Kapitel 1
Soja im Osten
Bei den alten Chinesen galt Soja als nationales Kulturgut, das sie mit dem Namen »das gelbe Juwel« ehrten. 1
Ja, die Chinesen verehrten die Sojabohne – aber sie aßen sie nicht.
Die Sojabohne ist eine der »fünf heiligen Getreidepflanzen«, neben Reis, Hirse, Gerste und Weizen. 2 Diese Einordnung ist in vielfältiger Hinsicht seltsam. Zum einen ist die Sojabohne nicht wirklich eine Getreidepflanze, sondern eine Hülsenfrucht, zum anderen wurde sie ursprünglich nicht besonders häufig als Nahrungsmittel verwendet. Doch die Sojabohnen zeichneten sich auf andere Art aus: Sojapflanzen wurden in der Landwirtschaft als »grüner Dünger« angebaut – also als Zwischenfrucht, die untergepflügt wurde, um zwischen den Anbauphasen von Nahrungspflanzen den Boden anzureichern. Sojapflanzen leben in Symbiose mit Rhizobien, einem Bakterienstamm, der Knöllchen an Pflanzenwurzeln bildet, um den aus der Luft gewonnenen Stickstoff im Boden zu binden. Die chinesischen Schriftzeichen für Reis, Gerste, Weizen und Hirse deuten darauf hin, dass diese Pflanzen zum Verzehr dienen. Das Schriftzeichen für Soja zeigt nur an, dass diese Pflanze kräftige, stickstoffbindende Wurzeln besitzt. 3 4
Die »Zähmung« der Bohne
Erst vor etwa 2500 Jahren wurde Soja vom Stickstoffbinder zum fermentierten Lebensmittel. 5 6 Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Chinesen Sojabohnen für ungenießbar gehalten. Wie sie darauf gekommen waren, dass Sojabohnen nach dem gewöhnlichen Kochen noch giftig sind, bleibt ein Rätsel. Anthropologen, die mehr als 50 Gesellschaften in Südostasien, Asien und im Pazifik untersuchten, fanden heraus, dass Sojabohnen erst dann als für Menschen geeignete Kost angesehen wurden, als man eine Verarbeitungsmethode entdeckt hatte, mit der ein antinutritiver Inhaltsstoff der Sojabohne – ein sogenannter Trypsininhibitor – großenteils deaktiviert werden konnte. 7 Trypsininhibitoren wurden zwar erst Mitte des 20. Jahrhunderts eindeutig identifiziert, aber es ist wahrscheinlich, dass die Mitglieder der untersuchten Gesellschaften aus eigener Erfahrung zu dem Schluss gelangten, dass man ein Nahrungsmittel, das so viele Verdauungsstörungen und Blähungen hervorrief, lieber nicht essen sollte. Durch die Entdeckung der Fermentation konnten die Chinesen später jedoch die unerwünschten und unangenehmen Eigenschaften der Sojabohne »zähmen« und sie damit in ein »wohlerzogenes«, genießbares Nahrungsmittel verwandeln.
Ursprünglich entwickelten die alten Chinesen ein Verfahren zum Einmachen eiweißhaltiger tierischer Lebensmittel – jiang, eine suppenartigere Variante der Sojabohnenpaste, die am ehesten unter ihrem japanischen Namen Miso bekannt ist. Dabei wurden Fische, Meeresfrüchte, Wild und Fleisch – oft zusammen mit Blut, Knochen und Gedärmen – gesalzen und in eine Mixtur aus Salz und Reiswein gegeben, bis sie sich weitgehend auflösten und zu einer Paste wurden, die nur mehr Stückchen enthielt. Durch zusätzliche Fermentation wurden Geschmäcker und Aromen verstärkt. Bei Sojabohnen und Getreide wurde dieses Verfahren erstmals zwischen dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert und dem vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung angewandt. 8 9 Sojasoße war eigentlich nur die Flüssigkeit, die bei der Herstellung von jiang abgegossen wurde. Als eigenes Nahrungsmittel tauchte sie ebenfalls erst im genannten Zeitraum auf; es sollte aber noch mehrere Jahrhunderte dauern, bis sie in größeren Mengen produziert wurde. 10 Nattō, Tempeh und weitere aus der ganzen Sojabohne hergestellte Erzeugnisse spielten erst viel später eine Rolle in der Lebensmittelversorgung – so tauchte Nattō erst etwa 1000 n. Chr. und Tempeh nicht vor dem 17. Jahrhundert auf. 11 12
Sämtliche Behauptungen, denen zufolge Sojabohnen seit mehr als 3000 Jahren oder gar »seit alters her« ein bedeutender Teil der asiatischen Ernährung sein sollen, sind demnach falsch. Der Historiker William Shurtleff vom Soyfoods Center im kalifornischen Lafayette erklärt die diversen Legenden über die Erwähnung von Sojabohnen und Sojalebensmitteln in Texten, die angeblich bis ins Jahr 2838 v. Chr. zurückreichen, mit »heute weitgehend als Fälschungen anerkannten Schriften von Historikern, die zur Zeit der Han-Dynastie – also etwa 2600 Jahre später – tätig waren und der chinesischen Tradition folgten, alle anerkennungswürdigen Dinge mit einer erfundenen uralten Abstammung zu versehen«. 13
In der japanischen Mythologie heißt es, dass die Göttin Oketsuhime Mikoto fermentierte Sojabohnen zum Wohle künftiger Generationen aus ihrem eigenen Körper gebar. 14 Aus historischen Aufzeichnungen wissen wir, dass buddhistische Mönche danach die Forschung und Entwicklung übernommen haben müssen. Wahrscheinlich brachten chinesische Missionare zwischen 540 und 552 n. Chr. 15 das Miso nach Japan, wobei eingelegte Sojabohnen und fermentierte Soßen allerdings schon unabhängig davon in den nordöstlichen Landesteilen erfunden worden sein dürften. 16
Wie dem auch sei: Die frühesten Versionen des japanischen Miso ähnelten dem chinesischen jiang und enthielten im Allgemeinen Gewürze, Öl und oft auch Fleisch. Später entwickelten die Japaner dann ein einfacheres und feineres Produkt, dem sie den Namen »Miso« verliehen und das erstmals in Dokumenten aus den Jahren 806 und 938 n. Chr. erwähnt wird. 17 Im 12. Jahrhundert übernahmen Samurai-Krieger die Führung des Landes und führten eine frugale nationale Küche ein. Herzstück jeder Mahlzeit waren nunmehr Körner, zu denen Misosuppe, gekochtes Gemüse und kleine Mengen Fisch, Schalentiere oder Tofu serviert wurden. Erst zu diesem relativ späten Zeitpunkt begann Miso auf Soja- und Körnerbasis eine maßgebliche Rolle in der japanischen Ernährungsweise zu spielen. 18 19
Fleisch ohne Knochen
Tofu – das kein fermentiertes Lebensmittel ist, sondern durch Ausflocken der Proteine in der Sojamilch hergestellt wird – wurde etwa zur selben Zeit erfunden wie Miso. Der Legende nach soll der damals sehr angesehene Alchemist, Meditationsmeister und Herrscher Prinz Liu An aus dem chinesischen Huainan um 164 n. Chr. herausgefunden haben, dass man einen Brei aus gekochten Sojabohnen mittels Nigari (einem aus Meerwasser gewonnenen Magnesiumchlorid) in feste und flüssige Bestandteile trennen kann. Ist dem Bohnenquark die Flüssigkeit entzogen, wird er zu festen Blöcken geformt. Liu An wollte die Sojabohnenschlacke eigentlich nur aus dem Grund in Tofugold verwandeln, um der vegetarischen Ernährung der Mönche billiges Protein hinzufügen zu können. 20 21 22 Mit der Zeit haben die Mönche dann vielleicht bemerkt, dass die libidinöse Stimmung in ihren Klöstern im selben Maße abnahm, wie der Tofuverbrauch stieg. Das passenderweise »Fleisch ohne Knochen« genannte Nahrungsmittel stand bald regelmäßig auf klösterlichen Speiseplänen, wo es zur Unterstützung der spirituellen Entwicklung und der sexuellen Enthaltsamkeit eingesetzt wurde. Diese Ernährungsstrategie wird durch neuere Studien bestätigt, die nachweisen, dass die in Soja enthaltene pflanzliche Form der Östrogene – die Phytoöstrogene – den Testosteronspiegel senken kann. 23 (Siehe auch Kapitel 28 und 29.)
Bald wurde Tofu zu einem der Grundnahrungsmittel in buddhistischen Klöstern, wo man ihm auch spirituelle Kräfte zuschrieb, die nur wahrhaft erleuchtete Menschen vollständig begreifen konnten. So beschloss beispielsweise Bodhidharma – ein Heiliger, der die chinesische Zen-Schule gründete – eines Tages, zu überprüfen, inwieweit Tofu mit den Lehren Buddhas im Einklang stand, indem er das Lebensmittel zu einem »Dharma-Kampf« herausforderte. (Dharma bedeutet »das Gesetz« oder »das rechte Verhalten«.) Was Bodhidarma damit genau gemeint hat oder wie dieser Kampf aussah, ist leider nicht überliefert – doch die Fähigkeit von Tofu, wie ein Schwamm praktisch alles aufzusaugen, brachte der Speise offenbar den Sieg ein. Tofu bestand nicht nur den Test, sondern wurde auch noch wegen seiner edlen Schlichtheit, seiner Lauterkeit und seines »schönen weißen Gewandes« gepriesen. 24
Ist Soja ein Grundnahrungsmittel?
Befürworter von Sojalebensmitteln stellen gern die Behauptung auf, dass Soja in asiatischen Ländern ein Grundnahrungsmittel sei. Das würde aber bedeuten, dass es ein wesentliches Element, ein wichtiger Bestandteil oder ein grundlegendes Charakteristikum wäre – also etwas, das einen großen Teil der in einer bestimmten Ernährungsweise enthaltenen Kalorien liefert.
Tatsächlich aber essen die Menschen in China, Korea, Vietnam, Thailand, Indonesien, der Mongolei und auch Japan gar nicht so viel Soja.
Im Buch Food in Chinese Culture, einer 1977 erschienenen Sammlung wissenschaftlicher Abhandlungen, heißt es etwa, dass Sojalebensmittel nur 1,5 Prozent der Kalorien der chinesischen Ernährung ausmachen – verglichen mit den 65 Prozent, die aus Schweinefleisch stammen.
Auch in der 1975 vom California Department of Health herausgegebenen Broschüre Nutrition During Pregnancy and Lactation wird erwähnt, dass sojahaltige Lebensmittel in Japan und...