Der Homo sedentarius
»Nach ausgiebiger Analyse und Sichtung der wissenschaftlichen Befunde und Beobachtung des menschlichen Lebensstils der letzten fünfzig Jahre«, sagte der Professor, »komme ich nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss, dass der moderne Mensch, der Homo sapiens, langsam, aber sicher vom Aussterben bedroht ist. Alles spricht dafür, dass wir uns einer neuen Gattung Mensch gegenübersehen, die sich so schnell verbreitet wie keine andere jemals zuvor. Ich nenne sie den Homo sedentarius.« Gebannt hing die Zuhörerschar an den Lippen des Professors. »Nach meinen aktuellen Schätzungen können Sie davon ausgehen, dass mindestens jeder Zweite von Ihnen die neuartige Genmutation in sich trägt.« Ein Raunen ging durch die Menge. Hier und da waren entsetzte Aufschreie zu hören. Viele blickten sich um und musterten misstrauisch ihren Nebenmann. Die alles entscheidende Frage schwebte über ihren Köpfen: Bin ich einer von ihnen?
Sicher, jeder von uns hat sich schon die eine oder andere Dokumentation über noch existierende Naturvölker und Stämme angeschaut. Es ist beeindruckend zu sehen, wozu Menschen imstande sind. Sei es der tägliche Schulweg, bei dem 20 Kilometer über Bergpässe zurückgelegt werden müssen, das Erklettern von hochhaushohen Bäumen zur Ernte von Früchten oder der Sprint unter der sengenden Sonne Afrikas während einer Jagd. Sehen wir im Gegensatz dazu uns an, erscheint es uns unvorstellbar, dass wir von noch sehr viel sportlicheren und robusteren Vorfahren abstammen. Dabei gibt es optisch doch kaum Unterschiede. Aber bei Lebensweise und Alltag handelt es sich um zwei grundverschiedene Spezies. Während unsere Vorfahren ihre Körper tagein, tagaus am Limit bewegt haben und einige Naturvölker dies auch noch heute tun, sitzt der Homo sedentarius in seinem Massagesessel und jammert über seinen wund gesessenen Hintern, während er ihnen dabei im Fernsehen zusieht.
Die Bezeichnung Homo sedentarius leitet sich von den lateinischen Wörtern »Homo« – Mensch – und »sedere« – sitzen – ab. Der Homo sedentarius hat es sich in seinem sitzenden Leben bequem gemacht und folgt dem Treiben der Welt bevorzugt auf seinen vier Buchstaben anstatt seiner zwei Beine. Den Tag verbringt er meist im Büro sitzend an seinem Schreibtisch. Wenn er abends nicht vor dem Fernseher hängt, hockt er im Kino, sitzt im Theater, chillt in einer Bar, oder lümmelt bei Freunden. Selbst an Tagen, an denen Schreibtischstuhltäter etwas Sport am Nachmittag treiben, kommen zwar einige Schritte mehr zusammen, die empfohlenen 10 000 werden, wie weiter vorne bereits beschrieben, jedoch so gut wie nie erreicht. Und wenn doch, dann nur unter größter Anstrengung. Jeder, der sich jetzt wiedererkannt hat, darf sich zur großen Gruppe der Menschen zählen, die den evolutionären Abwärtssprung zum Homo sedentarius geschafft haben. Es scheint, als würde er von einer Sitzgelegenheit zur nächsten springen und ganz wie bei der »Reise nach Jerusalem« oder »Stuhltanz« verliert der, der am Ende noch steht.
Der Homo sedentarius in Zahlen
Ob im Büro, auf dem Sofa, im Kino, in Bars, im Auto oder in Bus und Bahn – wir sitzen und das nicht zu knapp. Nach einer Studie der DKV und der Deutschen Sporthochschule in Köln aus dem Jahr 2015, in der 3000 Leute aus ganz Deutschland befragt wurden, sitzen die Deutschen unter der Woche im Durchschnitt 7,5 Stunden pro Tag, am Wochenende etwas weniger. In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen sind es sogar neun Stunden. Das heißt, gerade die jungen Leute, die sich doch in den Jahren zuvor immer durch besondere Fitness ausgezeichnet haben, sind heute die Sitzenbleiber der Gesellschaft. Verrückt, oder? Männer scheinen im Schnitt eine halbe bis dreiviertel Stunde mehr zu sitzen als Frauen, wobei sie andere Beschäftigungen im Sitzen bevorzugen. Die Teilnehmer der Studie wurden nämlich auch danach gefragt, was sie auf ihren vier Buchstaben sitzend so machen. Die meiste Zeit, nämlich rund 30 Prozent der Sitzzeit, geht unter der Woche für Fernsehen drauf. Bei Männern sogar noch mehr. Frauen hingegen trainieren ihr Sitzfleisch lieber bei Kinobesuchen, Treffen mit Freunden oder gemütlichem Lesen. Natürlich sind das alles nur statistische Mittelwerte. Es gibt also genug Leute, die deutlich weniger sitzen als der Durchschnitt. Als Kehrseite gibt es aber auch viele, ja sehr viele Menschen in Deutschland, die fast den ganzen Tag im Sitzen verbringen und ihren Körper vermutlich nur in die Senkrechte bringen, um zur Toilette zu gehen oder dem Pizzaboten die Tür zu öffnen.
Auch in anderen Studien waren die Angaben zur sitzend verbrachten Zeit nicht weniger beunruhigend. In einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2008 beispielsweise trugen die Teilnehmer sogenannte Akzelerometer. Das sind Beschleunigungsmesser, die man am Handgelenk oder an der Hüfte trägt. Mit Hilfe von solchen Akzelerometern kann man sich ein ziemlich genaues Bild des Bewegungsverhaltens machen, sprich wie schnell und wie lange man sich bewegt oder eben auch nicht.
Diese Messmethode ist besonders zuverlässig. Bei subjektiven Messmethoden wie etwa Fragebögen hat man als Wissenschaftler immer das Problem, dass man nicht sicher sein kann, ob das, was die Leute angeben, auch den Tatsachen entspricht. Denn natürlich läuft niemand den ganzen Tag mit einer Stoppuhr durch die Gegend, um genau zu dokumentieren, wie viel Zeit er oder sie mit welchen Tätigkeiten verbringt.
Insgesamt werteten die amerikanischen Forscher Daten von 6329 Studienteilnehmern im Alter von 6 bis 85 Jahren aus. Am wenigsten Zeit im Sitzen verbrachte die jüngste Altersgruppe, nämlich die Sechs- bis Elfjährigen. Bei ihnen betrug der Anteil der Sitzzeit etwa 40 Prozent des Tages, also rund sechs Stunden. Liebe Eltern, an dieser Stelle können Sie wirklich noch etwas von Ihren Kindern lernen. Während wir Erwachsenen in der Freizeit meist träge auf dem Sofa herumhängen, können kleine Kinder gar nicht genug von Bewegung bekommen. Sie hüpfen herum, rennen beim Spazierengehen voraus und klettern auf jede Mauer und jeden Baum, der ihnen auf ihrem Weg begegnet. Aber Achtung: Wenn die Kleinen größer werden, siegt die Bequemlichkeit über die Neugierde und der natürliche Bewegungsdrang scheint schlichtweg zu verpuffen. Die Teenies eifern fleißig den Erwachsenen nach und versuchen, sich möglichst deutlich vom kindischen Verhalten zu distanzieren. Abhängen vor dem Fernseher, dem Computer, dem Smartphone oder auf dem Sofa mit Freunden – Hauptsache so wenig Bewegung wie nur möglich. Vor allem bei den Jugendlichen zwischen sechzehn und neunzehn Jahren sieht man einen deutlichen Anstieg. Hier entspricht der Anteil der Sitzzeit schon gut 60 Prozent des Tages, das heißt um die acht Stunden. Erwachsene zwischen zwanzig und sechzig Jahren verbrachten in dieser Studie gut 7 bis 7,5 Stunden des Tages im Sitzen. Die inaktivste Gruppe waren schließlich die 70- bis 85-Jährigen. Sie brachten es auf über neun Stunden Sitzen pro Tag. Was sicherlich nicht verwunderlich ist. Im Unterschied zu der zuvor beschriebenen deutschen Studie, verbrachten hier die Frauen fast durchweg mehr Zeit im Sitzen als die Männer. Insgesamt sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen aber verhältnismäßig gering, sodass vor allem zählt, dass viele Menschen, egal ob Männlein oder Weiblein, schlichtweg sehr viel Zeit im Sitzen verbringen.
Interessant ist auch eine Studie amerikanischer Forscher aus dem Jahr 2013. Die Wissenschaftler schauten sich nicht nur an, wie viel Zeit im Sitzen oder in Bewegung verbracht wird, sondern auch, wie sich die bewegte Zeit auf verschiedene Anstrengungskategorien verteilt. Hierfür nutzen sie Daten einer repräsentativen Stichprobe von 3725 Amerikanern und ebenfalls Akzelerometer. Körperliche Aktivitäten werden in der Wissenschaft häufig in drei Kategorien unterteilt: geringe, moderate und hohe Intensität. Mit Aktivitäten von geringer Intensität sind beispielsweise gemütliches Gehen, leichte Hausarbeiten, Stehen oder auch entspannte Formen des Yogas gemeint. Unter Aktivitäten mit moderater Intensität fallen: Wandern, lockeres Fahrradfahren oder Tischtennisspielen. Und Aktivitäten mit hoher Intensität sind alle Beschäftigungen, die richtig anstrengend sind. Nein, nicht in den Keller gehen und einen Kasten Bier holen. Vielmehr sind Joggen, Fußball spielen oder auch Skifahren gemeint. Diese Unterteilung haben wir auch schon bei der Studie an den Amish in Kanada kennengelernt.
Auch die Teilnehmer dieser Studie verbrachten mehr als die Hälfte des Tages im Sitzen. Zudem lag die Dauer für moderate Aktivität im Mittel gerade einmal bei 22 Minuten und die für intensive Aktivität sogar nur bei einer Minute pro Tag. Das heißt, weder wird das Herz-Kreislauf-System gefordert noch muss die Muskulatur während des Tages besonders hart arbeiten. Das ist, als würde man einen Sportwagen immer nur mit 30 Kilometern pro Stunde zum nächstgelegenen Supermarkt und von dort wieder zurück fahren. An seinem schönen Auto wird der Besitzer vermutlich nicht lange Freude haben, da es für eine ganze andere Beanspruchung gebaut ist. Übrigens wurde in dieser Studie auch die Anzahl der Schritte erfasst. Diese lag im Durchschnitt bei 6549 Schritten pro Tag – also weniger als die Hälfte der Schritte, die die Amish in Ontario am Tag im Durchschnitt zurücklegten. Außerdem verbrachten die Amish eine Stunde (nicht eine Minute) mit intensiver und ganze 351 Minuten mit moderater Aktivität, und zwar jeden Tag. Die Zeit, die sie täglich im Sitzen verbrachten war mit 186 Minuten fast um das 3-fache geringer als die der untersuchten...