Einleitung
»Sitzen ist das neue Rauchen«, diese Behauptung haben Sie sicherlich schon einmal gehört oder gelesen. Dies mag zwar nach einer maßlos übertriebenen Boulevardblatt-Schlagzeile klingen, doch steht der Autor dieser Behauptung, Dr. James Levine, nach wie vor zu seiner Aussage. Als Leiter des Obesity-Solutions-Projekts an der Mayo Clinic der Arizona State University, das Lösungen gegen Übergewicht erforscht, geht er sogar noch weiter. »Sitzen ist gefährlicher als Rauchen, tötet mehr Menschen als HIV und ist tückischer als Fallschirmspringen«, sagt er. Seine simple Schlussfolgerung: »Wir sitzen uns tot.«1
Levine ist nicht der einzige Schwarzmaler. Gestützt auf zahlreiche Forschungsarbeiten, behaupten er und eine rasant wachsende Zahl weiterer Experten, dass nur zwei Stunden Sitzen am Stück die Risiken für Herzerkrankungen, Diabetes, Metabolisches Syndrom, Krebs, Rücken- und Nackenschmerzen und andere orthopädische Probleme erhöht.2 Sitzen verkürzt das Leben genauso wie Rauchen.
Dazu zeigen heute viele Untersuchungen, dass sich die Folgen langfristigen Sitzens auch nicht durch Sport oder andere gesundheitsfördernde Gewohnheiten beseitigen lassen. Selbst wenn Sie gesund essen und regelmäßig eine Stunde am Tag trainieren, aber Ihre restlichen Wachstunden ganz oder größtenteils sitzend verbringen, schmälert oder annulliert dies die positiven Effekte Ihrer Fitnessbemühungen.3 Sie gelten nach wie vor als Vielsitzer.
Manche Experten behaupten sogar, dass Sitzen noch schädlicher als Rauchen sei. Laut einer 2008 in Australien durchgeführten Studie verringert bei über 25-Jährigen jede Fernsehstunde die Lebenserwartung um 21,8 Minuten.4 Das Rauchen einer Zigarette kostet im Vergleich elf Minuten.5 Dr. Levine bekräftigt, dass uns jede Sitzstunde zwei Lebensstunden kostet.6
Der sitzende Büromensch erleidet mehr muskuloskeletale Verletzungen als die Arbeiter aller anderen Industriebereiche, inklusive Baubranche, Metallverarbeitung und Transportwesen. Daraus schließt ein Forscher: Sitzen stellt das gleiche Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz dar wie das Heben schwerer Lasten.7
Seit 20 Jahren untersuchen Ärzte und Wissenschaftler die tödliche Wirkung von übermäßigem Sitzen. In jüngster Zeit ziehen auch die Medien gleich, indem sie das Problem als Krise der öffentlichen Gesundheit beschreiben, aufgrund der vielen Indizien, die den sitzenden Lebensstil mit einer Vielzahl negativer Gesundheitsauswirkungen verbinden. Die WHO stuft körperliche Inaktivität – zu viel Sitzen – heute weltweit als viertgrößte der vermeidbaren Todesursachen ein, mit geschätzten 3,2 Millionen Todesfällen jährlich.8 In nur 20 Jahren katapultierte sich Sitzen in der Liste der gesundheitsgefährdenden Faktoren weltweit ganz nach oben.
Was heißt das für uns – und wie lösen wir das Problem? Die Antwort ist einfach: Der Mensch ist dafür gebaut, sich zu bewegen, außer wenn er schläft. Von dieser wichtigen Tatsache hängen unsere Körperfunktionen ab. Unser Zentralnervensystem entwickelte sich dahingehend, Veränderungen um uns herum wahrzunehmen und uns durch die Umwelt zu bewegen. Seit fast 200 000 Jahren verbringt der Homo sapiens die meiste Zeit in Bewegung. Für sein Essen musste er jagen oder im Boden graben. Um sich fortzubewegen, musste er laufen. All diese lebenswichtigen körperlichen Aktivitäten mögen uns heute anstrengend erscheinen, doch formte dies sowohl das äußere wie das innere Design unseres Körpers. Der Mensch ist für Bewegung konstruiert, und umgekehrt erhält Bewegung ihn gesund – ein natürlicher Mechanismus, der uns überleben ließ.
Das Problem der Evolution ist, dass sie nicht vorausplant. Sie konnte die Erfindung des Stuhls nicht vorhersehen. Anfangs hatte dieses einfache, vierfüßige Möbel keine nennenswerte Gesundheitsauswirkung, sondern diente nur als Rastplatz nach einem harten Tag auf dem Feld oder in der Fabrik. Zeitraffer ins 21. Jahrhundert: In erstaunlich kurzer Zeit entwickelten die Bewohner der Industrienationen weltweit eine fast durchweg sitzende Lebensweise. Der Amerikaner von heute verbringt durchschnittlich 13 Stunden am Tag im Sitzen.9
Sobald die Schreibtisch-Stuhl-Kombination zum kulturellen Arbeitsplatzstandard geworden war, folgten andere sitzbasierte Innovationen. Telefone ermöglichten es Büroarbeitern, am Platz zu kommunizieren. Das Fernsehen verführte Menschen jeden Alters zu passiver Freizeitgestaltung. In den 1950er-Jahren, als Autos erschwinglich geworden waren und das Fernstraßennetz ausgebaut wurde, wuchsen die Vorstädte, die Pendlerkultur wurde eingeläutet. Dann kam der Computer, und unser Schicksal als sitzende Kreaturen war besiegelt.
Der erste Bericht des Leiters der obersten US-Gesundheitsbehörde, der den Zusammenhang zwischen körperlicher Inaktivität und Gesundheit darstellt, wurde 1996 veröffentlicht. Ähnlich dem 1964 veröffentlichten Bericht zum Thema »Tabak« beleuchtete er die breite Beweislage, die den sitzenden Lebensstil mit einer Vielzahl negativer Gesundheitsauswirkungen in Verbindung bringt.10
Das Problem am Sitzen ist, dass es so unschuldig und natürlich erscheint. Unsere Körper biegen sich mit Leichtigkeit in die sitzende Form, wie könnte es also schlecht sein? Wenn man in perfekter Körperhaltung 15 Minuten säße und sich die restlichen Wachstunden bewegen würde, wäre dieses kurze Sitzpensum natürlich nicht schädlich. Sitzen ist jedoch eher wie Kartoffelchipsessen – man tut es nur selten in Maßen.
Wenn wir über längere Zeit sitzen, schalten die Muskeln der unteren Körperzonen buchstäblich ab. Gleichzeitig nehmen wir automatisch Körperhaltungen ein, bei denen die Muskeln nicht aktiviert werden, die zum Stützen und Stabilisieren von Rumpf und Wirbelsäule wichtig sind. Das Ergebnis sind geschwächte Körperfunktionen, die viele orthopädische Probleme mit sich bringen, wie Funktionsstörungen im Rücken- und Halsbereich, Karpaltunnelsyndrom und Beckenbodendysfunktionen. Auf unseren weltweiten Lehr- und Beratungsveranstaltungen beginnen wir immer mit der Bitte, dass alle Teilnehmer im Raum, die keine Schmerzen haben, die Hand heben. Regelmäßig sind das nur fünf bis zehn Prozent – aus den verschiedensten Gruppen, wie Büroangestellte, Militärs, Profiathleten und sogar Kinder. 90 bis 95 Prozent dieser Personen haben also Schmerzen. Unserer Überzeugung nach ist zu viel Sitzen eine der Hauptursachen dafür.
Zu viel Sitzen kostet auch viel Geld. Laut einer amerikanischen Studie bezahlen US-Bürger durchschnittlich drei Viertel jedes Dollars in der Gesundheitspflege für chronische Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Diabetes und Herzleiden, die mit Sitzen in Verbindung stehen.11 Acht von zehn Menschen haben im Lauf ihres Lebens Rückenschmerzen, die weltweit Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit sind.12 Allein in den USA werden jährlich fast eine Milliarde US-Dollar zur Behandlung von Rückenschmerzen13 und auf Arbeitgeberseite 20 Milliarden US-Dollar bei Karpaltunnelsyndromen14 aufgewendet, zuzüglich der indirekten Kosten für Arbeitszeitverluste und verringerte Produktivität. Diese Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs – angesichts der Ausgaben für unsere angeschlagenen sitzenden Körper.
Für viele Menschen klingt das wenig glaubwürdig, um nicht zu sagen übertrieben. Doch die Beweise dafür, dass zu viel Sitzen gefährlich ist, häufen sich. Wenn wir uns unsere Kindheitsgefühle besser ins Gedächtnis rufen könnten – Laufen, Springen und Krabbeln ohne Schmerz oder Einschränkung –, dann würden wir das, was wir heute als Erwachsene für »normal« erachten, mit mehr Skepsis sehen. Wir würden den Ursachen für unser Leiden vielleicht intensiver auf den Grund gehen.
Da in unserer sitzorientierten Welt der wahre Grund für Schmerz und Unwohlsein sehr schwer fassbar und die Schuldzuweisung nicht leicht ist, tun wir das aber nicht. Bei vielen unserer modernen Leiden ist unser hartnäckig sitzender Lebensstil die Ursache. Er schwächt den Körper und bereitet Schmerz und Erkrankungen den Boden. Es wird Zeit, dass wir uns endlich erheben und Maßnahmen gegen das weltweite Sitzen ergreifen.
Das Problem unter der Oberfläche
Schon früh in seiner physiotherapeutischen Karriere sowie als Kraft- und Konditionstrainer wusste Kelly, dass er als Beobachter auftreten musste, um in seiner Arbeit erfolgreich zu sein. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass ungewöhnlich viele Menschen Schmerzen hatten. Überzeugt davon, dass unsere Gelenke mindestens 110 Jahre funktionieren und dass der Mensch im Ruhezustand schmerzfrei ist, verblüffte ihn die Tatsache,...