Warum einfache Regeln funktionieren
Nachdem er eine Reihe von Bestsellern gelandet hatte, darunter Die Botanik der Begierde (The Botany of Desire) und Das Omnivoren-Dilemma (The Omnivore’s Dilemma), fasste Michael Pollan, Autor und Professor an der University of California, seine Erkenntnisse zur Ernährungsphysiologie in drei einfachen Regeln zusammen: »Essen Sie gut. Nicht zu viel. Hauptsächlich pflanzliche Nahrung.« Mit »Essen« meint Pollan echte Nahrung – Gemüse, Obst, Nüsse, Vollkornprodukte, Fleisch, Fisch –, nicht aber »essbare nahrungsähnliche Substanzen«, wie er es nennt, also industriell verarbeitete Lebensmittel, die im Supermarkt die Gänge säumen.1 Damit schließt er alles aus, was unsere Großmütter nicht als Essen erkannt hätten, jegliche Produkte also mit Inhaltsstoffen, die ein Drittklässler nicht einmal aussprechen könnte, oder alle Speisen, die Ihnen durch das Autofenster gereicht werden. Pollans Regeln für gesundes Essen, die an unzähligen Kühlschränken rund um die Welt kleben, definieren genau die vier Eigenschaften, die einfachen Regeln gemein sind.2
Punkt eins: Es kommt auf die Anzahl der Regeln an. Einfache Regeln bestehen aus ein paar wenigen Richtlinien, die auf eine bestimmte Situation oder Entscheidung angewendet werden, beispielsweise wenn es zu entscheiden gilt, was wir essen möchten. Sie bieten eine begrenzte Zahl an Handlungsmöglichkeiten, so dass es gar nicht mehr davon braucht. Indem die Anzahl der Regeln begrenzt bleibt, ist man gezwungen, sich auf das zu konzentrieren, worauf es am meisten ankommt. Man könnte nun meinen, dass das zu Regeln führt, die zur Lösung komplexer Probleme allzu einfach sind. Das stimmt nicht. In vielen Situationen kommt es auf wenige Faktoren an, während ein ganzer Rattenschwanz peripherer Variablen getrost ignoriert werden kann. Wie eine umfassende Überprüfung der wissenschaftlichen Studien zum Ernährungsverhalten bestätigt, können die von Pollan aufgestellten Regeln das Diabetes-, Fettsucht- und Herzinfarktrisiko mindern.3 Um diese Regeln anwenden zu können, müssen sie erinnert werden, und das gelingt, wenn sie auf wenige begrenzt sind. Pollans Regeln für ein gesundes Ernährungsverhalten entsprechen diesen Anforderungen.4
Zweitens: Einfache Regeln sind angepasst an die spezielle Situation und die Person, die sie in dieser Situation benutzt, und kein einheitliches Modell für alle. Shannon Turley zum Beispiel (auf den wir später noch näher eingehen werden) stellt für ein gesundes Ernährungsverhalten ganz andere Regeln auf als Pollan. Als Sportdirektor des Football-Teams an der Stanford University lauten Turleys Regeln: »Frühstücke«, »Achte auf ausreichend Flüssigkeit« und »Iss, so viel du willst, von allem, was man ausstechen, pflücken oder töten kann«. Für große, athletisch gebaute und sehr aktive Football-Spieler, die nicht selten spät schlafen gehen, spät aufstehen, verbissen trainieren und aufgenommene Kalorien leicht wieder abtrainieren, ergeben diese Regeln absolut Sinn. Doch Regeln, die dazu ermuntern, so viel zu essen, wie man möchte, sind sicherlich nicht für jeden geeignet.
Drittens: Einfache Regeln werden auf eine einzige, klar definierte Handlung oder Entscheidung angewendet – wenn es beispielsweise darum geht, wie man sich ernähren soll oder welche verwundeten Soldaten zuerst behandelt werden sollen. Einfache Regeln sind am wirksamsten, wenn sie auf wichtige Handlungen oder Entscheidungen angewendet werden, die einem großen Ziel im Wege stehen. Wenn wir versuchen, all unseren Handlungen oder Entscheidungen die immer gleichen Prinzipien zugrunde zu legen, folgen wir nichtssagenden Phrasen, aber nicht wirksamen einfachen Regeln. Die National Academy of Sciences (NAS) bestellte ein hochrangiges Gremium von Ärzten, Wissenschaftlern und Führungskräften, um zu ermitteln, wie das amerikanische Gesundheitssystem reformiert werden könne.5 Das Gremium entwickelte zehn Regeln, um Tausende von Entscheidungen wie diagnostische Feststellungen, medizinische Verfahren oder administrative Vorgänge, die innerhalb des amerikanischen Gesundheitssystems getroffen werden müssen, zu vereinfachen.6 Diese allgemeine Regelliste, die einzelne, für das System relevante Aspekte wie Sicherheit, Notwendigkeit der Transparenz oder die kontinuierliche Reduzierung der Materialverschwendung enthielt, war sicherlich lobenswert. Allerdings waren die Regeln viel zu schwammig formuliert, als dass sie einem Arzt, der in der Notfallambulanz zu einer raschen Beurteilung der Behandlungspriorität seiner Patienten gelangen muss, oder einer leitenden Oberschwester, die die Aufnahmemöglichkeiten in ein stationäres Hospital organisieren muss, eine konkrete Hilfe bieten würden. Allzu pauschale Handlungsregeln sind in der Praxis meist unbrauchbar – leere Phrasen für Wortblasen in einem Dilbert-Comic.
Viertens: Einfache Regeln geben konkrete Anleitungen, ohne allzu enge Vorgaben zu machen. Pollans Regeln für ein gesundes Ernährungsverhalten schreiben nicht vor, ob Sie zu Mittag Heidelbeeren, Zuckermelonen oder Grünkohl essen sollen. Machen Sie es sich einfach zur Regel, echtes Essen zu sich zu nehmen, pflanzliche Nahrung einzuschließen und nicht zu viel zu essen. Einfache Regeln lassen Raum für eigene Ideen und ermöglichen es, auch unvorhersehbare Möglichkeiten zu nutzen. Ein Private-Equity-Unternehmen mit Sitz in Moskau zum Beispiel entwickelte einfache Regeln, um den gewaltigen Strom an Investmentchancen, die sich Russland in der Übergangsphase zum Kapitalismus in den neunziger Jahren boten, zu filtern. Ein potentielles Investment, so die Regeln des Unternehmens, sollte Einnahmen in einer Größenordnung von 100 bis 500 Millionen US-Dollar erzielen und in einer Branche konkurrieren, in die das Unternehmen zuvor investiert hat. Eine andere Regel definierte potentielle Portfolio- oder auch Zielunternehmen, die Produkte anboten, welche das Kaufinteresse der typischen russischen Familie wecken könnten, sofern diese jeden Monat ein paar Rubel übrig hatte. Diese Regel war auf die gegenläufige Investmentstrategie zurechtgestrickt und begünstigte die Chancen auf dem Konsumgütermarkt, zumal zu einer Zeit, da die meisten Investoren ihre Rubel in die Energie- und Bergbauwirtschaft steckten. Und schließlich gab es noch die Regel, ausschließlich mit Führungskräften zu arbeiten, die Kriminelle zwar kannten, selbst aber nicht kriminell waren, womit man die Allgegenwart illegaler Aktivitäten in Russland zwar zur Kenntnis nahm, gleichwohl aber klare Anleitungen gab, um Verwicklungen mit der russischen Mafia zu vermeiden. Diese einfachen Regeln stehen in krassem Widerspruch zu denen einer russischen Bank, die mit nichtssagenden Phrasen wie »Investieren Sie in neue Unternehmen« oder »Suchen Sie nach Unternehmen mit Wachstumspotential« bei ihren jungen Bankern nichts ausrichten konnte.
In diesem Kapitel untersuchen wir, warum einfache Regeln funktionieren, wie sie zu besseren Entscheidungen führen und wie sie dazu beitragen können, unsere Aktivitäten so zu koordinieren, dass wir gemeinsame Ziele erreichen. Aber beginnen wir zunächst mit einem anderen Vorteil der einfachen Regeln: Sie bieten genau die Flexibilität, die es braucht, um flüchtige Chancen spontan ergreifen und nutzen zu können. Einfache Regeln genau dafür aufzustellen mag uns wie eine Innovation der modernen Gesellschaft erscheinen, ist tatsächlich aber ein alter Hut – wie die Geschichte der frühen Jesuiten anschaulich zeigt.
Mit einfachen Regeln einzigartige Chancen nutzen
Nach einem ganzen Jahrtausend von relativer Überschaubarkeit wurde Europa zu Beginn des 16. Jahrhunderts immer komplexer. Nach dem Untergang des Römischen Reiches genoss die katholische Kirche in ganz Europa tausend Jahre lang ein nahezu allumfassendes Monopol auf die religiöse Lehre. Klöster bewahrten die klassische Glaubenstradition, christliche Universitäten bildeten Europas gesellschaftliche Eliten aus, und durch ihre ausgeprägte Hierarchiestruktur mit der Aufteilung in Kardinäle, Bischöfe und Priester übte die Kirche auf dem gesamten Kontinent auch große politische Macht aus. Anfang des 16. Jahrhunderts begann diese monolithische Autoritäts- und Führungsstruktur zu bröckeln, was zu einer Reihe religiöser Konflikte führte, die im Dreißigjährigen Krieg gipfelten. Als einer der längsten Kriege der neueren Geschichte forderte er acht Millionen Menschenleben, darunter mindestens ein Viertel der deutschen Bevölkerung.7
Parallel zur Zersplitterung der Kirche erweiterte sich auch die bis dahin bekannte Welt. Ende des 15. Jahrhunderts stießen die Europäer in andere geographische Räume vor, entdeckten und kolonisierten Amerika sowie einige pazifische Inseln und Teile Asiens. Innerhalb weniger Jahrzehnte waren Wirtschaft, Gesellschaft und Politik der europäischen Staaten eng verwoben mit entsprechenden Strukturen in exotischen, bis vor kurzem noch unbekannten Ländern. Die Erfindung der Druckerpresse – das Internet des Mittelalters – steigerte Informationsgeschwindigkeit und Informationsmenge und vernetzte einst isolierte Winkel der Welt. Im 15. Jahrhundert wurden weniger als fünf Millionen Manuskripte zu Papier gebracht – allesamt handgeschrieben. Im darauffolgenden Jahrhundert wurden über 217 Millionen gedruckt, während der Buchpreis um zwei Drittel fiel.8
Die katholische Kirche reagierte auf diese neue Komplexität, indem sie die Zahl und Vielfalt...