Der Aufbruch
Die Sonne schien warm auf die zwei Mädchen, die im Frühsommer 1886 die halb gepflasterte Hauptstraße in Erkner hinuntergingen.[1] Die eine fast schon eine Frau, ein freundliches Wesen, mit rundem Kopf und einem ernsten Blick in den dunklen Augen. Ihre Kleidung, sorgfältig gewählt, war von bescheidener Art. Der ungebleichte Wollstoff schmiegte sich weich an die dünnen Arme. Schlicht war auch das Haar, straff gescheitelt, im Nacken ein geflochtener Knoten. Ein paar feine Strähnen umrahmten das Gesicht, unregelmäßig, aber mit verstohlener Anmut.[2] Die andere war kaum dem Backfischalter entwachsen. Ihre Augen schauten heiter unter dem blonden Scheitel hervor. Im Dorf kannte man die Zwei als Gäste des Herrn Doktor Hofferichter. Unverkennbar waren es die Schwestern seiner jungen Frau Julie. Sie machten mit der Mutter auf dem Weg ins schweizerische Engadin ein paar Tage Halt in Erkner.
Käthe und Lisbeth Schmidt, so die Namen der beiden Mädchen, folgten der Dorfstraße bis zum Ende. Fast schon im Wald lag die ‹Villa Lassen›, wo sich der spätere Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann mit Frau und Neugeborenem eingemietet hatte. Der Dichter war noch jung, gleichwohl nicht ganz unbekannt. Sein «Promethidenlos» war im Jahr zuvor erschienen. In Erkner, unweit von Berlin, lebte er wegen der guten Luft. Gegen die Langeweile lud er Freunde, Kollegen und Künstler ein. Auch der Chemiker Paul Hofferichter, Käthes Schwager, war bei Hauptmanns gern gesehen. Man hatte sich in der Stadtbahn kennengelernt und verkehrte freundschaftlich miteinander.[3]
Als Hauptmann für diesen Abend zur Soiree lud, waren die beiden Schwestern selbstverständlich willkommen. Die überschaubare Gästeliste bot mit dem Maler Hugo Ernst Schmidt, einem Freund und Logiergast des Hauses, dem Bruder Carl Hauptmann und Arno Holz ein paar höchst interessante Persönlichkeiten.[4] Zumal für zwei junge Frauen aus Königsberg, von denen die eine im kommenden Herbst Malerei studieren würde.
Die Mädchen betraten die Villa über die stattliche Vordertreppe. Der Saal, in den man sie führte, war festlich geschmückt. Blumen lagen auf den Tischen drapiert. Rosenkränze schmückten die Häupter der Gäste. Ausgewählte Gerichte standen bereit, später las Gerhart Hauptmann aus Shakespeares «Julius Cäsar» vor. Man unterhielt sich glänzend.[5]
Käthe und Lisbeth waren nicht scheu, den Umgang mit Akademikern, Künstlern und Geistesmenschen waren sie gewohnt. Die Eltern und Großeltern luden regelmäßig zum Salon. Mit den stürmischen Naturalisten in Erkner konnten die Schwestern durchaus mithalten. Sie waren literarisch bewandert, hatten einen klaren Verstand und wussten sich auch in der intellektuellen Konversation zu behaupten. Das wichtigtuerische Gehabe der Jungliteraten konnte sie daher nicht allzu sehr beeindrucken. Bis das Gespräch sich der Malerei zuwandte. Ausgerechnet auf ihrem Spezialgebiet sollte sich die angehende Künstlerin blamieren.
Die 1880er Jahre waren in der bildenden Kunst eine Zeit großer Veränderungen. Das Leben, in all seiner bunten Vielfältigkeit, versuchte sich als Gegenstand der Kunst zu behaupten. Mit den Motiven änderte sich auch die Darstellungsweise. Die Maler konzentrierten sich auf Licht, Luft und Form. Max Liebermann zeigte seine Waisenmädchen in der «Holländischen Nähschule» (1867). Max Uhde präsentierte im Pariser Salon «Das Abendmahl» (1886), mit einer Luft so glasklar, wie man sie kaum je gesehen hatte. In Deutschland blieb das Meisterwerk allerdings unbeachtet, weil die offizielle Kunstpolitik mit aller Macht am akademischen Historismus festhielt.
Wer auf sich hielt, jung und fortschrittlich war, prangerte das an. Käthe Schmidt stimmte selbstverständlich in den Ruf nach Erneuerung ein und führte als rühmliches Beispiel für die Zukunft der Malerei Emil Neides «Die Lebensmüden» (1885) an. Das Genrebild des Königsberger Malers zeigt ein Liebespaar, das sich gemeinsam und zusammengebunden in die tosenden Fluten eines Flusses stürzen will. Es hatte in ganz Preußen für Aufsehen gesorgt und den Künstler überregional bekannt gemacht. In Königsberg war die Wahl des Motivs geradezu eine Sensation und so muss sich Käthe bei der Erwähnung dieses Gemäldes auf der sicheren Seite geglaubt haben. Wie begrenzt ihr Blick auf die Kunst war, realisierte sie erst, als Holz, Schmidt und die Hauptmann-Brüder ihre naive Kunstauffassung verspotteten. Sie nannten das Werk Neides ein «Bild für Dienstmädchen» und eine derartige Kunst «ein Lämmchen mit dem rosa Band».[6]
Der Lapsus traf ins Innere. Sonst hätte Käthe Kollwitz die Episode fünfundfünfzig Jahre später, als sie längst eine berühmte Künstlerin war, kaum zum Gegenstand ihrer Lebenserinnerungen gemacht. Zum ersten Mal erkannte sie, wie eindimensional sie geschult, wie eng ihre Perspektive noch war. Ihre Unwissenheit war verzeihlich, denn Königsberg war alles andere als eine Kunstmetropole. Weit draußen in der Provinz hielten sich die Künstler an die hergebrachten Traditionen. Sie malten geschichtliche Großereignisse und wohlgefällige Alltagsszenen. Auch im örtlichen Kunstmuseum hatte Käthe nie etwas anderes gesehen als historische, biblische oder literarische Stoffe, Werke der Genremalerei, ein paar Landschaften und eine kleine Sammlung deutscher, flämischer und holländischer Gemälde.[7]
Was blieb ihr übrig, als das Missgeschick mit erhobenem Haupt hinzunehmen. Sie war jung, stand noch am Anfang ihres Weges. Sie konnte sich den Fehler leisten und nahm ihn als Ansporn. Künftig würde sie mit offenen Augen und wachem Geist durch die Welt gehen. Das Studium in Berlin war nur noch ein paar Wochen entfernt. Schon jetzt war sie nicht mehr das Mädchen, das in Königsberg aufgebrochen war. Das hier war der Anfang. «Es war ein wundervoller Auftakt zu dem Leben, das sich dann allmählich, aber unaufhaltsam mir eröffnete.»[8]
Grundsätze und Geist – die Königsberger Herkunft
Das neue Leben war verheißungsvoll. Käthe wusste, was sie wollte. Ihr Glück lag nicht da, wo andere Frauen es fanden, in der Familie, an der Seite eines Mannes, in Kirche, Küche, Kinderzimmer. Käthe wollte Malerin werden, Künstlerin, eine Ausnahmeexistenz. Es gab nichts, was sie mehr wünschte. Und hätte man ihr die Wahl gelassen, so hätte sie bedenkenlos «ihr ganzes geistiges Vermögen aufgehoben und ihrer künstlerischen Fähigkeit zugeschlagen, damit doch bloß dieses Feuer hell brannte».[9]
Für ein Königsberger Mädchen aus gutbürgerlichen Verhältnissen war das ein außergewöhnlicher Plan. Zwar waren die Frauen in ihrer Familie respektierte Persönlichkeiten, die über Politik und Philosophie nachdachten, sich in der Freien Gemeinde Königsberg engagierten und in den Versammlungen selbstverständlich das Wort ergriffen. Trotzdem übten sie keinen Beruf aus. Sie waren Ehefrauen, Mütter oder Tanten, sorgten für die Familie, kümmerten sich um den Haushalt, unterstützten ihre Ehemänner, Väter und Brüder. In Käthes Elternhaus stellten das auch die fortschrittlichsten Denker nicht in Frage.[10]
Religion und Freiheit, Fleiß und soziale Verantwortung waren die Grundfesten im Leben von Carl Heinrich Schmidt, dem Vater von Käthe Kollwitz. Er war 1825 geboren, ein gebildeter und gottgläubiger Mann mit einer bewegten Lebensgeschichte. Früh verwaist, war er fest entschlossen, sein Glück zu machen. Als Fünfzehnjähriger zog er auf eigene Faust nach Königsberg, schrieb sich am Gymnasium ein, ohne eine Unterkunft oder ein Auskommen zu haben, und gewann Sympathien durch sein offenes Wesen und sein gefälliges Benehmen. Die Eltern eines Mitschülers erklärten sich bereit, den fremden Jungen zunächst für zwei Wochen aufzunehmen. Aus vierzehn Tagen wurden fünf Jahre, in denen er bei der nicht wohlhabenden, aber äußerst...