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E-Book

Sissi, Stones und Sonnenkönig

Geschichten unserer Jugend

AutorErwin Steinhauer, Fritz Schindlecker
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783701745234
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Ein heiter-ironischer Rückblick auf eine Zeit, die von Optimismus getragen war. Zwischen 1955, als Leopold Figl »Österreich ist frei!« verkündete, und 1978, als der Sonnenkönig Bruno Kreisky die Zwentendorf-Abstimmung verlor, liegt ein Vierteljahrhundert, in dem sich viel tat: Kurioses, Emanzipatorisches, Revolutionäres und Restauratives. Es geht um verrückte Zeiten: Um die Kukuruzwette zwischen Österreich und der Sowjetunion und ein Ferkel als Trophäe. Um die 'Saupitteln', deren 'Yesterday' schon übermorgen keiner mehr kennen, und um Heinz Conrads, der unvergessen bleiben wird. Um linke Revoluzzer und katholische Sektierer. Mit heiterer Wehmut und bittersüßer Ironie blicken Steinhauer und Schindlecker auf drei turbulente Jahrzehnte zurück.

Erwin Steinhauer wurde 1951 in Wien geboren. Er ist Schauspieler und Kabarettist. Steinhauer spielte in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen, sowie am Burgtheater und am Theater in der Josefstadt. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Goldene Ehrenzeichen für die Verdienste um das Land Wien (2010). Fritz Schindlecker wurde 1953 in Tulln geboren. Schrieb zahlreiche Kabarettprogramme für Lukas Resetarits und Erwin Steinhauer sowie Theaterstücke und arbeitete auch als Fernsehautor. Mitbegründer des Verlags für Gesellschaftskritik und des Labels Extraplatte.

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Leseprobe

Unsere 1950er


Die Erinnerung ist oft das Schönste im Leben, glaube ich.

ROMY SCHNEIDER
am 26. November 1954,
im Alter von 16 Jahren;
Schauspielerin
(1938–1982)

»Was wollts denn ihr über die Fünfzigerjahre sagen? Die habts ihr doch gar nicht richtig erlebt!«

Die Kollegin meint das ernst. Wir wüssten gar nicht, sagt sie, was damals wirklich los gewesen sei. Sie aber schon. Dabei ist sie sonst gar nicht so rasend darauf erpicht, speziell zu betonen, dass sie ein paar Jahre älter ist als unsereiner. So verkündet sie jetzt lautstark, sie habe noch die Russen gesehen mit der »Puschka«, sie habe als Volksschulviertklässlerin den ersten »Tag der Fahne« im 56er Jahr mitgefeiert, und sie sei schon mit dreizehn ein Elvis-Fan gewesen. Ja, so sind sie, die Zeitzeugen: sie haben nicht nur alles gesehen, sie waren auch bei allem und jedem mitgestaltend tätig. Jedenfalls dann, wenn es sich dabei um etwas Positives, Emanzipatorisches und/oder Demokratisches gehandelt hat. Wie jetzt auch hier, in diesem konkreten Fall.

Sie habe, sagt unsere nur um einen kleinen Hauch ältere, aber sich doch um Dezennien reifer gebende Kollegin, sie habe in mühevoller Kleinarbeit, auch unter strategisch gezieltem Einsatz von Krokodilstränen, einen emanzipatorischen Etappensieg gegen ihre verzopften Eltern errungen: Denn unter dem Weihnachtsbaum im 58er Jahr lagen für sie kein Dirndl und auch kein Sprungseil, sondern eine Jimmy-Hose und ein Hula-Hoop-Reifen.

»Gut«, sagen wir darauf, »ja klar, beachtliche Leistung, liebe Kollegin! Aber unsereiner«, fügen wir hinzu, »unsereiner kennt sich auch aus!«

Denn auch wir wissen aus der Besatzungszeit, dass die »Puschka« ein russisches Synonym für »Schusswaffe« ist, also so gebraucht wird wie »gun« im Englischen oder »Kanone« in unerträglichen bundesdeutschen Filmsynchronisationen. Auch wir haben zahllose »Tage der Fahne« miterleben dürfen und Gedichte aufsagen müssen, wie:

ÖSTERREICH, MEIN VATERLAND, HöR, WAS ICH DIR SAGE:
ICH WILL
ÖSTERREICHER SEIN, HEUT UND ALLE TAGE!

Auch wir haben zu unseren ersten Jeans »Jimmy-Hosen« gesagt. Und auch wir haben uns prägende frühkindliche Frustrationen mit dem depperten Hula-Hoop-Reifen zugefügt, weil der Dreck sich nie um unsere Leibesmitte drehen wollte, sondern immer gleich runtergeplumpst ist.

Aber eines ist schon richtig, liebe Kollegin: Im Gegensatz zu dir waren wir damals verdammt jung. Der 1. Jänner 1960 sah Erschi als Volksschuldrittklässler und Fritzi als Erstklässler.

Dazu ein kurzer Einschub: Vornamen quasi zu verkleinern, also statt Erwin »Erschi« und statt Fritz »Fritzi« zu sagen, war damals allgemein üblich. Neben Franzis, Pepis, Poldis und Karlis gab es auch zahllose Dorlis, Liesis, Annis und Mariechens. Spätestens seit den 1980er Jahren nahm diese allgemeine Verkleinerungssucht etwas ab – wer wollte auch schon gern statt Kevin »Kevini« genannt werden, oder statt Pamela »Pämelchen«? In jenen Kapiteln dieses Buches, in denen wir unsere Kinderjahre beschreiben, bezeichnen wir uns selbst mit diesen Verkleinerungsformen, also »Erschi« und »Fritzi«. Sobald wir das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben, verwandeln wir uns in »Erwin«und »Fritz«, die verwegen und entschlossen dem Erwachsenenalter entgegenschreiten.

Da Erschi und Fritzi damals aber eben noch sehr klein waren, haben die 1950er Jahre wahrscheinlich unser Unterbewusstsein mehr geprägt als unser Bewusstsein. Ob wir uns deshalb jetzt in tiefe Melancholie stürzen oder in einen Glückstaumel verfallen sollen, darüber haben wir noch nicht entschieden. Zumal wir als engagierte Teilzeit-Freudianer natürlich wissen, dass unbewusste Prägungen deutlich länger und intensiver wirken als bewusste.

Und was wir dem Konglomerat aus Erinnerungsbildern und Nachgelesenem entnehmen, führt uns zu dem Schluss, dass die 1950er hierzulande keine einfache Zeit waren. Und zwar ganz und gar nicht.

Denn da gab es Russen und Amis, Wirtschaftswachstum und Bauernsterben, Vollmotorisierung und Bittgang-Prozessionen, Jazzclubs und Operettenfilme, Marilyn Monroe und Paula Wessely, Heinz Conrads und Helmut Qualtinger.

Selbstverständlich gab es auch eine junge, neue Literatur mit DichterInnen und SchriftstellerInnen wie Ingeborg Bachmann, Elfriede Mayröcker, Ernst Jandl, H. C. Artmann und noch vielen anderen. Aber es gab auch die alten Literaturpreisträger im neuen ideologischen Kleid – »reloaded«, würde man heute sagen. Diese Gertrud Fusseneggers, Franz Karl Ginzkeys oder Karl Heinrich Waggerls schrieben nicht mehr Hymnen auf Führer, Machtergreifung und deutsche Gaue, sondern auf Jesuskind, Weihnachten und Niederösterreich. Jede Zeit hat bekanntlich ihre treuen Chronisten und manche davon überleben sogar unbeschadet tausendjährige Reiche.

In dieser widersprüchlichen Zeit, in die sie ihre Mütter hineingeboren hatten, besahen Erschi und Fritzi mit heiterem Lächeln jene Umgebungswelt, in die sie direkt aus Abrahams Wurstkessel durch unergründlichen Ratschluss gelangt waren. Rundum zufrieden salutierten sie stramm aus ihren weißwandbereiften Kinderwägen heraus vor den unterschiedlich uniformierten Repräsentanten der Besatzungsmächte und genossen ihre Freiheit und Mobilität. Jeder von beiden wusste vielleicht nicht, ahnte aber, dass ihnen selbst ein Frontalcrash mit einem US-amerikanischen Jeep oder einem sowjetrussischen Panzerspähwagen kaum etwas anhaben konnte. Denn die beiden jungen Herren hatten den Prototyp des späteren Airbags um den Leib geschnallt: einen weißen Wickelpolster mit Schmuckbändern, natürlich in Blau, der Farbe der Knaben mit göttlich vorherbestimmter heterosexueller Orientierung.

Zwei, drei Jahre später durchstreiften die beiden in ihren Matrosenanzügen ganz unterschiedliche Regionen jenes kleinen Binnenlandes, das in der Jugendzeit ihrer Großeltern noch eine stolze Seemacht in der Adria gewesen war.

Deshalb vielleicht auch die Matrosenanzüge.

Doch halt – so weit sind wir ja noch gar nicht. Wo genau standen eigentlich die allegorischen Wiegen von Erschi und Fritzi? Da Hausgeburten damals als ewiggestrig und höchst unmodern galten, erblickten beide Knaben in wunderbar steril ausgeleuchteten Kreißsälen das Licht der Welt. Erschi im Frauenhospiz in der Peter-Jordan-Straße im neunzehnten Wiener Gemeindebezirk, Fritzi im Krankenhaus Tulln.

Wiewohl also beide in zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen, der eine im Roten Wien, der andere im Schwarzen Niederösterreich, zur Welt gekommen waren, hatten sie doch einige Gemeinsamkeiten.

Einer von Erschis Urgroßvätern war Hufschmied in Ernstbrunn im schönen Weinviertel gewesen. Und einer von Fritzis Urgroßvätern hatte in demselben Viertel in Ziersdorf als Sattlermeister gewirkt. Darüber hinaus hatte Erschi einen jüdischen Urgroßvater, Fritzi eine jüdische Urgroßmutter.

Mit den Nazis waren beider Väter als Halbwüchsige in Konflikt geraten: Erschis Vater, der seinem Urgroßvater vergeblich hatte helfen wollen, sich vor den Häschern des Terrorregimes zu verstecken, war aufgegriffen und als Siebzehnjähriger an die Front geschickt worden. Fritzis Vater war wegen »antinationalsozialistischer Umtriebe in der Schule« von der Gestapo verhört und schließlich vom Tullner Gymnasium relegiert worden. Er hatte daraufhin neben seiner Tätigkeit als Luftwaffenhelfer in Wien zwar die Matura machen können, war aber in den letzten Kriegsmonaten dann doch noch an die Front geschickt, verwundet und schließlich in einem Berliner Lazarett von Soldaten der Roten Armee gefangen genommen worden. Nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft in der Ukraine war er 1947 nach Hause, nach Langenlebarn, zurückgekehrt.

Langenlebarn war damals bereits zweifach besetzt und sollte das auch bis 1955 bleiben. Insofern zweifach, als der Ort selbst zur sowjetischen Besatzungszone gehörte, der direkt angrenzende Flughafen aber amerikanisch war.

Wie war das möglich? Wir sehen vor unserem geistigen Auge den gespannt-kritischen Gesichtsausdruck, mit dem Du, liebe reflektierende Leserin, diese stumme Frage an uns richtest. Und wir spüren die naive Treuherzigkeit in Deinem Blick, lieber charmanter Leser, der uns besagt, dass Du tatsächlich bereit bist, jeden, aber auch wirklich jeden Schmarren zu glauben, den wir Dir hier auftischen.

Nun – einer Legende zufolge soll die Entscheidung für diese US-sowjetische Doppelbesetzung der Marktgemeinde Langenlebarn bei der Konferenz von Jalta gefallen sein. Einen Tag vor der Ratifizierung der Schlussakte, am Vormittag des 10. Februar 1945. An ebendiesem Samstag soll Sir Winston Churchill, der ein begeisterter und talentierter Hobbymaler war, um eine Unterbrechung der...

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