SIGMUND FREUD • SPIEGEL 53/1998
Mehr als eine Theorie der Seele
Nichts hat den Blick auf das menschliche Dasein so verändert wie die Lehren Freuds. Doch seine Psychoanalyse bleibt umstritten: für die einen Schlüssel zur Seele, für die anderen Scharlatnerie. Im Zeitalter der Psychokulte sind Millionen weiter auf der Suche nach sich selbst. Von Peter Gay
Der Autor
Peter Gay, 1923 als Peter Fröhlich in Berlin geboren und später mit seinen jüdischen Eltern vor den Nazis nach Amerika geflohen, lehrte von 1969 bis 1993 Geschichte an der Yale University. Der Historiker mit psychoanalytischer Ausbildung wurde 1987 mit seinem Monumentalwerk „Freud. Eine Biographie für unsere Zeit“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 904 Seiten) zum international bekannten Freud-Interpreten.
Wir alle sprechen die Sprache Freuds, ob wir es wissen oder nicht, ob wir ihn hoch verehren oder tief verachten. Die psychoanalytische Lehre, oder zumindest der psychoanalytische Jargon, ist unaustilgbarer Bestandteil unserer Welt geworden. Wir sprechen von Ödipuskomplexen, Sublimierung, Penisneid, Ambivalenz oder von Repression, vielleicht ohne die geringste Ahnung, woher diese Worte stammen oder ob wir sie richtig anwenden. Kurz: Freud ist berühmt.
Berühmt, aber nicht beliebt. In den zwanziger Jahren, als er dem allgemeinen Publikum ein Begriff wurde, war er „Dr. Sex“, der Arzt, der in sexueller Promiskuität das unfehlbare Heilmittel für neurotische Beschwerden sah. Daß dies eine grobe Entstellung der Freudschen Lehre war, ist erst später klar geworden. Und bis heute bleibt er oberflächlichen Angriffen und tendenziösen Vorbehalten ausgesetzt.
Unsere seelische Welt ist einfach undenkbar ohne ihn und wird es auch bleiben, jedoch in einer Weise, die Freud selbst nur verwirrt oder verärgert hätte. Er hat vorausgesagt, daß seine Theorien nicht ohne Anhänger bleiben würden, besonders in den Vereinigten Staaten. Anhänger, die, so fürchtete er aber auch, seine psychoanalytischen Einsichten über kurz oder lang ruinieren würden.
Dazu ist es nicht gekommen, jedoch der Einfluß Freuds und dessen kulturelle Bedeutung sind heute so umstritten wie vor einem Jahrhundert, als er seine ersten psychoanalytischen Schriften veröffentlichte.
Freuds Leben ist so kontrovers wie seine Lehre, und seine unerbittlichsten Gegner versuchen seit langem, die letztere mit oft schlecht begründeten Anekdoten aus dem ersten zu diskreditieren. War er ein Papst, der über seiner Gemeinde thronte? Ein Diktator, der keinen Widerspruch tolerieren konnte? Ein Lügner, der seine Fallstudien „korrigierte“, bevor er sie der Öffentlichkeit unterbreitete, und noch dazu ein untreuer Ehemann, der mit seiner Schwägerin eine Liebesaffäre hatte? Dann kann seine große „Erfindung“, die Psychoanalyse, auch nichts taugen. So urteilen seine Feinde, unlogisch in ihrem Zorn.
Sigismund Schlomo Freud (er hat seinen jüdischen Vornamen nie verwendet und seinen Rufnamen schon als junger Student abgekürzt) kam am 6. Mai 1856 in dem mährischen Städtchen Freiberg, dem heutigen Příbor in Tschechien, zur Welt. Als Erstgeborener Amalia Freuds ist er immer ihr Liebling geblieben. Amalia war Jacob Freuds dritte Frau, 20 Jahre jünger als ihr Mann, gut aussehend, selbstbewußt und nicht wenig herrschsüchtig. Freuds Vater war ein kleiner, beinah mittelloser Textilhändler, dem es im Lauf der Jahre langsam pekuniär besserging, besonders nachdem die Familie Freud 1860 in Wien Fuß fassen konnte.
Es war eine jüdische Familie, in der die religiöse Observanz jedoch eine ziemlich kleine Rolle spielte. Sigmund Freud selbst wurde schon als Halbwüchsiger ein aggressiver Atheist und hat diese Haltung niemals aufgegeben. Seine Bereitschaft, sich ohne Gott durch das Leben zu schlagen, bedeutete allerdings nicht, daß er sich nicht zum Judentum bekannt hätte.
Seine jüdischen Mitbürger, die sich assimilieren wollten und sich aus Berechnung taufen ließen, verabscheute Freud zutiefst. Er hatte zwar, wie er mehrfach betonte, sowenig für die jüdische wie für alle anderen Religionen übrig. Besonders in seinen letzten Lebensjahren war er jedoch geneigt, ein geheimnisvolles ererbtes jüdisches Element in seinem Wesen zu erkennen und zu begrüßen, ein Element, das irgendwie die Jahrhunderte überlebt hatte. Und auf diese Erbschaft war er stolz.
„Ich habe nie begriffen“, schrieb er 1925 in seiner „Selbstdarstellung“, „warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann, Rasse, schämen sollte.“ Wann auch immer der Antisemitismus sein häßliches Haupt erhob – 1873 an der Universität Wien, 1897, als der Antisemit Karl Lueger Bürgermeister von Wien wurde, in den zwanziger Jahren, als die Nazis in Deutschland zu lärmen begannen –, es mangelte Freud nie an Courage. In einem Interview im Jahre 1926 – er war 70 – faßte er seine Haltung klar und bündig zusammen: „Meine Sprache ist deutsch. Meine Kultur, meine Bildung sind deutsch. Ich betrachtete mich geistig als Deutschen, bis ich die Zunahme des antisemitischen Vorurteils in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seit dieser Zeit ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen.“
Zum Stolz seiner Eltern zeigte sich der junge Freud brillant und frühreif. In der Schule und im Gymnasium war er meistens der Primus. Auch als Student ab 1873 an der Universität Wien enttäuschte er seine Familie und seine Professoren nicht. Seine frühesten Arbeiten beweisen eine außerordentliche Auffassungsgabe, einen intellektuellen Wagemut und ein Talent für lesbare, oft originelle Prosa.
Er wollte Jura studieren, aber das, was er „eine Art von Wißbegierde“ nannte, eine Leidenschaft, die keine Grenzen kannte, bewegte ihn, auf Medizin umzusatteln. Die Aussicht, Arzt zu werden, erfreute ihn nicht besonders; doch hoffte er, den Geheimnissen des seelischen Lebens, die ihn schon als jungen Mann fasziniert hatten, auf die Spur zu kommen. Nur seine finanzielle Misere und seine Leidenschaft für Martha Bernays, in die er sich 1881 verliebte, veranlaßten ihn schließlich, eine private Praxis zu eröffnen, so daß er 1886 endlich heiraten konnte.
Bald spezialisiert auf das, was man in jenen Jahren unter der vagen Rubrik „Neurasthenia“ verstand, begann Freud, von seinen neurotischen Patienten – meist Patientinnen – zu lernen. Er fing an, ihre (und auch seine) Träume niederzuschreiben, und es wurde ihm klar, daß ein schweigsames und geduldiges Zuhören ergiebige Resultate in der Psychotherapie bringen kann. 1895 analysierte er seinen ersten Traum, bekannt als der Traum von „Irmas Injektion“, den er später in seinem ersten Meisterwerk, „Die Traumdeutung“ (1900), als ein Modell benutzte, um zu erklären, wie er als erster Psychoanalytiker der Welt Träume interpretieren konnte und wie solche Interpretationen dem Verstehen von Neurosen dienen können.
In den neunziger Jahren hatte er auch entdeckt, wie stark sexuelle Wünsche und Ängste die Krankheitsgeschichte seiner Patienten beeinflußten. Ein heikles Thema, das die meisten Ärzte seiner Zeit mit größter Vorsicht vermieden. Freud kannte solche Hemmungen nicht. Einige Jahre lang vertrat er sogar die extreme These, daß sexueller Mißbrauch von Kindern alle Neurosen verursache.
1897 mußte er die Unhaltbarkeit dieser Erklärung zugeben. Es war ein schwieriger Moment für Freud. Schlimmer noch, dieser Fehlschlag seiner sensationellen These konfrontierte ihn, wie schon mehrfach vorher, mit einer persönlichen Niederlage: Er war über 40 Jahre alt, Vater von sechs Kindern mit einem ziemlich schwankenden Einkommen. Sein Leben lang sah er sich als ehrgeizigen Wissenschaftler, der unbedingt etwas Außerordentliches leisten, etwas entdecken wollte, das ihn berühmt und finanziell unabhängig machen würde.
Glücklicherweise war es typisch für Freuds Charakter, daß er fruchtbare Konsequenzen aus dieser Episode ziehen konnte: Sie zeigte ihm den Weg zu einer bisher vernachlässigten seelischen Tätigkeit, der Phantasie, die für den Psychoanalytiker genauso „wirklich“ ist wie eine realistische Erfahrung. Das einzigartige Experiment, das er in diesen Jahren unternahm, eine Selbstanalyse, wurde seine Einführung in die dunkle Welt der Psychoanalyse.
Zugegeben, er hatte seine Vorgänger. Man denke an den Heiligen Augustin, an Montaigne oder an Rousseau, vielleicht an Goethe. Aber keiner von ihnen hatte das Abenteuer der Selbstprüfung so weit getrieben, so systematisch verfolgt wie Freud. Das Rohmaterial für diese Analyse bildeten seine eigenen Fehlleistungen, seine Träume, seine obskursten Gedankengänge. Die erste Psychoanalyse blieb somit eine rein interne Angelegenheit: Sie war ein ernstes Spiel, für das er erst die Regeln erfinden mußte und das für seine Findigkeit und seine Offenheit steht.
Dann, im November 1899 (mit dem Impressum 1900), veröffentlichte Freud schließlich sein bis dahin wichtigstes Buch, das mit seiner Selbstanalyse eng verbunden war, „Die Traumdeutung“. Es war überraschend sowohl in der Konzeption als auch in der Ausführung. Freud, jetzt schon ein renommierter Neurologe, hatte viele Jahre einer großangelegten Studie über eine allgemeine menschliche Erfahrung gewidmet: Alle Menschen träumen und haben immer geträumt.
Freuds strategische Absicht bei der Wahl seines Themas war klar: Er hatte nicht weniger im Sinn, als das Fundament einer universalen Psychologie zu legen, und er konnte das am besten mit einem Thema bewirken, das jeder Leser am eigenen Leib – oder besser, in seiner eigenen Seele – erfahren hatte. Kompliziert wie „Die...