Excalibur
Es gibt Menschen, die sagen, du spinnst.
Ich weiss.
Und?
Nun – (hier die erste von gegen achttausend langen Pausen) – nun, aus ihrer Sicht mag das stimmen. Ich selber sehe das anders.
Du spinnst nicht?
Nein.
Sondern?
Ich kalkuliere.
Du kalkulierst?
Ja, ich kalkuliere. Ich kalkuliere das Risiko.
Wenn du das Risiko kalkulierst, dann heisst das, dass du auch scheitern könntest. Warum schliesst du es nicht ganz einfach aus und kletterst ganz normal mit Seil und Haken und im Klettergurt?
Das hat viele Gründe. Einer davon ist, dass sich das Risiko nie ausschliessen lässt. Jeder von uns geht tagtäglich das «Risiko Leben» ein. Jeder, der die Strasse überquert, kalkuliert vorher das Risiko. Ist ihm das Auto weit genug entfernt, entscheidet er sich zum Gehen. Ist es ihm zu nah, ist das Risiko zu gross, und er wartet ab.
Nun, eine Felswand hochzuklettern, die glatt wie Eis ist …
Eine Felswand ist nie glatt wie Eis! Sie hat Kanten, Griffe, Vorsprünge, Löcher, Risse.
Gut. Dann eben so: Eine Felswand hochzuklettern, die glatt scheint wie Eis, und das ganz ohne Sicherung – sei ehrlich –, wie kalkulierbar ist so ein Risiko?
Bin ich nicht davon überzeugt, dass ich es schaffe, steige ich nicht ein, denn bin ich erst mal drinnen, gibt es – zumindest bei Excalibur – kein Zurück mehr.
Ausser, wenn du fällst.
Ausser, wenn ich falle, aber ich falle nicht.
Warum nicht?
Weil ich vorbereitet bin. Weil ich die Route im Schlaf kenne. Weil ich sie wieder und wieder gesichert geklettert bin und dabei die brüchigen Griffe abgeklopft habe.
Was so viel heisst wie, dass du sie entfernt hast?
Nein, das wäre ethisch nicht korrekt, ich habe sie abgeklopft, um zu hören, wie sie klingen, und habe mir die gemerkt, welche hohl tönen, diese habe ich dann beim Klettern einfach nicht angefasst.
Trotzdem – du setzt dein Leben aufs Spiel.
Im Gegenteil, ich tue etwas ganz anderes: Ich lebe!
Also, ich weiss nicht, Ueli, ich …
Wäre am Morgen von Excalibur nur der kleinste Zweifel gewesen, ich wäre zu Hause geblieben und hätte Kaffee getrunken.
Aber du bist nicht zu Hause geblieben.
Nein, ich ging.
Du hast gewusst, dass du überlebst?
Glaubst du mir etwa nicht?
Ich muss dir glauben, denn sonst sässen wir heute nicht hier. Trotzdem – was, wenn du nicht zurückgekehrt wärst?
Dann hätte jemand gewusst, wo ich zu suchen bin.
Jemand?
Ein Freund. Frag nicht nach dem Namen. Der Einzige, den ich immer orientiere, wenn ich alleine klettern gehe. Ihm sagte ich, ich würde wieder an die Wendenstöcke gehen.
Hast du ihm gesagt, dass du free solo einsteigen wirst?
Nein, denn damit hätte ich nicht nur mich unter Druck gesetzt, sondern auch ihn absolut unnötig belastet. Verstehst du? Ich will niemanden damit belasten. Ich will nicht, dass sich jemand um mich sorgt. Auch dann nicht, wenn ich solo unterwegs bin.
Was ist der Unterschied zwischen Solo und Free Solo?
Solo ist ein ganz anderer Stil als Free Solo. Solo bedeutet, man trägt einen Klettergurt, daran ist eine Bandschlinge befestigt und an dieser ein Karabinerhaken. Solo ist man zwar ohne Seil unterwegs, aber man hat immer die Möglichkeit, sich mit dieser Schlinge in einem Bohrhaken einzuhängen und auszuruhen. Kräfte zu sammeln, Armen und Beinen eine Erholung zu gönnen. Free Solo hingegen klettert man ohne Hilfsmittel, das heisst nur in Kletterfinken und mit einem Beutel Magnesium. Ist man solo, weiss man, dass Pausen möglich sind, dass man – im Extremfall – an einem Haken eingehängt, auf Rettung warten kann. Die psychische Anspannung bei Free Solo ist ungleich grösser, weil bei diesem Stil die einzige Sicherheit die ist, die man in sich selbst findet.
Ich habe mich bei meinem Freund dann aber doch verraten, denn bevor ich aufhängte, sagte ich etwas, das ich zuvor noch nie gesagt habe, nämlich: «Und heute Abend, ich verspreche es, bin ich wieder zurück.» Er war ein armer Tropf.
Du kannst dir also vorstellen, dass man sich Sorgen um dich macht?
Klar! Ich würde mir, wenn ich wüsste, dass ein Kollege von mir eine Route free solo klettern will, auch Sorgen machen. Das würde mich sogar sehr beschäftigen. Logisch! Deshalb muss man es vorab auch niemandem sagen, denn sich Sorgen zu machen, bringt nichts und hilft niemandem weiter. Im Gegenteil.
Warum dann die Andeutung bei diesem Freund?
Das war grundlegend, ich wollte …
… eine Absicherung?
Absicherung? Nein! Es gibt bei Free Solo keine Absicherung. Es ging mir lediglich darum, dass man nicht das ganze Berner Oberland nach mir hätte durchforsten müssen. Das wäre ja blöd gewesen.
Den ersten Anruf bekam danach deine Freundin Nicole, warum nicht dein Freund?
Ich musste erst ihre Stimme hören, dann – ich hatte ihn nicht vergessen – schrieb ich ihm per SMS zwei kurze Worte.
«Bin zurück»?
Genau.
Und – wie hat er reagiert?
Er schrieb zwei kurze Worte zurück.
«Bin froh»?
Nein: «Okay, gut».
Sag mal, warst du ein wildes Kind?
Wild? Nein, eher ruhig. Aber Auslauf brauchte ich schon immer.
Hast du von Excalibur geträumt, bevor du free solo eingestiegen bist?
Nie.
Und danach?
Nein. Vor dem Einschlafen, da bin ich die Route wieder und wieder und wieder, immer wieder in Gedanken gegangen, habe jeden Griff, jeden Tritt, jeden Vorsprung durchgespielt. Aber geträumt? Nein, geträumt habe ich von Excalibur nie.
War Excalibur free solo selbst ein Traum?
Excalibur ist ganz einfach eine der schönsten Routen, die es gibt. Excalibur heisst nicht nur die Route, sondern auch der ästhetische Pfeiler, der in der Südwand der Wendenstöcke im Berner Oberland in den Himmel ragt. Excalibur ist ein Klassiker, es ist die erste Route, die an diesem Pfeiler erschlossen wurde. Sie ist nicht wahnsinnig schwer. Abgesehen von ein paar risikoreichen Stellen, wo es extreme Felsplatten hat. Von meinen Fähigkeiten her konnte ich diese Route ohne grosse Probleme klettern. Ganz abgesehen davon, hat mich nicht ihr Schwierigkeitsgrad gereizt, sondern ihre fantastische Linie.
Du bist an einem Dreizehnten eingestiegen …
Hätte ich vorher gewusst, dass dieser Morgen, es war ein Sonntag im Juni 2004, die Dreizehn trägt, ich hätte – abergläubisch, wie ich ein kleines bisschen bin – mein Vorhaben verschoben. Rückblickend gesehen, ist klar, dass ich diesen Tag nicht mit Unglück verbinden konnte, denn da war null Raum, um an Daten zu denken. Stunden – nein, wohl eher Tage – zuvor, genauso wie Tage danach, befand ich mich in einer Art Vakuum. Nicht weggetreten! Im Gegenteil – sehr nah bei mir. Ich atmete, ich zog mich an, ich ass, ich trank, ich fuhr Auto, ich hängte mir den Magnesiumbeutel um, ich zwängte meine Füsse in die Kletterfinken – den rechten übrigens immer zuerst. Egal, was für Schuhe, ich ziehe immer den rechten zuerst an.
Wegen dem Aberglauben?
Genau. Wäre ich an diesem Morgen aus Versehen zuerst in den linken geschlüpft, ich hätte alles abgeblasen. Meine Gedanken waren in einer Art und Weise von meinem Vorhaben absorbiert, wie ich das kaum für möglich gehalten hätte. Es gab für nichts anderes mehr Raum. Da waren nur noch die Route und ich.
Und ein bisschen Angst?
Nein, keine Angst. Ich wusste, es gelingt. Ich hatte mich seriös auf Excalibur vorbereitet. Ich konnte mich auf mich verlassen. Und damit wirklich nichts schief lief, machte ich dem Berg ein Geschenk.
Warum lächelst du?
Weil er es angenommen hat.
Erzähl.
Als ich 2002 in den Himalaja fuhr, um eine Wand zu klettern, die noch nie jemand zuvor geklettert war, bekam ich von Martin, einem befreundeten Goldschmied, einen Glücksbringer, den ich mir um den Hals hängte. Er war aus Jade und ähnelte einem peruanischen Amulett.
Und – hat er dir damals Glück gebracht?
Ich war zwar nicht erfolgreich,...