Als Reaktion auf die neoliberale Politik und der Krise von 1980 Jahre bis heute wurden in Lateinamerika vielerorts von der Schließung bedrohte Betriebe besetzt und die Produktion von der Belegschaft übernommen. Angesichts der entstandenen prekären Situation erkannten die Betroffenen, dass sie eigenständig an der Konzeption einer neuen Gesellschaft arbeiten mussten. Es entstanden verschiedene soziale Bewegungen sowie Produktionsgenossenschaften, die alternative Ökonomiekonzepte entwarfen um sich selbst zu helfen. Internationale Netzwerke werden gebildet, um so eine Solidarische Ökonomie als Teil der Gesellschaft zu entwickeln. (vgl. Auinger 2004:4).
Zwischen 30er und Ende der 70er Jahre wurden die lateinamerikanischen Länder in der Form eines bürgerlichen Entwicklungsstaats regiert. (vgl. Leubolt 2004:143ff). Der Staat hatte die Aufgabe für wirtschaftliches Wachstum zu sorgen. Diese Entwicklung fand jedoch bestenfalls für die subalternen Klassen, jedoch nicht durch sie statt. (vgl. Leubolt 2004a:143ff). Stattdessen stehen Finanzkrisen, verstärkte Polarisierung von Einkommen und Vermögen, ein Rückgang der Industrialisierung und damit sinkende Lebensstandards bei der Mehrheit der Bevölkerung auf der Tagesordnung. Firmenzusammenbrüche, die weltweit ein Heer von Arbeitslosen mit sich gebrachten haben, die nicht mehr gebraucht werden, haben den einzelnen nachhaltig die Grenzen eines Systems vor Augen geführt, mit dem er mitgewachsen ist und das auch von einer Struktur her mehrheitlich als richtig anerkannt wurde. (vgl. Kemmetmüller 1985:495ff). Die Folgen der neoliberalen Entwicklungsstrategien waren verheerend. In Brasilien kam es zu einem chronischen Leistungsbilanzdefizit, die Auslandsschulden wuchsen an und es erfolgte ein Hin und Her zwischen hektischen Kapital zu- und Kapitalabflüssen, was sich in Leitzinserhöhungen auf bis zu 64,8 Prozent niederschlug und zu sehr kurzem Wachstumszyklen führte. (vgl. Andrioli/Schmalz 2005:196). Im Jahre 1998/99 geriet Brasilien in eine schwere Finanz- und Währungskrise. Das Ergebnis der Krise war ein Wachstum der Staatsschulden in nur zwei Monaten von 42 Prozent auf 53 Prozent des BIP und eine stagnative Wirtschaftsentwicklung von 0,1 Prozent BIP-Wachstum im Jahre 1998 und 0,8 Prozent im Jahre 1999. (vgl. Andrioli/Schmalz 2005:196). Insgesamt führte das neoliberale Entwicklungsmodell durch die Privatisierung und das Wachstum der Auslandsschulden auf insgesamt 227,8 Mrd. US $ im Jahre 2002 zu einer Vertiefung der Außenabhängigkeit.
Die 1990er Jahre waren deshalb im Gegensatz zu den 1980er Jahre eine Periode der politischen Niederlagen für die brasilianischen sozialen Bewegungen. Die Ergebnisse der neoliberalen Politik, etwa das Wachstum des informellen Sektors und die dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, veränderten die Lage der Arbeiter so sehr, dass in vielen Fällen die bloße Erhaltung der Arbeitsplätze im Mittelpunkt der Kämpfe stand. (vgl. Andrioli/Schmalz 2005:196).
Besonders dramatisch für die vielen Betroffenen waren aber die Betriebsschließungen und die hohe Arbeitslosigkeit. Weniger die periodischen Einbrüche auf den Finanzmärkten oder die ökologische Zerstörung als vielmehr die ständige Verschlechterung der individuellen, wesentlich an die Arbeit gekoppelten Lebenslage wird unmittelbar als Krisenhaft erlebt. (vgl. Exner/Sauer/Hangel, Schweiger/Schneider 2005:10f). Seit den 1970er Jahre hat sich die Bevölkerung immer zahlreicher mobilisiert bis schließlich Militärdiktaturen zur Fall gebracht wurden und sich ein neues Dispositiv etablieren konnte: das der Selbstorganisation! Die Entwicklung sollte nun von den Menschen selbst anstatt von BürokratInnen bestimmt werden. (vgl. Leubolt 2004a:143ff).
Nicht individuell sondern in kollektiver Aktion konnten die besetzten Betriebe in Brasilien, wie zum Beispiel Cooperminas, eine Kohlenmine in Santa Caterina und Catende Harmonia, die größte Zuckerfabrik Lateinamerikas in Nordosten[1] Brasiliens im Bundesstaat Pernambuco wieder in Gang gesetzt werden. (vgl. Uriona 2007:8f). Somit war die Regierung im Lauf der Zeit gezwungen darüber nachzudenken, die Betriebsbesetzungen zu legalisieren. In der Krise und als Antwort darauf entstand die „solidarische Ökonomie“.
Der Begriff der „solidarischen Ökonomie“ wird von Susanne Held als Formen des Wirtschaftens, die menschliche Bedürfnisse auf der Basis freiwilliger Kooperation, Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe befriedigen, definiert. (vgl. Held 2011:29).
Solidarökonomie gibt es nahezu in allen lateinamerikanischen Ländern von Venezuela bis Chile. Die Beschäftigung mit dem Thema Solidarökonomie in ganz Lateinamerika würde ein neues Themenfeld darstellen, das einer eigenständigen Untersuchung bedarf. In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich daher auf die selbstverwalteten Betriebe in Brasilien und deren Entwicklungen in den letzten 10 Jahren konzentrieren. Anhand des Beispiels Brasilien möchte ich der Frage nachgehen, ob solidarökonomische Genossenschaften eine Alternative oder Nische als eine Antwort auf Marktversagen im Neoliberalismus sein könnte. (vgl. Uriona 2007:8ff).
In Brasilien formierten sich nach lang andauernder Militärdiktatur (1964-1985) zahlreiche soziale Bewegungen. Im Widerstand gegen Totalitarismus und Populismus kämpften sie einerseits für demokratische Rechte, anderseits forderten speziell die Unterschichten die Berücksichtigung ihrer materiellen Bedürfnisse – wie z.B. Trinkwasser, Wohnraum, Kanalisation oder öffentliche Gesundheitsversorgung. Es bildeten sich autonome Bewegungen, die politische Forderungen an den Staat stellten. (vgl. Leubolt 2004a:146ff).
Die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) konnte mit der Zeit relativ an Stärke gewinnen. Charakteristisch für diese Partei war lange Zeit, dass sie sich aus AktivistInnen sozialer Bewegungen zusammensetzte und darüber hinaus weitgehend auch die Autonomie der Bewegung respektierte. Ein spektakulärer Sieg in der Geschichte der Partei war sicherlich 2002 die Wahl ihres Kandidaten – Luis Inácio Lula[2] da Silva – zum Präsidenten des Landes. (vgl. Leubolt 2004a:146ff). Es entstanden neue Hoffnungen. Es konnten gute Beziehungen der Lokalregierung zu den sozialen Bewegungen entwickelt werden.
Seit 1980ern erlebt die Solidarökonomie in Brasilien einen neuen Aufschwung. Vor allem die universitären Incubadoras[3] („Incubadoras stammt von den Begriffen, Entwicklung, Herausbildung, Ausbildung ab und bedeutet so viel wie „Brutstätte“) spielen in der Solidarökonomie eine wichtige Rolle[4]. Demnach sind die Incubadoras universitäre Gruppen, bestehend aus ProfessorInnen, StudentInnen und UniversitätsmitarbeiterInnen, die sich zum Ziel gesetzt haben, universitäres Wissen auch benachteiligten Gesellschaftsschichten zugänglich zu machen. Dabei werden Wissenstransfer, volksbildnerische Lernmethoden nach Paulo Freire angewandt. Ziel ist neben der Schaffung von Arbeit und Einkommen die Stärkung des Bewusstseins der Staatsbürger und deren Ausübung. (vgl. Hauer 2008:16).
Seit 1990er Jahre experimentieren Sie mit zahlreichen Initiativen und Projekten. Mit diesen und ähnlichen Projekten setzen Sie sich für benachteiligten Menschen ein und versuchen somit ihnen einen Ausweg aus der prekären Lebenslagen zu ermöglichen. Nicht nur die Incubadoras sondern viele andere Innovationswerkstätten an vielen brasilianischen Universitäten, die von Gewerkschaften und Kirchenorganisationen (Caritas) unterstützt werden, haben sich organisiert. (Innovationswerkstätten für Gemeinschaftsbetriebe)[5]. Damit ging CUT (Central Ùnica dos Trabalhadores), die grösste Gewerkschaft Brasiliens, die mehr als 7,5 Millionen Mitglieder zählt, über traditionelle gewerkschaftliche Politikansätze hinaus und fördert die Gründung solidarischer Betriebe. In einigen Universitäten gibt es schon Postgraduierten-Abschlüsse in solidarischer Ökonomie. (vgl. Müller-Plantenberg 2006:116). Die fachliche Ausbildung und der Transfer des Wissens in die Betriebe und Projekte solidarische Ökonomie sind somit zentral. Heute gibt es bundesweit über 80 Incubadoras in Brasilien.
Ausgehend von verschiedenen Caritas-Projekten für eine lokale Gemeindeentwicklung in den 1980er Jahren und ersten Betriebsübernahmen in den 1990er Jahren, hat sich in Brasilien eine bedeutende „solidarökonomische Bewegung“ entwickelt. 2001 wurde auf Anregung der Weltsozialforums in Porto Alegre, ein eigenes Staatssekretariat für solidarische Ökonomie sowie eine bundesweite Arbeitsgruppe Solidarwirtschaft (GTBrasileiro da Economia Solidária) gegründet. (vgl. Dierekes 2011:3ff). Durch die Mobilisierung der Zivilgesellschaft wurde von der Regierung Lula 2003 SENAES [6] gegründet. (Azzellini, Ness 2011: 23). Eines der Hauptaufgaben von SENAES ist die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut unter Kooperation mit anderen staatlichen Stellen wird die Wirtschaftspolitik innerhalb des Ministeriums für Arbeit und Beschäftigung koordiniert. Weiteres fördert SENAES die Schaffung, Erhaltung und vor allem den Ausbau von Beschäftigungsmöglichkeiten für selbstverwalteten...