1. Der enigmatische Simmel und sein ambivalenter Nachruhm
Von jeher haben sich an Georg Simmel die Geister geschieden. Für seine Kritiker galt er schon kurz nach seinem Tod als der »Zeitphilosoph« (Joël 1958, 166-169), dessen Bedeutung mit dem Ende des Ersten Weltkrieges unwiederbringlich dahin war. Für die politische Linke wie für die völkische Rechte repräsentierte er den typischen bürgerlichen Salonphilosophen und Soziologen, dessen Philosophie des Relativismus und Soziologie des Relationismus mit ihrer weltanschaulichen Unentschiedenheit und ästhetischen Offenheit vielleicht im traditionellen Wilhelminischen Kaiserreich als Ausweis von Modernität (Lichtblau 1997b, 12) gelten konnten, aber nach einem verlorenen Krieg, der Revolution und dem Beginn der Weimarer Republik, die den Weltbürgerkrieg mit einer »politics of cultural despair« (Stern 1974) und der sich ankündigenden »Entscheidung« (von Krockow 1958) einleiten sollte, dann doch eigentümlich überholt wirkten. Simmel passé.
Aber auch seine Anhänger waren schon zu Lebzeiten Simmels merkwürdig ambivalent gestimmt. Max Weber etwa, persönlich mit ihm befreundet, verfasst eine tiefschürfende Kritik an Simmels Begründung der Soziologie und an seiner Beziehungsformenlehre, ohne sie zu veröffentlichen, um die Berufungschancen des Freundes nicht zu gefährden. Schon der erste, nicht enden wollende Einleitungssatz des kritischen Fragments atmet den Geist regelrecht schmerzhafter, ja zerknirschter, aber eben doch fundamentaler Ambivalenz gegenüber dem virtuosen Kollegen:
Wenn man zu den Arbeiten G. Simmels von einem überwiegend antagonistischen Standpunkt aus Stellung zu nehmen die Verpflichtung hat, insbesondere seine Methodik in wichtigen Punkten ablehnt, seinen sachlichen Ergebnissen ungemein häufig mit Vorbehalten, nicht selten negativ gegenübersteht, von seiner Darstellungsart endlich zuweilen fremdartig und häufig wenigstens nicht kongenial angemutet wird, – und wenn man dann doch sich auf der anderen Seite schlechterdings genötigt sieht zu konstatieren: daß diese Darstellungsweise schlechthin glänzend ist und, was mehr bedeutet, Wirkungen erzielt, die nur ihr eigen und dabei von 12keinem Nachahmer erreichbar sind, daß fast jede einzelne seiner Arbeiten von prinzipiell wichtigen neuen Gedanken und feinsten Beobachtungen geradezu strotzt, daß fast jede zu den Büchern gehört, an denen nicht nur die richtigen, sondern selbst die falschen Ergebnisse eine Fülle von Anregungen zum eigenen Weiterdenken enthalten, der gegenüber die Mehrzahl auch der achtbarsten Leistungen anderer Gelehrter oft einen eigentümlichen Geruch von Dürftigkeit und Armut zu tragen scheint, daß endlich von den erkenntniskritischen und methodischen Grundlagen ganz das Gleiche und zwar wiederum auch da gilt, wo sie letztlich vermutlich nicht zu halten sind, daß überhaupt, alles in allem, Simmel, auch da wo er auf falschem Wege ist, seinen Ruf vollauf verdient als einer der ersten Denker, Anreger der akademischen Jugend und der akademischen Kollegen (soweit deren Geist nicht zu stumpf oder ihre Eitelkeit oder auch ihr schlechtes Gewissen oder beides zusammen zu lebendig ist, um sich von einem mit 50 Jahren nicht über den Extraordinarius hinaus avancierten, also ja wohl ganz offenbar zu den ›gescheiterten Existenzen‹ gehörigen Menschen überhaupt ›anregen‹ zu lassen), – so findet man sich vor die Frage gestellt, wie denn diese Widersprüche sich reimen. (Weber 1991, 9)
Gustav Schmoller, in dessen Seminar Simmel seine Philosophie des Geldes erstmalig vorstellen durfte und der dem jungen Mann auch die erste und einzig wirklich positive Rezension dieses Jahrhundertwerkes aus dem Jahre 1901 angedeihen lassen sollte, bemerkt auf die vertrauliche Anfrage von Georg Friedrich Knapp im Jahre 1894, wie man Simmel und seine Berufungschancen einschätzen sollte:
Ich weiß nur, wie S. im Ganzen beurteilt wird. Er gilt für ein Talent, für scharfsinnig, geistig sehr beweglich. Aber zugleich für einen spezifisch jüdisch-grübelnden, in allen Farben schimmernden, vor lauter Spitzfindigkeit und Scharfsinn unfruchtbaren Geist, der nicht sowohl die Dinge selbst sieht, als das krause Spiel von tausend möglichen Meinungen, Eventualitäten, Gesichtspunkten, das am wenigsten in der Richtung auf die Jugend wirkt, in welcher ein Moralphilosoph wirken muß, durch eigene starke ethische Ueberzeugungen. / Ich kenne ihn gut, weil er mehrmals in meinem Seminar war, da mancherlei vortrug. Ich unterhielt mich auch später eigentlich gern mit ihm, obwohl er mich von Anfang an etwas durch freche, schlotterige Bemerkungen über Zeller, Dilthey etc. verletzte. Inz[wischen] ist mir die Art, wie er sich selbst und seine eigenen Erfolge rühmt, etwas zu dicke geworden, so daß ich mich einigemal etwas reservirt hielt. Doch stehen wir äußerlich ganz gut. / Summa summarum: er ist der betriebsame spekulirende Jude; – nicht derjenige, welcher die Tugenden eines Spinoza hat. (GSG 22, 119 f., Kommentar)
13Der kosmopolitische Knapp gibt dem Kollegen die richtige Antwort:
Simmel hat, wie alle jungen Leute, die an sich bedeutend sind, aber in ihrer Laufbahn festsitzen, etwas Unsicheres im Auftreten, abwechselnd Bescheidenheit und dann wieder Selbstgefühl; die Unbefangenheit geht dabei verloren, was aber nicht aus dem Charakter sondern aus der Lage folgt. […] Da sie seinen Erfolg bei Studenten nicht kennen, so will ich nur sagen, dass ihn seine Berliner Altersgenossen für den erfolgreichsten Berliner Privatdozenten erklären! / Eine »ethische« Natur in dem Sinne wie Sie es gern haben […], ist er freilich nicht. Sein ganzes Wesen ist höchster Grad von Reflexion; nicht allen Leuten willkommen – aber dass dies eine philosophische Gabe ist, lässt sich doch nicht verkennen. […] Ich würde es sehr bedauern, wenn für so reiche Gaben in Deutschland gar kein Platz mehr wäre. Wir bilden jetzt, ohne es zu wollen, lauter furchtbar praktische Leute aus. Aber mit lauter solchen geht es doch auch nicht. Ein Körnlein Reflexion kann der deutschen Wissenschaft sicher nicht schaden, wohl aber nützen. (GSG 22, 119 f., Kommentar)
Jung, talentiert, unverschämt, überheblich und ohne moralischen Kompass, so Schmoller. Jung, talentiert, erfolgreich in der Lehre, erfolglos in der beruflichen Karriere, ethisch indifferent und hochgradig reflektiert, so Knapp. So sieht das Bild der Simmel-Unterstützer aus. Ohne Prophet zu sein, hätte man bereits aus diesem Briefwechsel die schwierige Karriere von Simmel in Deutschland voraussagen können.
Tatsächlich bricht das Interesse an Simmel nach dem Ersten Weltkrieg jedoch nicht völlig ab, nur weil er aus der Mode gekommen war. Im Gegenteil: Es tritt eine nachhaltige, unheimliche, weil heimliche Rezeption ein. Ernst Bloch und Georg Lukács, Martin Heidegger und Theodor W. Adorno, aber auch Walter Benjamin und Siegfried Kracauer, Max Scheler und Karl Mannheim hätten ihre Arbeiten ohne Simmel wohl kaum so erfolgreich vorantreiben können. Allein, einen philosophe maudit rezipiert man vielleicht, aber man zitiert ihn nicht. Der Einfluss Georg Simmels auf die Kritische Theorie (vgl. jetzt Meyer 2017, 295-342) wäre sicherlich genauer zu studieren, um die Spuren aufzudecken, die angesichts des beredten Schweigens über das »Ärgernis Simmel« bislang eher unbemerkt geblieben sind.
Es sollte bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, dass das Interesse an Simmel zumindest für Eingeweihte aufzublü14hen begann. Michael Landmann hat große Anstrengungen unternommen, um sein Vermächtnis zu wahren. Sein Buch des Dankes (Gassen/Landmann 1958) ist eine unglaublich reiche Sammlung, um mehr über »Die geistige Gestalt Georg Simmels« (Susman 1959) zu erfahren. Dennoch gelang es Landmann und seinen Mitstreitern nicht, so etwas wie eine Gesamtausgabe der Schriften Georg Simmels auf den Weg zu...