2 Soziale Folgen der ADHS im Vorschulalter
Alexander von Gontard
ADHS ist eine typische Störung des Vorschulalters, die schon ab dem Alter von 3 Jahren erkannt und behandelt werden kann (von Gontard 2010). Gegenüber der ADHS bei älteren Kindern weist sie mehrere Besonderheiten auf, die in der Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden müssen. ADHS bei jungen Kindern ist zudem mit einer Vielzahl von sozialen Folgen und Beeinträchtigungen assoziiert, die den Langzeitverlauf der ADHS und die Entwicklung der betroffenen Kinder negativ beeinflussen können. Das Ziel dieses Kapitels ist es, einen kurzen Überblick über diese sozialen Folgen speziell im Vorschulalter zu vermitteln.
2.1 ADHS im Vorschulalter
Die wichtigsten Unterschiede zwischen der ADHS bei Vorschul- und Schulkindern sind in Tab. 2.1 zusammengefasst.
Die allgemeine Prävalenz ist bei Vorschulkindern niedriger als bei Schulkindern, wobei ADHS häufiger bei älteren (4–5 Jahre) als bei jüngeren Vorschulkindern (2–3 Jahre) ist (Egger et al. 2006). Im Vorschulalter sind proportional weniger Jungen betroffen als bei älteren Schulkindern, bei denen die Jungen deutlich überwiegen (Dreyer 2006). Vor allem zeigen sich deutliche Unterschiede bezüglich der Subtypen der ADHS: Der unaufmerksame Subtyp ist im jungen Alter kaum vorhanden, der hyperaktiv-impulsive Subtyp am häufigsten. Die Prävalenz betrug in verschiedenen Studien im Schnitt 0,8 % für den unaufmerksamen, 3,1 % für den hyperaktiv-impulsiven und 2,4 % für den
Tab. 2.1: Unterschiede zwischen der ADHS bei Vorschul- und Schulkindern (nach Egger et al. 2006; Dreyer 2006; Kaplan und Adesman 2011; Lahey 2002)
kombinierten Subtyp (Dreyer 2006). Wie in Tab. 2.1 ersichtlich, haben von den Vorschulkindern mit ADHS nur 13 % den unaufmerksamen, aber 49 % den hyperaktiv-impulsiven Subtyp – ganz anders als bei Schulkindern, bei denen fast die Hälfte einen unaufmerksamen, aber nur 9 % den hyperaktiv-impulsiven Subtyp aufweisen (Dreyer 2006).
Ein weiterer wichtiger Risikofaktor für die weitere Entwicklung ist die hohe Komorbiditätsrate von über 55–87 % bei Vorschulkindern mit ADHS ( Tab. 2.2). Zu den häufigsten komorbiden Störungen zählen dabei Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD) und das Vollbild der Störung des Sozialverhaltens. Gerade die Kombination von ADHS und Störungen des Sozialverhaltens zeichnen sich durch einen ungünstigen, chronischen Langzeitverlauf mit Dissozialität und Delinquenz aus (Vloet et al. 2008). Verstärkend wirkt zudem, dass vor allem Kinder mit einem kombinierten Subtyp eine komorbide ODD aufweisen in Vergleich zu solchen mit einem unaufmerksamen Subtyp (Dreyer 2006). Aber auch internalisierende Störungen können vorkommen und werden oft übersehen. In einer neuen norwegischen bevölkerungsbezogenen Studie mit 2.475 4-jährigen Kindern hatten 1,9 % eine ADHS. Die häufigsten komorbiden Störungen der ADHS waren ODD (22,0 %), Störungen des Sozialverhaltens (37,7 %), Angststörungen (7,9 %) und depressive Störungen (24,1 %, Wichstrom et al. 2011). Diese Werte sind in zugewiesenen klinischen Stichproben natürlich höher: So hatten in der Studie von Wilens et al. (2002) 62 % eine ODD, 23 % eine Störung des Sozialverhaltens, 42 % eine depressive Störung und 28 % eine Angststörung.
Zudem ist die ADHS bei jungen Kindern häufig mit Teilleistungsstörungen und spezifischen Entwicklungsdefiziten (Motorik, Sprache, Sprechen) assoziiert. Viele Kinder mit ADHS sind zusätzlich von multiplen Komorbiditäten betroffen – 19 % hatten zwei und 12 % sogar drei komorbide Störungen (Dreyer 2006).
Tab. 2.2: Komorbide Störungen bei Vorschulkindern mit ADHS (nach Egger et al. 2006; Dreyer 2006; Kaplan und Adesman 2011; Lahey 2002; Wilens et al. 2002)
2.2 Soziale Folgen
Ohne Zweifel ist die ADHS bei Vorschulkindern eine schwere und persistierende Störung, die einen ungünstigen Langzeitverlauf aufweist (Vloet et al. 2008; Dreyer 2006). Wichtige prognostische Variablen für einen günstigen bzw. ungünstigen Verlauf sind dabei die vielfältigen sozialen Folgen der ADHS, die in Tab. 2.3 zusammengefasst sind.
Junge Kinder mit ADHS spielen weniger intensiv, erfordern einen höheren Grad an Überwachung und Grenzsetzungen als nichtbetroffene Kinder und halten sich nicht an alltägliche Anweisungen. In einer Studie war bei 71 % der Kinder mit ADHS die Beziehung zu ihren Eltern belastet (gegenüber 12 % der Nicht-Betroffenen). Auch alltägliche Familienaktivitäten sind eingeschränkt: So berichteten 58 % der Mütter mit Vorschulkindern mit ADHS, dass sie an öffentlichen Orten nicht adäquat auf das Verhalten der Kinder eingehen konnten (Dreyer 2006). Eltern zeigen entsprechend häufiger negative Reaktionen. Die Folgen sind eine hohe elterliche Belastung und weniger funktionales elterliches Coping – und dieser elterliche Stress kann das Familienklima auch langfristig negativ beeinflussen (Harpin 2005; Dreyer 2006).
Tab. 2.3: Soziale Folgen der ADHS im Vorschulalter (nach Dreyer 2006; Lahey et al. 1998; Greenhill et al. 2006; Harpin 2005)
Vorschulkinder mit ADHS sind weniger beliebt bei Gleichaltrigen und schließen weniger Freundschaften. Sie haben typischerweise nicht nur Probleme mit anderen Kindern, sondern personen- und situationsübergreifend auch mit Peers, Eltern, Lehrern und Erziehern. Insgesamt hatten in einer Studie 89 % der Kinder mindestens eine belastende soziale Beziehung (Dreyer 2006). 3- bis 5-jährige Kinder mit AHDS und aggressivem Verhalten sind weniger prosozial – wobei ihre Fähigkeiten zu Aufmerksamkeit und Aktivitätskontrolle wesentlich prosoziales Verhalten beeinflussen (Hay et al. 2010). Lehrer nahmen die Kinder in einer weiteren Studie als weniger sozial, weniger kooperativ, weniger durchsetzungsfähig, aber störender wahr (Lahey et al. 1998). Dies kann dazu führen, dass die Kinder einen Kindergarten- oder Vorschulverweis erhalten. Tatsächlich werden Vorschulkinder mit ADHS häufiger vom Kindergarten suspendiert: In verschiedenen Studien waren dies 15–25 % gegenüber 0–0,8 % der nichtbetroffenen Kinder (Dreyer 2006; Greenhill et al. 2006). Meistens betrifft dies entweder Kinder mit einem kombinierten Subtyp oder mit komorbiden Störungen (Dreyer 2006).
Weiterhin sind die schulischen Leistungen von Vorschulkindern mit ADHS niedriger als die ihrer Altersgenossen. Dies betrifft alle Bereiche: vor allem Rechnen, aber auch den Spracherwerb mit späteren schulischen Problemen beim Lesen und Schreiben (Dreyer 2006). Diese Defizite verfestigen sich und sind selbst nach zwölf Jahren im Langzeitverlauf nachweisbar. In der Studie von Lahey et al. (1998) erhielt keines der Kontrollkinder eine Sonderförderung/Sonderbeschulung, aber 23,7 % der ADHS-Kinder mit einem kombinierten, 16,1 % mit einem hyperaktiv-impulsiven und 15,4 % mit einem unaufmerksamen Subtyp.
Ein anderes Problem sind die hohen Raten an unbeabsichtigten Verletzungen und Vergiftungen bei Vorschulkindern mit ADHS: vor allem bei dem kombinierten (32,5 %) und hyperaktiv-impulsiven (35,7 %), aber weniger bei dem unaufmerksamen Subtyp (8,3 %) und den Kontrollen (11,6 %, Lahey et al. 1998).
Zusammengefasst birgt ADHS im Vorschulalter multiple Risiken und hat weitreichende soziale Folgen ( Tab. 2.3). Besonders beeinträchtigt sind Vorschulkinder mit dem kombinierten Subtyp und mit weiteren komorbiden Störungen. Zudem gibt es einen eindeutigen Dosis-Effekt: Selbst subklinische ADHS-Symptome sind mit Beeinträchtigungen verbunden. Jedes ADHS-Symptom erhöht linear die Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung um ein Odds Ratio von 1,7 (Dreyer 2006).
2.3 Ausblick
Wegen der ungünstigen Prognose der ADHS im Vorschulalter, vor allem kombiniert mit ODD oder einer Störung des Sozialverhaltens, ist eine frühe Diagnostik und Intervention dringend indiziert (von Gontard 2010). Interdisziplinäre Leitlinien zu psychischen Störungen im Kleinkind- und Vorschulalter sind in Vorbereitung (AWMF 2013).
Zur ADHS sind folgende Empfehlungen vorgesehen: Immer soll eine ausführliche Diagnostik durchgeführt werden (AWMF 2013). Eine ADHS-Diagnose soll nicht vor dem Alter von 3 Jahren, kann zwischen dem Alter von 3–4 Jahren und soll sicher erst ab dem Alter von 4 Jahren gestellt werden. Komorbide Störungen sollen erfasst werden. Eine Beratung und/oder Psychoedukation der Eltern und/oder Bezugspersonen soll immer erfolgen. Ein strukturiertes Elterntraining soll als Therapiemethode der ersten Wahl eingesetzt werden. Wenn Elterntrainings nicht ausreichen, können weitere auf die Kernsymptomatik bezogene psychotherapeutische Interventionen eingesetzt werden. Eine...