EINFÜHRUNG IN DIE ERLEBNISPÄDAGOGIK
„Erlebnispädagogik ist ein handlungsorientiertes Erziehungs- und Bildungskonzept. Physisch, psychisch und sozial herausfordernde, nicht alltägliche, erlebnisintensive Aktivitäten dienen als Medium zur Förderung ganzheitlicher Lern- und Entwicklungsprozesse. Ziel ist es, Menschen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen und zur verantwortlichen Mitwirkung in der Gesellschaft zu ermutigen.“3
Mit dieser Definition bringt Prof. Hartmut Paffrath die Chancen und Potenziale der Erlebnispädagogik auf den Punkt. Insbesondere die Ganzheitlichkeit und die Handlungsorientierung eröffnen (jungen) Menschen neue Zugänge zu sich sowie der Welt und stoßen wertvolle Entwicklungsprozesse an.
Auch in der christlichen Jugendarbeit und der Junge Erwachsenen-Arbeit sollen sich Menschen persönlich und im Glauben weiterentwickeln. Damit die erlebnispädagogischen Aktivitäten ihre volle Wirkung entfalten können, braucht es Grundlagen und Rahmenbedingungen, die hier im Folgenden erläutert werden.
Die Grundprinzipien/Strukturmerkmale der Erlebnispädagogik
Die Grundprinzipien sind der Gradmesser jeder erlebnispädagogischen Aktivität. Die konsequente Anwendung dieser Strukturmerkmale schafft beste Voraussetzungen für ganzheitliches Lernen in erlebnispädagogischen Settings.
- Handlungsorientierung: Bei den Aktivitäten steht immer eine Herausforderung im Zentrum, die eine Antwort sucht. In der Erlebnispädagogik besteht eine besondere Chance, inkongruente Verhältnisse anhand von konkretem Handeln und Verhalten bei Gruppen und Einzelpersonen thematisieren zu können.
- Freiwilligkeit: Die Teilnehmenden werden eingeladen und motiviert an den Aktivitäten teilzunehmen. Dennoch bestimmt jede/jeder den Grad ihrer/seiner Herausforderung selbst – mit der Konsequenz, dass Einzelne an Aktionen nicht teilnehmen. Nur ein möglichst freies Erleben kann seine ganze Lernwirkung entfalten.
- Der andere Ort / die Natur: In der Erlebnispädagogik werden wenig pädagogisch erschlossene Räume integriert. Diese können natürlich vorgegeben oder geschaffen werden. Oft ist dieser Erlebnisraum die freie Natur. Ein verantwortungsvolles Verhalten in und mit der Natur ist deshalb von großer Bedeutung.
- Erlebnis: Das Erlebnis ist wesentlicher Schlüssel zum Lernzuwachs. Dabei ist nicht in erster Linie die Dauer der Aktivität oder der Grad der Herausforderung entscheidend, sondern vielmehr sind es die Intensität und Qualität des Erlebnisses.
- Ganzheitlichkeit: Körper, Geist und Seele sollen gleichermaßen angesprochen werden. Damit soll eine Entwicklung in allen Dimensionen des Menschseins ermöglicht werden.
- Selbst- und Gruppenerfahrung: Die Erlebnispädagogik kann einen Beitrag zur Entwicklung der Persönlichkeit sowie zur Erweiterung des sozialen Handlungsrepertoires leisten. Der Ausgangspunkt für Selbst- und Gruppenerfahrungen ist eine authentische Situation mit Ernstcharakter. Sie wird allein und/oder mit der Gruppe erlebt, wahrgenommen, reflektiert und fordert und fördert konkrete Entscheidungen und Antworten. Alte Rollen können verlassen und neue erprobt werden.
- Erleben und darüber reden: „Wir sprechen erst dann von Erlebnispädagogik, wenn nachhaltig versucht wird, die Erlebnisse durch Reflexion und Transfer pädagogisch nutzbar zu machen.“4 So kann aus dem Erlebnis Neues gelernt und behalten werden.
- Sicherheit und Verantwortung: Zu jedem Zeitpunkt muss die Sicherheit der Teilnehmenden gewährleistet sein. Die Mitarbeitenden müssen sich dieser Verantwortung immer bewusst sein (s. Kap. „Hinweise zur Sicherheit“).
Lernmodelle
Der von David Kolb 1984 entwickelte erlebnisorientierte Lernzyklus (Experiential Learning Cycle) ist ein Lernmodell, das in der Erlebnispädagogik viele Anknüpfungspunkte findet. Dieser Lernzyklus umfasst vier Schritte: die Konkrete Erfahrung (1), Beobachtung und Reflexion (2), Abstrakte Begriffsbildung (3) und Aktives Experimentieren (4).
- Konkrete Erfahrung: Diese bildet häufig den Ausgangspunkt eines Lernprozesses. Diese Erfahrung besitzt in der Regel Echtcharakter, d. h. sie hat eine für die Lernenden beobachtbare Konsequenz zur Folge.
- Beobachtung und Reflexion: An dieser Stelle werden affektive und kognitive Erfahrungen miteinander in Verbindung gebracht, reflektiert und somit nochmals mental durchgespielt bzw. in einer gezielten Reflexion verbalisiert sowie in der Gruppe geteilt.
- Bildung abstrakter Begriffe: Der Reflexionsprozess mündet in die abstrakte Begriffsbildung, d. h. die konkrete Erfahrung nimmt Einfluss auf die Wissensstruktur der Lernenden. In diesem Schritt kommt es zu einer Generalisierung, bei der von der konkreten Erfahrung abstrahiert und ihr zugrundeliegende Prinzipien erkannt werden. Erst durch diesen Schritt werden die aus der Erfahrung gewonnenen Einsichten zu Wissen, das auf andere Situationen transferierbar ist.
- Aktives Experimentieren: Im vierten und letzten Schritt werden die Lernenden wieder zu Handelnden: Beim aktiven Experimentieren mit dem neu erworbenen Wissen versuchen sie sich in realen Situationen. Infolge dieses letzten Schrittes im Lernzyklus werden für die Lernenden wieder konkrete Erfahrungen möglich, ein weiterer Durchlauf kann beginnen.
Da der Lernzyklus immer wieder durchlaufen wird, führt der dabei ablaufende Lernprozess, einer Spiralbewegung gleich, immer mehr in die Tiefe. Zu betonen ist, dass der Lernzyklus prinzipiell an jedem der vier Punkte beginnen kann. Also auch bei der Vermittlung abstrakter Begriffe (z. B. Theorien), die durch aktives Experimentieren in der Praxis erprobt und für die Lernenden konkret erlebbar werden.
Erlebnispädagogische Aktivitäten können diesen Zyklus initiieren oder an einem der folgenden Schritte wertvolle Impulse geben. Teilnehmende machen Erlebnisse, durch die bisherige Erfahrungen infrage gestellt werden, was dazu führen kann, dass sie herausgefordert werden, Veränderungen vorzunehmen. Damit es nicht beim bloßen Erlebnis bleibt, kommt der anschließenden Reflexion eine große Bedeutung zu. In ihr werden die Erlebnisse bewusst aufgegriffen und der Lernprozess weitergeführt. Mit diesem Modell werden Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung ebenso abgebildet, wie auch das persönliche Wachstum im christlichen Glauben.
Erlebnispädagogik im christlichen Kontext
Im Kontext von christlicher Jugendarbeit wird gern von einer christlichen Erlebnispädagogik gesprochen. Ein solcher Terminus ist unserer Ansicht nach nicht ganz passend, da die Erlebnispädagogik eine Handlungsweise ist, die an sich weder christlich noch nicht christlich ist. Viel lieber sprechen wir daher von einer Erlebnispädagogik im christlichen Kontext.
Der Fachausschuss Erlebnispädagogik des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg (EJW) hat hierzu ein sehr nachvollziehbares und praxistaugliches Modell entwickelt, das im Folgenden kurz skizziert wird.5
In erlebnispädagogischen Aktivitäten erleben die Teilnehmenden etwas und machen unterschiedliche Erfahrungen. Diese sind sehr individuell und kaum steuerbar. Das Modell der Erlebnispädagogik im christlichen Kontext differenziert hier in drei Erfahrungsdimensionen. In der sich anschließenden Reflexion werden eine oder mehrere dieser Erfahrungsdimensionen aufgegriffen:
- Die Dimension der menschlichen und zwischenmenschlichen Erfahrung: In dieser Dimension steht das konkrete Verhalten und Empfinden der Teilnehmenden im Vordergrund. Die Fragen und Methoden der Reflexion fokussieren die zwischenmenschlichen Dynamiken der Aktivität. Ziele können die Stärkung der Gruppe, die Persönlichkeitsentwicklung oder positive Verhaltensänderungen sein.
- Die Dimension der spirituellen Erfahrung: Diese Ebene geht über die zwischenmenschliche Interaktion hinaus und führt zu Fragen, die das Menschsein, den tieferen Sinn des Lebens berühren. Als Christinnen und Christen können wir tragfähige Antworten anbieten, dennoch geht es nicht in erster Linie darum, diese Dimension nur aus christlicher Perspektive zu betrachten. Vielmehr soll Raum dafür sein, dass Teilnehmende ihre fundamentalen Fragen und Ansichten über sich und das Leben zum Ausdruck und ins Gespräch bringen können.
- Die Dimension der christlichen Glaubenserfahrung: Diese dritte Dimension schließt direkt an die zweite Ebene an bzw. sind die Übergänge teilweise fließend. Denn nun wird der christliche Glaube gezielt ins Gespräch gebracht. Dabei reflektieren und vertiefen Teilnehmende den bereits bestehenden persönlichen Glauben. Ebenso können aber auch Impulse gegeben werden, die eine erste Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben anregen.
Bei STEP OUT werden je nach Dynamik und Zielgruppe alle drei Erfahrungs- und Reflexionsebenen einbezogen. Der Fokus liegt jedoch stärker auf der Dimension der christlichen Glaubenserfahrung. Es empfiehlt sich aber, gerade glaubensfernen Teilnehmenden gegenüber, eine sensible und achtsame Kommunikation zu pflegen, was christliche Themen und die persönliche Glaubensansprache betrifft.
Eine kleine Geschichte der Erlebnispädagogik
„Immer dann, wenn sich Krisen in der Gesellschaft manifestieren, wenn Lösungen zur Bekämpfung ökonomischer und sozialer Probleme an der Mehrheitsfähigkeit in den Parlamenten scheitern und sich Unzufriedenheit und (Staats-)Verdrossenheit breitmacht, suchte die junge Generation nach alternativen Formen der Lebensgestaltung. […] Immer dann, wenn sich Jugend in Bewegung setzte...