehändler taten sich in den Diskussionen durch besondere Radikalität hervor, obwohl sie bislang zu den Moderaten gezählt hatten.
Historisierende Darstellung der Boston Tea Party von N. Currier und J. M. Ives, 1846.
Auf diese Weise rückte der Termin für die Beschlagnahmung näher und näher. Gouverneur Hutchinson gab sogar den Befehl, einige Kriegsschiffe der Royal Navy zum Schutz der drei Frachter abzukommandieren, da sein gut ausgebildetes Spionagenetzwerk ihm von den nicht eben sehr geheimen Vorbereitungen der...