Ein unbeachtetes Glück ist kein Glück! - Davon handelt auch das folgende chinesische Märchen. Es zeigt uns, was uns passieren kann, wenn wir nur ausgerichtet sind auf unser Unglück.
Das Glückskind und das Unglückskind
Es war einmal ein Fürst, der eine Tochter hatte, und diese Tochter war ein Unglückskind. Als es an der Zeit war, dass sie sich vermählen sollte, ließ sie alle Freier vor das Schloss kommen. Sie wollte einen roten Seidenball unter sie werfen, und derjenige, der ihn fing, sollte ihr Gatte werden. Fürsten und Grafen und allerhand hohe Herren waren da, nur einer unter ihnen war ein Bettelmann. Als die Prinzessin sah, dass dem Bettler Drachen zu den Ohren hineinkrochen und zur Nase wieder herauskamen, wusste sie, dass er ein Glückskind ist. Da warf sie ihm den Ball zu, und der Bettler fing ihn auf.
Als der Vater sie zornig fragte, warum sie das getan habe, antwortete sie: »Weil er ein Glückskind ist. Wenn ich ihn heirate, bekomme ich vielleicht ein wenig von seinem Glück ab« Der Vater aber war nicht einverstanden und wollte sie bewegen, ihre Wahl zurückzunehmen, doch die Prinzessin blieb dabei, und da jagte der Vater sie erbost aus dem Schloss.
Von da an wohnte die Prinzessin mit dem Bettler in seiner kargen Hütte, musste von Kräutern und Wurzeln leben, und manchmal gab es auch gar nichts zu essen. Eines Tages aber sprach der Bettler zu ihr: »Ich will in die Welt hinaus und mein Glück suchen, und wenn ich's gefunden habe, werde ich zurückkommen und dich holen.
Die Prinzessin lebte in ihrem Elend nun ganz allein, denn der Vater blieb unversöhnlich, und hätte die Mutter ihr nicht hin und wieder heimlich etwas zugesteckt, so wäre sie wohl gar verhungert.
Der Bettler jedoch fand schließlich sein Glück und wurde sogar Kaiser. So kam er zurück, aber seine Frau erkannte ihn nicht, sah nur, dass er der Kaiser war.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Warum interessiert Euch das?«, antwortete sie. »Ich bin doch nur eine arme Bettlersfrau und viel zu gering für Euch.«
»Und wo ist dein Mann?«
»Er verließ mich vor achtzehn Jahren, um sein Glück zu suchen und ist immer noch nicht zurückgekehrt.«
»Und du? Was tust du über all die Zeit?«
»Auf ihn warten«, sagte die Frau mit niedergeschlagenen Augen.
»Warum nimmst du dir denn keinen Anderen, da er so lange fortbleibt?«
»Nein, das tu ich nicht, ich bin seine Frau für alle Zeit.« Da gab sich der Kaiser endlich zu erkennen, ließ sie in Gold und Seide kleiden und nahm sie mit auf sein Schloss. Dort lebten sie nun in Überfluss und Freuden. Die Frau war aber doch ein Unglückskind. Als achtzehn Tage vergangen waren, wurde sie plötzlich krank und starb - der Mann aber lebte noch viele Jahre.
Chinesisches Märchen
Die Prinzessin steht ganz unter dem Bann ihrer negativen Selbsteinschätzung. So sehr ist sie überzeugt davon, ein Unglückskind zu sein, dass eine innere Stimme sie dazu treibt, unter all den anwesenden Freiern ausgerechnet den auszuwählen, an dessen Seite ihr Leben eine einzige Qual sein wird. Damit macht sie - und zwar selbst gegen die Widerstände ihres mächtigen Vaters - ihr angenommenes Schicksal wahr.
Die Tatsache, dass sie dabei nicht »kopflos« handelt, sondern mit einiger Überlegung, denn sie erkennt ja, dass der Bettler ein Glückskind ist, macht die Sache nur noch tragischer. Irgendein anderer der anwesenden Freier hätte ihr bestimmt ein Leben in Geborgenheit und Wohlstand ermöglichen können, dann wäre sie zwar nicht Kaiserin geworden, hätte aber auch nicht achtzehn Jahre in Einsamkeit und Elend verbringen müssen. Aber nein, sie vermeidet das Glück und sorgt zielsicher dafür, im Unglück zu bleiben - achtzehn lange Jahre, bis das Schicksal sich wendet und wir schon aufatmen wollen: Jetzt endlich bekommt sie es, ihr lang ersehntes Glück! Doch da stirbt sie, nach nur achtzehn Tagen, also einem Bruchteil der Zeit, die sie hatte warten und leiden müssen.
Wir suchen, was wir kennen
In den Achtzigerjahren erschien ein Buch von Robin Norwood mit dem Titel Wenn Frauen zu sehr lieben. Dieses Buch, das heute noch im Handel ist und viel gelesen wird, rief Bestürzung unter sehr vielen Frauen und einigen Männern hervor. Es handelt unter anderem davon, dass etwas uns treibt, immer wieder das zu suchen, was wir aus frühester Kindheit kennen, egal wie schmerzhaft es für uns ist. Ein Beispiel:
Ein Mädchen wächst in einer Familie auf, in der der Vater gewalttätig ist. Er schlägt die Mutter und die Kinder immer und immer wieder, und das Mädchen hat nur eines im Kopf: Ich will, ich muss da raus! Kaum ist sie achtzehn oder zwanzig Jahre, heiratet sie, und kaum dass sie verheiratet ist, fängt ihr Mann an, sie zu schlagen. Die junge Frau wird dann vielleicht sagen: »Ich hatte keine Ahnung, dass er gewalttätig ist, er hat mir ja vor der Ehe nie etwas getan!« Und doch war sie es, die sich diesen Mann ausgesucht hat, mit einem untrüglichen Gespür dafür, dass er ihr geben kann, was sie kennt und womit sie in ihrer Kindheit gelernt hat, umzugehen. Das Andere - glücklich sein, Zärtlichkeiten annehmen, geliebt und geachtet zu werden - das kennt sie ja nicht, und wüsste gar nicht, wie sie es ertragen sollte.
Ein weiterer Grund für das geschlagene Mädchen, sich einen Schläger zum Mann zu nehmen, ist die unbewusste Hoffnung, den Mann zum Positiven hin zu verändern und damit gleichzeitig die quälende Kindheit in den Griff zu bekommen, das Trauma zu bewältigen. Selbstverständlich geht das nicht, und vom logischen Denken her wissen alle Betroffenen das auch. Aber die Psyche hat nichts mit Logik zu tun, sie handelt nach ihren ganz eigenen Gesetzen.
Der einzige Weg, aus dieser Mühle herauszukommen, ist der, sich das Unbewusste bewusst zu machen, um dem unbewussten Handeln die bewusste Tat entgegensetzen zu können.
Nehmen wir unsere Prinzessin. Wie kommt sie denn überhaupt darauf, ein Unglückskind zu sein? Jemand hat es ihr wohl eingeredet. Vielleicht eine Weissagung an der Wiege, vielleicht hat aber auch der strenge und harte Vater ihr immer wieder gesagt: »Alles was du anfasst, endet im Unglück! Du kannst nichts, du verdirbst alles, aus dir wird nie etwas werden!«
Es könnte auch die Mutter dazu beigetragen haben, dass ihre Tochter so wenig Selbstvertrauen hat. Sie scheint mir eine schwache, schattenhafte Frau zu sein, denn sie tritt nur einmal in Erscheinung, und da heißt es, dass sie der Tochter ab und zu »heimlich« etwas zusteckt. Sie kann sich also gegen den übermächtigen Gatten nicht durchsetzen, nimmt hin, was er bestimmt, egal wie schmerzlich es auch ist. Dieses zaghafte Verhalten schaut sich die Tochter nicht nur von ihr ab, wir können auch davon ausgehen, dass die Mutter das Kind überbehütet, ganz einfach weil es ihrem Frauenbild entspricht, dass Frauen schwach sind und Schutz brauchen.
Dieses Bild können wir im Übrigen auch als Projektion einer vom Patriarchat bestimmten Gesellschaft betrachten, in der die weibliche Stärke verkümmert ist. So wird die Frau zu einem schwachen Wesen ohne die Kraft zur Selbstbestimmung, ein Wesen, das sich einreden lässt nichts zu können und nichts zu taugen und das darum sein Glück auch nicht selbst in die Hand nimmt, sondern dem Mann anträgt.
So wächst also die Prinzessin in dem Glauben auf, ein Unglückskind zu sein, und wird darum auch nichts so sicher anziehen wie das Unglück. Das Unglück wird zu ihrem Leben, es wird ein Teil von ihr, sie selbst wird das Unglück. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie vorgibt, das Glück zu suchen. »Er ist ein Glückskind, und wenn ich ihn heirate, bekomme ich vielleicht etwas von seinem Glück ab«, sagt sie. Aber wollte sie wirklich ihr Glück finden, würde sie selbst sich auf den Weg machen, es zu erlangen und nicht einfach nur hoffen, von ihrem Mann ein bisschen davon abzubekommen.
Dazu müsste die Prinzessin das eben Erläuterte aber durchschauen. Sie müsste einigen Mut aufbringen, das, was sie als Kind nie gelernt hat, jetzt als erwachsene Frau nachzuholen: Verantwortung übernehmen, sich den Dingen stellen, dem Vater entgegentreten, sich von der Mutter lösen. Nicht wenig, was da auf sie wartet, aber am Ende stünde als Belohnung ihr eigenes Glück, das ihr dann auch niemand mehr nehmen könnte. Doch die Prinzessin bleibt ihrem Unglück verhaftet. Achtzehn Jahre wartet sie tatenlos, und dann, als sie tatsächlich mit dem Glück konfrontiert wird, ist es so unerträglich für sie, dass sie aus dem Leben geht.
Schauen wir uns eine andere Prinzessin an, die ebenso im Unglück verfangen zu sein scheint. Sie nimmt ihr Schicksal aber in die Hand, und am Ende kann sie es auch überwinden. Es ist ein sizilianisches Volksmärchen, das mir Rosalina Russo, eine sizilianische Bekannte, erzählt hat, und das ich hier frei nacherzähle.
Prinzessin Unglücklich
Es waren einmal ein König und eine Königin aus Spanien, die hatten sieben Töchter, die alle jung und schön waren. Das Königspaar und die Töchter waren sehr beliebt beim Volk, und so lebten alle glücklich und zufrieden miteinander. Doch eines Tages fiel ein fremder König mit seiner übermächtigen Armee in Spanien ein, metzelte alles nieder und nahm den König gefangen. Nur die Königin und ihre sieben Töchter konnten fliehen und sich in einer halb verfallenen Hütte irgendwo im letzten Winkel des Reiches verstecken. Dort lebten sie in Armut und versuchten, sich mit Stickereien und dergleichen am Leben zu erhalten. Doch so schön ihre Arbeiten auch waren, kaum jemand wollte sie haben, und so wurde es von Tag zu Tag schwerer für die Königin, ihre Töchter zu ernähren.
Als sie eines Tages ganz alleine zu Hause war, während ihre Töchter im Wald nach Holz suchten,...