Sound der Zeit
Einleitung
Der Teufel kam hinauf zu Gott
Und brachte ihm sein Grammophon
Und sprach zu ihm, nicht ohne Spott
Hier bring ich Dir der Sphären Ton
(Christian Morgenstern)
In seiner Vorlesung über das Wesen der Religion widmete der Philosoph Ludwig Feuerbach den Sinneseindrücken bei der Ausprägung des religiösen Gefühls eine längere Betrachtung: »Hätte der Mensch nur Augen und Hände, Geschmack und Geruch, so hätte er keine Religion, denn alle diese Sinne sind Organe der Kritik und Skepsis. Der einzige sich im Labyrinth des Ohres ins Geister- oder Gespensterreich der Vergangenheit und Zukunft verlierende, der einzige furchtsame, mystische und gläubige Sinn ist das Gehör.« Es gebe Völker, »bei welchen kein anderes Wort für Gott existiert als der Donner«; das Trommelfell sei der Resonanzboden des religiösen Gefühls, das Ohr insgesamt die »Bärmutter der Götter« und damit das »Organ der Angst«. Doch das Ohr ist nicht nur der mediale Kanal, mit dem die Götter Furcht und Schrecken verbreiteten, auch die Menschen nutzten ihn mit der gleichen Absicht. Sie schüchterten den Gegner ein durch lautes Rufen oder Schlagen der Speere auf die Schilde (wodurch sie zugleich ihre eigene Angst vertrieben). Julius Cäsar beschrieb in de bello gallico respektvoll die Schlachtgesänge der Germanen (barditus), James Fenimore Cooper das sprichwörtlich gewordene Huronengebrüll.
Lärm, dem man sich nicht entziehen kann, war für Dante eine der schlimmsten vorstellbaren Foltern überhaupt. Im Kapitel Inferno in der Göttlichen Komödie besteht eine der Strafen der Verdammten darin, ewig an eine Glocke geschmiedet zu sein, deren gewaltige Schläge dem Pönitenten unaufhörlich durch Mark und Bein dröhnen. Auch jeder Besucher eines Rockkonzerts weiß, wovon Dante schreibt. Ohrenbetäubender Lärm ist eben nicht nur Folter; es kann auch höchst mitreißend sein, das Wummern einer Bassgitarre, das Stampfen eines Schlagzeugs in jeder einzelnen Körperzelle zu spüren.
Das Ohr nimmt noch anderes auf. In seiner Vorrede zu Hölderlins Hyperion schreibt Dietrich E. Sattler: »Das Gesagte gilt einem anderen Deutschland, jenseits von Herrschaft, Gerede und Lärm.« Das Ohr also auch als nicht zu verschließendes Einfallstor läppischer Banalitäten, die vom Eigentlichen – dem Ernst, der Stille, der Konzentration – wegführen.
Der englische Mathematiker Charles Babbage kaufte alle Drehorgeln in seiner Umgebung auf, weil sie ihn beim Nachdenken störten. Schopenhauer seufzte: »Der Lärm ist der Mörder aller Gedanken«. Und: »Ich möchte wissen, wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben.« Goethe kaufte ein baufälliges Haus in der Nachbarschaft auf, um dessen – absehbar Lärm verursachende – Renovierung zu verhindern. Heine hielt die Pendel sämtlicher Uhren in seiner Wohnung an, weil ihn deren Ticken am Schreiben hinderte – und wusste doch: »Oh Grab, du bist das Paradies für pöbelscheue zarte Ohren!« Ähnlich Kafka, der in seinem Tagebuch notierte: »So viel Ruhe wie ich brauche gibt es nicht oberhalb des Erdbodens.« Richard Wagner bestreute die Straße vor seinem Haus mit Glasscherben, um spielende Kinder fernzuhalten. Wilhelm Busch hasste das Klappergeräusch von Messer und Gabel sowie das Türenschlagen. Marcel Proust ließ dicke Lagen Kork an den Wänden seines Arbeitszimmers anbringen, um alle Außengeräusche abzuhalten.
Nicht nur individuelle Strategien gegen den Lärm wurden entwickelt. In den USA gründete Mrs. Isaac L. Rice wegen der unerträglichen Dauergeräusche aus dem New Yorker Hafen 1908 den ersten Antilärmverein, die Society for the Suppression of Unnecessary Noise; ihr berühmtestes Mitglied war Mark Twain. Der Schriftsteller Ferdinand Avenarius rief im selben Jahr in der Zeitschrift Der Kunstwart zur Bildung eines internationalen Antilärmbundes auf unter dem merkwürdigen Motto non clamor sed amor (nicht das Geschrei, sondern die Liebe). Und Ende der 1920er Jahre versuchte die Wiesbadener Polizei eine »hupenlose Woche« einzuführen. All dies waren Initiativen, um die schlimmsten Auswüchse des Lärms etwas zu lindern, unterbinden konnten sie ihn nicht.
Der Mensch nimmt – mehr oder weniger bewusst – einen Großteil seiner Informationen über das Gehör auf. Es gibt Klänge, die man nicht mehr vergisst, so nachhaltig haben sie sich in das akustische Gedächtnis eingegraben. Für die, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, zählen dazu gewiss die lang anhaltenden Pfeiftöne der Luftschutzsirenen, die die anfliegenden alliierten Todesschwadronen ankündigten. Auf andere Weise unvergesslich sind aber auch immer wieder gehörte Tonfolgen aus der Werbung für eine Kaffeesahne (»Nichts geht über Bärenmarke«) oder Süßigkeiten (»Haribo macht Kinder froh«), die ebenfalls einen ganz eigenen akustischen Erinnerungskosmos evozieren. Wir haben Stimmen von Sängern bzw. Melodien wie Yesterday oder Fragmente eines akustischen Brandings abgespeichert, die wir, solange wir leben, nicht vergessen. Dazu gehören auch die vertrauten Stimmen etwa der Eltern, der Geschwister oder der Großeltern. Es gibt Verkehrsgeräusche, an die man sich gewöhnt hat und die man eventuell sogar nostalgisch verklärt wie das rhythmische Schnaufen der Dampflok. Und es gibt Geräusche, an die man sich nie gewöhnt, etwa den Lärm von Düsenflugzeugen in der Einflugschneise eines Flughafens. Warum reagieren wir so unterschiedlich auf Gehörtes?
Wie klangen Städte zur vorletzten Jahrhundertwende im Vergleich zu der Zeit vor dem Beginn von Industrialisierung? Und wie klingen Städte heute? Sind sie lauter oder leiser geworden? Ab wann begannen Menschen, den urbanen Lärm als Belastung, gar als unerträgliche Belastung wahrzunehmen? Ab wann wurde der Lärm erfasst und gemessen? Wann wurde – und gegen welche Widerstände – mit der Planung von Lärmschutzmaßnahmen begonnen? Hatte die DDR einen anderen ›Sound‹ als die Bundesrepublik? Weisen politische Gemeinwesen überhaupt so etwas wie eine akustische Kennung auf? Und worin besteht diese? Kann man sie beschreiben? Wie klang die Stimme Hitlers, die wir nur aus den Aufzeichnungen von Großveranstaltungen kennen, im privaten Umfeld? Ist es überhaupt wichtig, diesen Unterschied zu kennen? Wann und mit welchen Folgen begannen die Nazis, Mikrofon und Lautsprecher in ihrer politischen Agitation einzusetzen? Wie beschallte man das riesige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg? Wie wurde damals und wie wird heute mit Tönen und Klängen Politik gemacht? Welche Rolle spielen dabei die technischen Medien der akustischen Reproduktion? Welche Bedeutung können Lieder bei der Identitätsbildung von Individuen, Kollektiven oder gar Nationen haben?
Musik war und ist nie nur eine kulturelle Ausdrucksform oder ein passives Hörvergnügen, sie wurde und wird auch heute eingesetzt, um subtil zu beeinflussen, zu benebeln, zu schockieren, zu quälen, gar zu foltern. Eine Musikkapelle begleitete nicht nur im KZ Mauthausen Todgeweihte zur Hinrichtungsstätte. Mit Richard Wagners Walkürenritt fielen US-Truppen in irakische Städte ein. Im amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo versuchte man, die dort Festgehaltenen zu brechen, indem man sie über Kopfhörer stundenlang mit Musik aus der Serie Sesamstraße beschallte.
Mit solchen Themen oder Fragen beschäftigen sich die Beiträge in diesem Buch. Wie diese Beispiele zeigen, verwenden wir – ähnlich wie die Hamburger Medienwissenschaftlerin Joan Bleicher und der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer – einen weiten Klangbegriff, nämlich im Sinne des Englischen ›sound‹ als der »Gesamtheit von Stimmen, Tönen und Geräuschen«.
Aber wie ›klingt‹ nun eigentlich Geschichte, und warum hat die Geschichtswissenschaft in akustischer Hinsicht bislang »kaum einen Laut« von sich gegeben (Tillmann Bendikowski)? Historikerinnen und Historiker eignen sich seit jeher die Vergangenheit über das Studium von Texten und auch – in jüngerer Zeit verstärkt – durch die Analyse von bildlichen Quellen an. Dass wir nur einen verschwindend kleinen Teil der Vergangenheit ›hören‹ können – nur für die Zeit ab etwa 1900 existieren authentische akustische Quellen –, hat dazu geführt, dass die Geschichtswissenschaft bei der Recherche und Deutung der Geschichte lange Zeit fast vollständig darauf verzichtet hat, das Sinnesorgan Ohr zu berücksichtigen. Auch wenn die Geschichtswissenschaft infolge des iconic turn nun zunehmend aus ihrer Textlastigkeit herauszufinden scheint, bewegt sie sich weiterhin überwiegend in einer Sphäre der Stille und Lautlosigkeit. Töne und Geräusche werden bestenfalls dann zum...