Menschen fragen nach Sinn
Beispiel
Begegnungen mit der Sinnfrage
Dem Dachdecker erkrankt die Frau an Krebs. Schnell wird klar, dass sie bald sterben wird. Welchen Sinn macht jetzt noch die Arbeit in dem Betrieb, den beide aufgebaut haben? Wozu nun das Ganze?
Nach dem gemeinsamen Besuch in Brüssel, zur Taufe eines neuen Familienmitglieds, fährt der Rest der achtköpfigen Familie – die für den Ausflug einen Kleinbus gemietet hatte – kurz vor der Ankunft am Heimatort gegen einen Sattelschlepper auf der Gegenspur. Nur ein kleines Mädchen und ein 25-Jähriger überleben. Der junge Mann ist seit einigen Wochen Klient in einem Führungscoaching, da er eine Leitungsfunktion in einem Handelsunternehmen begonnen hatte. Wofür soll das jetzt noch gut sein?
Eine Geschäftsfrau telefoniert während der Fahrt zur Arbeit. Versehentlich rempelt sie mit dem Auto ein Schulmädchen an, das mit dem Fahrrad unterwegs ist. Das Mädchen stürzt unglücklich und verletzt sich das Gehirn so stark, dass es zeitlebens in einem Pflegeheim verbringen wird.
Auf der Intensivstation ringt die Mutter ums Überleben. Wirkliche Hoffnung auf ein Leben Zuhause gibt es nicht mehr. Das Ärzteteam und die klinische Ethikkonferenz beraten einfühlsam. Doch die Kinder stehen weiterhin vor einem Dilemma: Sie können sich nicht einigen, da der frühere Wille der Mutter unklar ist und da die Kinder unterschiedlich über das Leben und den Tod denken.
Mit 54 Jahren wird der erfolgreiche Geschäftsführer eines großen Mittelstandsunternehmens entlassen. Das kam völlig unvorbereitet und seit vielen Jahren blickt er nun erstmals ungewiss in die Zukunft. Er meint, dass vor ihm nur noch eine schwarze Wand stehe und er nicht wisse, wofür er nun überhaupt noch gut sei.
Der 60-jährige Inhaber einer Möbelfabrik wird bald sterben. Die zerstrittenen Söhne seien von ihrer Einstellung noch nicht so weit, das Unternehmen zu übernehmen. Die Frau sei vor zwei Jahren verstorben. Er sucht Rat in der Klärung der Unternehmensnachfolge. Es belastet ihn unerträglich, dass vermutlich sein ganzes Lebenswerk sinnlos war.
Die 26-jährige Betriebswirtin übernimmt eine herausfordernde Führungsposition in einem international tätigen Unternehmen. Sie möchte Karriere machen, möchte aber auch so führen, dass ihre Mitarbeiter sich wohlfühlen und ein glückliches Leben gestalten können. Sie möchte aufmerksam dafür sein, dass in ihrem Verantwortungsbereich sinnvoll und ethisch gehandelt wird. Was ist der richtige Weg, diese Werte zu verwirklichen?
Die 18-jährige Gymnasiastin hängt nur noch ab. Plötzlich, so meinen die engagierten Eltern, habe sie die Motivation verloren, gebe sich mit falschen Freunden ab und nehme Aufputschdrogen. Die Tochter meint, dass sowieso alles egal sei und sie wisse nicht, wofür sie sich im Leben noch einsetzen und wofür sie überhaupt noch leben solle. Alles sei so egal und leer. Auch Suizid sei eine Option.
Der sehr demente Mann wird wiederholt von der Tochter an das Sterbebett seiner geliebten Frau begleitet. Sein Verstand versteht die Situation nicht in ihrer Tragweite. So scheint es. Aber seine Emotionen und sein Körper drückten eine andere Form des Begreifens aus. Das Ehepaar weint viel zusammen und hält sich in den Armen zum Abschied. Dann wird der Mann wieder zurückbegleitet, während bereits die wenigen Schritte auf dem Stationsflur alles vergessen lassen. Er ist wieder nur im Hier und Jetzt.
Dem Inhaber eines Unternehmens gehen mit 51 Jahren – nach einem Herzinfarkt – ungewohnte Gedanken durch den Kopf: War das bisherige Leben richtig ausgerichtet? Er will kürzer treten, mehr auf sich achten. Waren die bisherigen Ziele und die Art zu leben wirklich passend und wertvoll? Bisher führte er sein Unternehmen autoritär und straff, oft auch ohne Liebe zu den Mitarbeitern. War das der Grund für das verengte Herz?
Diese Beispiele zeigen Situationen des Lebens, die ganz normalen Menschen begegnen: Krankheit, Tod, Schuld, plötzliche Veränderung der Rolle, Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, eine neue Nachdenklichkeit nach einem Not-Stopp, neue Gedanken, Rückblick und Vorausblick mit der Frage nach einem Sinn. – Solche Situationen oder Gemütszustände sind mit Fragen verknüpft:
Wohin, wofür, wozu soll ich jetzt leben?
Oder: Wofür war das Bisherige gut, wenn es nun genommen ist? Was oder wer trägt mich jetzt und gibt mir Mut zum Leben?
Aber auch: Wer bin ich eigentlich? Wer sind die anderen? Gibt es ein gutes Leben ab jetzt?
Viele treffen in solchen wirklich schwierigen Situationen auf hilfreiche Menschen, die Trost, Wärme und Halt spenden und hierdurch Hoffnung oder Klarsicht ausstrahlen: Hausärzte, Nachbarn, Freunde, Seelsorger, Coaches, Psychotherapeuten, Hospizmitarbeiter, Palliativspezialisten und andere. Viele treffen auch auf gut gemeinte Ratschläge von Menschen, die ihre eigenen Patentrezepte loswerden möchten. Die meisten Betroffenen jedoch machen die Verstörung mit sich selbst aus oder betäuben Verwirrung und Schmerz in Alkohol, schaffen sich Ablenkung durch Fernsehkonsum und Ähnlichem. Und manche, die Hilfe in existenziellen Fragen suchen, erhalten zwar professionelle Hilfe, die aber ihr grundlegendes Sinnbedürfnis gar nicht berücksichtigt.
Wenn, liebe Leserin oder lieber Leser, ein solcher Mensch zu Ihnen kommt und offensichtlich nicht »krank« ist, sondern nur an einer Sinnfrage »krankt«, dann könnten Sie ein Mensch sein, der Trost, Wärme, Halt, Hoffnung, Klarsicht stiften kann und sich als Begleiter anbietet.
Es gibt kaum einen Klienten, der explizit nach dem Sinn des Lebens fragt. Die meisten Klienten umschreiben eher ihre Sinnsuche oder das Erleben von Sinnlosigkeit mit folgenden Worten: Ich muss mich jetzt ganz neu sortieren. Ich weiß nicht mehr, was richtig ist. Das raubt mir jeden Mut, wie konnte das nur passieren? Wie kann ich jetzt normal weiter funktionieren? Was ist denn jetzt meine Aufgabe? Für welche Werte kann ich jetzt stehen? Was will ich aus meinem Leben machen? Was gibt mir überhaupt noch Halt?
Wir müssen uns also nicht zu großen metaphysischen, religiösen oder humanistisch-säkularen Vorträgen aufschwingen. Wir müssen auch keine Philosophie des Sinns vor unseren Klienten ausbreiten. Es hilft uns aber, wenn wir zum Themenkomplex »Sinn und Existenz« einige Grundgedanken kennen und in die eine und andere Richtung hineingespürt haben, damit wir nicht erschrocken zusammenzucken, wenn ein anderer Mensch in seiner Existenz verunsichert ist und sich an uns wendet: Denn kein »Tool« wird einem Profi beistehen, diesem Menschen zu helfen. Das Werkzeug in der Sinn- und Existenzberatung sind die helfenden Menschen selbst, als annehmendes und fragendes Gegenüber. Die Haltung als Profi ist dabei entscheidend, damit Klienten in verunsichernden Situationen Halt und Klarheit erfahren können.
Es gibt auch Situationen, in denen Klienten zunächst nur Schutz und Trost brauchen. Dann ist die Aufgabe, anfangs fürsorglich für einen Klienten da zu sein und erst im nächsten Schritt die Verantwortung für weitere Schritte zum Klienten zurückzugeben.
An dieser Stelle weise ich Sie schon daraufhin, dass wir uns einer Reihe philosophischer Fragen stellen werden. Wir wenden uns der existenziellen Beratung zu, die sich als praktische Fortentwicklung der Existenzphilosophie versteht. Wir lernen als ein bedeutsames Beispiel für diese Beratungsrichtung die Existenzanalyse und Logotherapie Viktor Frankls kennen. Sie wird auch als Therapieform genutzt, doch sie wurzelt wie alle Formen der Existenzberatung in der phänomenologischen und existenziellen Philosophie.
Von Anfang an war die Logotherapie Frankls als existenzielle Ergänzung zu anderen Therapieformen gedacht, ebenso als Ergänzung zur Beratung, zur Pädagogik, zum allgemeinen Umgang mit Menschen, zur ärztlichen Seelsorge sowie für andere Begegnungen zwischen Menschen, in denen die grundlegenden Fragen zum Sinn des Alltags oder des ganzen Lebensentwurfs auftauchen. Es geht um einen speziellen Blick auf das Sein und das Wesen des Menschen, das eigentlich Humane.